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Biasca

Polit. Gem. TI, Bez. Riviera, am Schnittpunkt der Täler Leventina, Blenio und Riviera gelegen. Die wichtigste Ortschaft der Ambrosianischen Täler ist im "Liber viventium" der Abtei Pfäfers um 830 belegt (Aviasca). B. (1119 Abiasca, dt. früher Ablentschen) gehörte nicht zu den Talgemeinschaften der Leventina und des Bleniotals und besass ein Territorium, das in der Ebene die Siedlung Loderio (1321 Lauderium) sowie die Fraktionen des Pontironetals umfasste. 1602 397 Einw.; 1833 1'912; 1850 2'035; 1900 2'733; 1910 3'299; 1950 2'882; 2000 5'795.

Zunächst Rätien zugehörig, blieb das Gebiet nördl. der Talenge von Bellinzona bis zum Ende des MA ein Anhängsel Mailands. Die geistl. und weltl. Herrschaft des Erzbistums Mailand festigte sich 948 mit der Schenkung Attos, des Bf. von Vercelli, und dehnte sich in der Folgezeit aus, trotz der Anfeindung durch das Reich während seines Kampfes mit den lombard. Kommunen. Die auf die Völkerwanderungszeit zurückgehende Pfarrkirche S. Pietro di B. war als älteste Taufkirche des ambrosian. Raums Mittelpunkt einer Pieve, welche die Leventina, das Bleniotal und die Dörfer der Riviera bis Gnosca und Claro miteinbezog. Es scheint jedoch, dass Olivone mit der Kirche S. Martino bis mind. Mitte des 12. Jh. einen selbstständigen Pfarrbezirk gebildet hat. Der vermutlich im 11. Jh. errichtete, heute noch bestehende Bau ersetzte die urspr. Pfarrkirche (deren Glockenturm und alter Altar noch 1351 standen) und wurde zur Stiftskirche mit Propst und Chorherren. Das Kapitel, dessen Statuten auf 1398 zurückgehen, besass Zehntrechte v.a. in der Riviera, aber auch in der Leventina. Die 1468 belegte Kirche SS. Giacomo e Filippo im Dorfkern wurde wie viele andere profane und kirchl. Bauten Opfer der Verheerungen Anfang des 16. Jh.

Der im Schloss nahe der Kapelle S. Petronilla residierende Zweig der Orelli von Locarno erhielt vom Mailänder Domkapitel vermutlich schon im 12. Jh. die Hoheitsrechte über B., über welche die Orelli in der Folge wie über einen Erbbesitz verfügten. 1292 gelang es jedoch B., den Wahlcharakter des Amtes durchzusetzen und damit einen entscheidenden Anstoss zur Entwicklung hin zur kommunalen Selbstverwaltung zu geben. Die Herrschaft der Orelli dauerte bis gegen Mitte des 14. Jh., als B. ins Herrschaftsgebiet der Visconti eingegliedert wurde. Zunächst wurde der Ort zusammen mit dem Bleniotal der Bologneser Fam. Pepoli abgetreten. In der 2. Hälfte des 14. Jh. wurde B. das Recht eingeräumt, den Console zu wählen, der auf der Basis der Statuten (bekannt ist die Fassung von 1434) Gericht hielt. Dieses Recht wurde 1422 und in den folgenden Jahren bestätigt. Von einem Auszug Uris und Obwaldens 1403 nach dem Tod von Hzg. Gian Galeazzo Viscontis besetzt, wurde B. in die ennetbirg. Herrschaften der beiden Orte eingegliedert, bis 1422 die Truppen der Visconti die Grenzen des Mailänder Staates wiederherstellten (Schlacht bei Arbedo). Nach einem erneuten Überfall der Urner 1439 erlangte die Ortschaft 1440 wieder die Gunst des Herzogs, und ab 1441 war B. Grenzort zur vorübergehend an Uri abgetretenen Leventina. Nach der Besetzung durch die Urner (1449) unterzeichnete B. 1450 ein Kapitulat mit Francesco Sforza, das die zuvor erweiterten Rechte bestätigte. Weitere Überfälle ereigneten sich 1466-68 nach dem Tod Francesco Sforzas und v.a. während des Feldzuges von 1478. Wahrscheinlich wurde B. schon 1495 zusammen mit dem Bleniotal von den Eidgenossen annektiert. Ab 1500 war es Teil der Vogtei Riviera.

1512 schuf ein Bergsturz vom Monte Crenone nördl. der Ortschaft eine Talsperre, die 1515 unter dem Druck des aufgestauten Sees barst. Schwerste Schäden in der Region waren die Folge (Buzza di Biasca). Nicht zuletzt dank der günstigen Lage an den Strassen des Alpenverkehrs erholte sich die lokale Wirtschaft allmählich von dieser Katastrophe, der Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jh. mind. drei grosse Pestepidemien folgten. Nach wiederholten Visitationen Karl Borromäus' wurde B. zu einem Zentrum, von welchem die tridentin. Reform in die Tre Valli ausstrahlte. Am Eingang zu den Alpentälern gelegen, spielte B. schon immer eine bedeutende Rolle beim regionalen und transalpinen Handelsverkehr, v.a. nachdem die Gotthardroute zu Beginn des 13. Jh. passierbar geworden war. Die Orelli erhoben in B. 1352 einen Zoll. In den folgenden Jahren ist die Existenz einer Sust für die Transitwaren bezeugt, während die Gem. eine Gebühr, den sog. forletto, auf den Warentransport erhob (1434). Haupteinnahmequellen waren - neben der Forstwirtschaft und des v.a. in der Ebene betriebenen Ackerbaus - Viehzucht (die Aufteilung der Alpen geht auf 1305 zurück) und Holzhandel (berühmt sind die Holzfäller, die sog. borratori des Pontironetals).

Die Errichtung des Strassennetzes (1815) und v.a. der Bau des Gotthardtunnels bewirkten einen wirtschaftl. und demograf. Wandel. B. verlor seinen ländl. Charakter. Kennzeichnend für die Geschichte von B. ab der Mitte des 19. Jh. und v.a. in den ersten Jahren des 20. Jh. ist die beachtl. Anzahl von Atheisten sowie eine Reihe von Zwischenfällen antiklerikaler Art. Noch 1980 war B. die schweiz. Gem. mit dem höchsten Anteil an Konfessionslosen. Ursache dieses Phänomens ist wohl der Einfluss der Einwanderer und der Eisenbahnarbeiter im 19. Jh. Während einiger Jahrzehnte florierten die Seidenraupenzucht und die für die ganze Region besonders wichtige Granitindustrie, die dank des Eisenbahnnetzes einen Aufschwung erlebte und ihren Höhepunkt um 1900 erreichte. Im Gefolge dieser Industrialisierung brachen in B. die ersten Klassenkämpfe im Tessin aus, und es entstand ein starker Kern der Sozialist. Partei. In der Nachkriegszeit setzte eine Aufschwungphase ein, die v.a. den Industriesektor (1990 43% der erwerbstätigen Bevölkerung) und den Dienstleistungssektor (56%) begünstigte, während die Landwirtschaft (1%) ihre Bedeutung fast vollständig verlor. Die gegenwärtige Entwicklung beruht zum einen auf den Betrieben in der Industriezone - der einzigen im Kanton mit dem Prädikat "von kant. Bedeutung" - in welcher die Hochtechnologie die Lage versch. Produktionszweige spürbar verbessert hat. Zum andern stützt sie sich auf den Tertiärsektor mit B. als Dienstleistungszentrum der Region Tre Valli. Mit der Einbeziehung B.s in die Linienführung der neuen Alpentransversale (NEAT) dürfte sich seine wirtschaftl. und gesellschaftl. Struktur weiter verändern.

Quellen und Literatur

  • MDT, Ser. 2
  • Meyer, Blenio
  • G. End, «B. und Val Pontirone», in Jb. des Schweizer Alpenclub 57, 1922, 58-187; 58, 1923, 10-81
  • R. Amerio et al., S. Pietro di B., 1967
  • V. Gilardoni, Il Romanico, 1967, 207-226
  • C. Magginetti, O. Lurati, B. e Pontirone, 1975
  • G. Chiesi, Lodrino, 1991
Weblinks
Normdateien
GND

Zitiervorschlag

Giuseppe Chiesi: "Biasca", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 18.05.2004, übersetzt aus dem Italienischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/002248/2004-05-18/, konsultiert am 14.04.2024.