1.4.1936 Vevey, 4.10.1998 Lausanne, reformiert, von Longirod. Stadtpräsident von Lausanne, Waadtländer Staats- und Nationalrat, freisinniger Bundesrat.
Jean-Pascal Delamuraz war der einzige Sohn des Henri Delamuraz, Garagisten und Gemeindepräsidenten von Paudex, und der Lydia geborene Ryser, Hausfrau. Nach dem Besuch des Gymnasiums in Lausanne studierte er Politikwissenschaften an der Universität Lausanne und schloss 1960 mit dem Lizenziat ab. 1955-1959 präsidierte er den allgemeinen Studentenrat, der sich unter seiner Ägide vermehrt mit politischen Fragen befasste. 1962 heiratete er Catherine Reymond, Direktionsassistentin, von Vaulion, Tochter des Frédéric Reymond, Geschäftsführers, und der Berthe geborene Huber, Hausfrau. Das Paar hatte zwei Kinder.
1960-1964 arbeitete Delamuraz als Adjunkt des Verwaltungsdirektors der Landesausstellung 1964 in Lausanne, eine Tätigkeit, die ihm als Sprungbrett für seine politische Karriere diente. Entdeckt von Georges-André Chevallaz, war er von 1965-1970 ständiger Generalsekretär der Waadtländer Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP). 1966-1969 hatte Delamuraz einen Sitz im Gemeinderat (Legislative) von Lausanne inne, 1969 wurde er Stadtrat (Exekutive). 1974 folgte er seinem Mentor, der in den Bundesrat gewählt worden war, in das Amt des Stadtpräsidenten, das er bis 1981 bekleiden sollte. Wiewohl kein Visionär, erkannte Delamuraz doch, dass sich infolge der zunehmenden Urbanisierung seines Kantons die Stellung Lausannes änderte, und unterstützte deshalb eine manchmal gewagte städtische Politik, die auch vor einer Neuordnung des Strassenverkehrs nicht Halt machte. Er leitete so eine Politik der Stadtentwicklung mit ein, deren grosses Potenzial sich erst unter seinen Nachfolgern ganz entfaltete. Als Stadtpräsident legte er überdies die Basis für die zunehmend engere Beziehung zwischen der Stadt und dem Internationalen Olympischen Komitee (IOK). Sein Interesse für Europa zeigen seine Bemühungen, die Archive der Stiftung Jean Monnet für Europa der Universität Lausanne zu überantworten, was ihm mit Hilfe von deren Präsidenten Henri Rieben gelang. Delamuraz und seinen Kollegen in der städtischen Exekutive fiel 1980-1981 auch die Aufgabe zu, gegen die Jugendunruhen vorzugehen, die durch die Bewegung Lôzane Bouge ausgelöst worden waren. Im Militär stieg er zum Hauptmann der Transporttruppen auf.
1975-1983 sass Delamuraz im Nationalrat (Bundesversammlung), dessen Geschäftsprüfungskommission er 1981 präsidierte. Er interessierte sich vor allem für den Verkehr mit dem Ziel, die französische Schweiz sowie seinen Heimatkanton touristisch besser zu erschliessen (Tourismus); ganz allgemein war es ihm ein Anliegen, der französischsprachigen Minderheit mehr Gehör zu verschaffen. Angezogen von der Aussenpolitik, engagierte er sich im Kongress der Gemeinden und Regionen des Europarats und vertrat als Bundesparlamentarier die Schweiz in dessen Parlamentarischer Versammlung in Strassburg. Seine Wahl in die Waadtländer Kantonsregierung 1981 verdankte Delamuraz besonderen Umständen: Die Liberale Partei, die einen zweiten Sitz im Staatsrat forderte, hatte bei einer Ersatzwahl Jean-Frédéric Bähler gegen den offiziellen radikalen Kandidaten Robert Liron ins Rennen geschickt. Nachdem sich im ersten Wahlgang die Niederlage Lirons abgezeichnet hatte, ersetzten die Radikalen für den zweiten Wahlgang Liron durch ihr charismatisches Zugpferd Delamuraz, der den Regierungssitz prompt eroberte. Während seiner kurzen Amtszeit von 1981 bis 1983 als Leiter des Departements für Landwirtschaft, Handel und Industrie widmete sich Delamuraz vor allem der Bekämpfung der drohenden Wohnungsnot.
Seit langem bereit, die Nachfolge von Chevallaz im Bundesrat bei dessen Demission anzutreten, wurde Delamuraz im ersten Wahlgang am 7. Dezember 1983 gewählt. Er erhielt 130 Stimmen und setzte sich damit gegen Robert Ducret (53 Stimmen), Monique Bauer-Lagier (34 Stimmen) und Pier Felice Barchi (19 Stimmen) durch. Von Chevallaz erbte Delamuraz das Eidgenössische Militärdepartement, dem er 1984-1986 vorstand. Er leitete dort die Revision des Militärstrafgesetzes (Militärjustiz) bezüglich der Dienstverweigerung aus Gewissensgründen und sah sich mit einem Referendum über die Armeeausgaben konfrontiert. Das gewichtigste Dossier, mit dem sich Delamuraz zu beschäftigen hatte, stellte der Kauf von 380 Panzern des Typs Leopard dar (geliefert 1987-1993), bei dem die Kosten aus dem Ruder liefen. Delamuraz gelang es, den ursprünglich ausgehandelten Kaufpreis zu reduzieren (Rüstung, Mechanisierte und Leichte Truppen).
1987 übernahm Delamuraz das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement (EVD), das er bis zu seinem gesundsheitsbedingten Rücktritt 1998 führte. Das Amt des Bundespräsidenten bekleidete er 1989 und 1996. Anfang der 1990er Jahre schlitterte die Schweiz in eine Wirtschaftskrise, zu deren Bewältigung Delamuraz auf eine Reform des Binnenmarkts drängte. Er stärkte den wirtschaftlichen Wettbewerb und zögerte nicht, Branchen und Verbände an ihre volkswirtschaftlichen Pflichten zu erinnern. Sein Hauptaugenmerk richtete er aber auf die Beziehungen zur Europäischen Gemeinschaft (EG). Als überzeugter Europa-Befürworter sah er den einzigen Weg aus der Krise in einer Annäherung an ein Europa, das den Integrationsprozess stetig vorantrieb; Delamuraz begeisterte sich für die Idee des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) und war im Bundesrat zusammen mit René Felber für dieses Geschäft zuständig. Die Anhänger des EWR verloren in der öffentlichen Debatte in der Schweiz an Boden, als die EG sich weigerte, bei Entscheidungen über dessen zukünftige Entwicklung die Mitglieder der Europäischen Freihandelsassoziation (Efta) als gleichberechtigte Partner miteinzubeziehen. Der Bundesrat war in dieser Frage gespalten: Neben Delamuraz befürworteten auch René Felber und Arnold Koller den Beitritt zum EWR, während Flavio Cotti, Kaspar Villiger und Otto Stich diesen ablehnten; letztlich gab Adolf Ogi den Ausschlag für die Pro-EWR-Seite. Volk und Stände verwarfen am 6. Dezember 1992 den Beitritt zum EWR mit 50,3% der Stimmen knapp; Delamuraz, der sich wegen dieser Frage auch mit Chevallaz überworfen hatte, war es nicht gelungen, die Bürgerinnen und Bürger davon zu überzeugen, dass dieser kein Präjudiz bezüglich einer späteren Mitgliedschaft in der EG dargestellt hätte, wie es die Gegner des EWR behaupteten. Er war von dieser Niederlage schwer getroffen und hatte grosse Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen.
Zwei Jahre verbrachte er danach mit der Suche nach einer alternativen Lösung, bis er mit dem von ihm angestossenen Prozess der bilateralen Verhandlungen ein neues, letztlich von Erfolg gekröntes Konzept vorlegte, das einen stabilen rechtlichen Rahmen für die Beziehungen zwischen der Eidgenossenschaft und Europa garantierte. Seine grösste Errungenschaft bleibt aber der Beitritt der Schweiz zur Welthandelsorganisation (WTO) 1995. Um an den Verhandlungsrunden des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (General Agreement on Tariffs and Trade, Gatt) teilnehmen zu können, musste die schweizerische Landwirtschaft von ihren noch aus der Zeit der Kriegswirtschaft stammenden protektionistischen Positionen abrücken. Delamuraz gelang es, die erhitzten Gemüter zu beruhigen und den bäuerlichen Kreisen Sicherheit zu vermitteln. Den politischen Mut, den er dabei an den Tag legte, bewies er auch 1996 in der Debatte um das Arbeitsrecht, als er die Arbeitgeber davor warnte, dass die von diesen gewollten Verschärfungen zu weit gingen und ein Referendum nicht überstehen würden. Er sollte Recht behalten; am 1. Dezember 1996 verwarfen die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger das vorgelegte Bundesgesetz über die Arbeit in Industrie, Gewerbe und Handel.
Delamuraz war auch ein Hauptakteur in der Diskussion über die nachrichtenlosen jüdischen Vermögen. Ab 1995 verlangte der World Jewish Congress (WJC) zusammen mit anderen Organisationen von Schweizer Banken die Herausgabe gehorteter Vermögenswerte, die Jüdinnen und Juden ihnen anvertraut hatten, bevor sie Opfer des Holocausts geworden waren. Delamuraz bezichtigte den WJC der Erpressung, eine Äusserung, die viel Polemik auslöste. Gleichzeitig entbrannte eine Debatte über die Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs, aus der schliesslich die Einrichtung der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (Bergier-Kommission) resultierte.
1998 wurde Delamuraz Ehrenpräsident der Neuen europäischen Bewegung Schweiz (Nebs), deren zentrales Ziel der Beitritt zur EG bzw. Europäischen Union war. Im gleichen Jahr verlieh ihm die Eidgenössische Technische Hochschule Lausanne den Ehrendoktor. Als Mitglied der Bruderschaft Piraten von Ouchy genoss Delamuraz bis zu seinem Tod grosse Popularität. Zutiefst überzeugt, dass die globalen Entwicklungen seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sich auch in neuen Vorstellungen von Grenzen niederschlagen müssten, kämpfte er für eine offene, mit der Welt verbundene Schweiz und gegen Tendenzen, die eigene Volkswirtschaft rigoros abzuschotten. Dieser politische Wille ging aber nicht immer mit der entsprechenden politischen Weitsicht einher; insbesondere verkannte er infolge seiner Leidenschaft für Europa, dass die Schweizerinnen und Schweizer sich von ihrem Unabhängigkeitsdrang mehr leiten liessen als von ihren unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen.
Delamuraz kümmerte sich nicht um die eigene Nachfolge, weshalb die Waadtländer Radikalen ihren Anspruch auf einen Bundesratssitz nicht mehr geltend machen konnten; erst 17 Jahre später sollte der Kanton wieder in der Landesregierung vertreten sein. Während seiner ganzen Karriere verlor seine Partei stetig an Einfluss. Wiewohl ein sehr kultivierter Mensch, erfasste Delamuraz die Herausforderungen der 1970er Jahre mit ihren Debatten über die Natur der menschlichen Freiheit nur unzureichend. Ebensowenig begriff er die Tragweite der Umwälzungen in den 1990er Jahren. Ihm war wie auch vielen seiner Mitstreiter nicht bewusst, wie sehr die politische Landschaft als Folge der zähen Wirtschaftskrise, die diesem schwierigen Jahrzehnt ihren Stempel aufdrückte, geistigen und sozialen Umbrüchen unterworfen war und dass seine Partei auf kantonaler wie auf eidgenössischer Ebene Opfer dieser Transitionsprozesse werden sollte.