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Christlichsoziale Bewegung

Die katholische Kirche befasste sich ab ca. den 1880er Jahren vermehrt mit der sozialen Frage. 1891 gab Papst Leo XIII., dabei massgebend von Caspar Decurtins beraten, den schon bestehenden Ansätzen zu einer christlichen Soziallehre mit der Enzyklika "Rerum novarum" eine amtskirchliche Grundlage. Die Enzyklika richtet sich gleichermassen gegen Wirtschaftsliberalismus und Sozialismus. Sie postulierte Selbsthilfe der Arbeiter und das Prinzip der Subsidiarität. Der Staat solle mit sozialpolitischen Massnahmen vor allem das Eigentum in Arbeitnehmerhand fördern. Die christliche Soziallehre wurde später in den sogenannten Sozialenzykliken weiterentwickelt ("Quadragesimo anno" 1931, "Mater et magistra" 1961, "Populorum progressio" 1967); sie war anfänglich durch eine starke Ablehnung der Gewerkschaftsbewegung gekennzeichnet. In der christlichen Soziallehre wurzeln sowohl die ständestaatlichen Konzeptionen der 1930er Jahre wie auch die befreiungstheologischen Ansätze der 1970er Jahre.

Infolge der zweiten Industrialisierung waren viele Arbeitssuchende aus den traditionell katholischen Kantonen in die mittelländischen Industriegebiete gezogen, wo sie sich in präsyndikalistischen Arbeitervereinen versammelten und eine nicht mehr zu vernachlässigende Diaspora bildeten. 1888 gründeten Josef Beck, Caspar Decurtins und Ernst Feigenwinter den Verband der katholischen Männer- und Arbeitervereine, der in etwa die Zielsetzungen der Sozialdemokratie teilte. 1899 konstituierten sich eine erste Dachorganisation sowie weitere Vereine der christlichsozialen Bewegung, die bis 1919 einen erheblichen Aufschwung erlebte. Die zahlreichen Arbeiter- und Bildungsvereine, Berufsverbände, Selbsthilfeinstitutionen und parteipolitischen Kommissionen waren klar gewerkschaftlich ausgerichtet, verstanden sich von Anfang an aber auch auch als Kampforganisationen gegen die Sozialdemokratie. 1903 wurde der Zentralverband christlichsozialer Organisationen der Schweiz gegründet, 1907 erfolgte der Zusammenschluss der bestehenden christlichen Berufsverbände zum Christlichsozialen Gewerkschaftsbund der Schweiz. 1919 rief der St. Galler Kantonsrat und spätere Nationalrat Josef Scherrer den Christlichsozialen Arbeiterbund der Schweiz (CAB) ins Leben.

Die Konservative Volkspartei (Christlichdemokratische Volkspartei) sah sich vor die Aufgabe gestellt, die wirtschaftlich-sozialen Gegensätze zwischen den einzelnen katholischen Volksschichten auszugleichen und die erstarkende christlichsoziale Bewegung in die Gesamtpartei zu integrieren. Christlichsoziale und Konservative entwickelten ein Konfliktregelungsmodell, das den Arbeitnehmern in klassenspezifischen Fragen einen eigenen Kurs zugestand. In allgemeinen, politischen, religiösen und kulturellen Fragen hatten sich die Christlichsozialen dagegen den Entscheidungen der Gesamtpartei zu unterziehen. Wo der Interessenausgleich nicht gelang, kam es zur Gründung eigenständiger christlichsozialer Parteien, wie im deutschsprachigen Teil des Kanton Wallis 1917, in Luzern 1919 oder in Freiburg 1966.

Plakat für die Nationalratswahlen von 1951 in Zürich, gestaltet von Eugen & Max Lenz (Plakatsammlung der Schule für Gestaltung Basel, Münchenstein).
Plakat für die Nationalratswahlen von 1951 in Zürich, gestaltet von Eugen & Max Lenz (Plakatsammlung der Schule für Gestaltung Basel, Münchenstein).

Im Rahmen einer Neuorganisation der christlichsozialen Bewegung kam es 1937 zur Vereinigung des Zentralverbandes christlichsozialer Organisationen mit dem CAB. Aus dieser Organisation wurde 1957 die Christliche Sozialbewegung der Schweiz (CSB), die als nationaler Dachverband des christlichsozialen Organisationsgeflechtes fungierte. Die CSB bestand aus dem Christlichnationalen Gewerkschaftsbund (CNG), der Katholischen Arbeitnehmer(innen)-Bewegung (KAB), der Christlichsozialen Parteigruppe der Schweiz (CSP) und der Vereinigung der wirtschaftlichen und sozialen Institutionen. Zu diesen zählten die Krankenkasse CSS Versicherung, die Versicherung Familia (seit den 1990er Jahren zur Generali-Gruppe gehörend), das Reisebüro Orbis-Reisen, die Konkordia Druck- und Verlags-AG, das Schweizerische Soziale Seminar (1960-1998) und der Schweizerische Verband für sozialen Wohnungsbau. Die CSB, die vor allem in der Deutschschweiz verankert ist, wandelte sich 1999 in die Union der Christlichsozialen (UCS) um.

Das Verhältnis der Christlichsozialen, die zwischen christlichdemokratischer Lagerloyalität und sozialdemokratischer Klassensolidarität hin- und hergerissen waren, zu den Katholisch-Konservativen war nie frei von Irritationen. Die Christlichsozialen haben, vor allem nachdem sie in der Nachkriegszeit noch einmal an Stärke gewannen, zwischenzeitlich grossen Einfluss in der Konservativen Volkspartei ausgeübt, was auch in den Namensänderungen von 1957 in Konservativ-Christlichsoziale Partei bzw. 1970 in Christlichdemokratische Partei (CVP) zum Ausdruck kommt. Bis heute ist die Christlichsoziale Parteigruppe stärker in das christlichdemokratische Lager integriert als die christlichsoziale Gewerkschaftsorganisation. 1997 führten Spannungen zwischen den Konservativen und den Christlichsozialen innerhalb der sich von der Mitte ins rechte politische Spektrum bewegenden CVP zur Abspaltung von Parteisektionen aus dem Kanton Jura, Freiburg, Luzern und Zürich, die sich zu einer eigenständigen nationalen Christlichsozialen Partei zusammenschlossen. Die Mehrheit der Christlichsozialen verblieb allerdings in der CVP. 1999 stellten sie 12 von insgesamt 35 CVP-Abgeordneten der Bundesversammlung.

Quellen und Literatur

  • O. Gehrig, Das Christlichsoziale in der Politik unter besonderer Berücksichtigung des Christlichsozialen Arbeiterbundes der Schweiz 1919-1939, 1969
  • R. Ruffieux, Le Mouvement chrétien-social en Suisse romande 1891-1949, 1969
  • U. Altermatt, Der Weg der Schweizer Katholiken ins Ghetto, 1972 (31995)
  • Die CVP zwischen Programm und Wirklichkeit, hg. von U. Altermatt, H.P. Fagagnini, 1979
  • D. Holenstein, Die Christlichsozialen der Schweiz im Ersten Weltkrieg, 1993
Weblinks

Zitiervorschlag

Markus Rohner: "Christlichsoziale Bewegung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 26.05.2008. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/026985/2008-05-26/, konsultiert am 18.03.2024.