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Aostatal

Ein Bergsturz zerstört 1564 ein ganzes Dorf (Zentralbibliothek Zürich, Handschriftenabteilung, Wickiana, Ms. F 16, Fol. 156r).
Ein Bergsturz zerstört 1564 ein ganzes Dorf (Zentralbibliothek Zürich, Handschriftenabteilung, Wickiana, Ms. F 16, Fol. 156r). […]

Region Italiens mit Sonderstatut (offizieller Name: Autonome Region Aostatal), mit 3262 km² Fläche und ca. 114'000 Einwohnern, umgeben von Mont Blanc, Gran Paradiso, Matterhorn und Monte Rosa. Seine Lage im Nordwesten der Alpensüdseite und die Existenz wichtiger Pässe (Kleiner und Grosser St. Bernhard) machten das Tal stets zum bevorzugten Durchgangsweg zwischen Italien und Nordwesteuropa. In Aosta wie auch in Martigny gefundene, gleichartige Stelen von menschlicher Gestalt deuten auf alpenquerende Kontakte bereits in vorgeschichtlicher Zeit hin.

Nach der Unterwerfung durch die Römer wurde das damals von den Salassern, keltisierten Ligurern, bewohnte Aostatal zur römischen Kolonie mit dem 24 v.Chr. gegründeten Hauptort Aosta (Augusta Praetoria). Die Stadt blieb seither unangefochten Hauptstadt des Tals, und ihre Geschichte ist mit der des Aostatals untrennbar verbunden. Mit dem Untergang des Römischen Reichs fiel Aostatal 443 (?) an die Burgunder, 508 an die Ostgoten, 535 an Byzanz und 568 an die Langobarden. Nach dem Sieg des merowingischen Königs Gunt(h)ram über die Langobarden (575) gehörte das Tal bis zum Ende der Karolinger zum Frankenreich, danach zum Zweiten Königreich Burgund. 1032 wurde es ein Lehen des Hauses von Savoyen, dessen Schicksal es bis zum Ende des Königreichs Italien (1946) teilte.

Der Einfluss des Unterwalliser Klosters Saint-Maurice, das im Aostatal über beträchtlichen Besitz verfügte, führte zu einer raschen Verbreitung des Mauritiuskults und der Verehrung anderer Heiliger der Thebäischen Legion. 975 schuf das Frankfurter Konzil das Erzbistum Tarentaise mit den Diözesen Moûtiers, Sitten und Aosta, was die Bande zwischen dem Aostatal, dem Wallis und Savoyen verstärkte. Das im 11. Jahrhundert von Bernhard von Aosta gegründete Hospiz auf dem Grossen St. Bernhard sowie die Chorherren vom Grossen St. Bernhard, die in der Regel aus dem Wallis oder aus dem Aostatal stammten, gewährten den Reisenden Sicherheit und den beiden benachbarten Talschaften die Kontrolle über diesen Pass.

Mit der Freiheitsurkunde von 1091 festigte das Haus Savoyen endgültig seine Herrschaft über die lokalen Adelsgeschlechter, die aber ihren Selbstbehauptungswillen weiter pflegten. Dieser war der Grundstein für Selbstverwaltungsorgane, die auf die ständische Gesellschaft in einem Land zugeschnitten waren, das sich als "weder diesseits noch jenseits, sondern zwischen den Bergen" ("Non citra nec ultra sed intra montes") gelegen verstand: Vertreter der drei Stände (Adel, Klerus, Kommunen) tagten ab dem 14. Jahrhundert in der Assemblée générale des Etats. Diese gab sich 1536 mit dem Conseil des commis eine Art Exekutive, die sich allmählich zum wichtigsten Entscheidungsorgan entwickelte. Vom ausgehenden 17. Jahrhundert an jedoch schränkte die savoyische Zentralgewalt die Freiheiten der Aostataler beträchtlich ein, sodass sich diesbezüglich das (1238 geschaffene) Herzogtum Aosta immer weniger von den übrigen Territorien des Königreichs Sardinien unterschied. Unter Napoleon I. wurde das Aostatal 1801 Teil des französischen Departements Doire (Dora) mit Ivrea als Hauptort. 1814 fiel es an das Haus Savoyen zurück, dem es auch nach der Einigung Italiens sowie dem Anschluss Nizzas und Savoyens an Frankreich (1860) erhalten blieb.

Bis zur Reformation unterhielt das Aostatal enge Beziehungen zum Wallis und zu Genf. So liessen sich zum Beispiel vom ausgehenden 12. Jahrhundert an zahlreiche Adlige aus dem Aostatal im Wallis nieder. Zwischen 1162 und 1323 waren vier Aostataler Bischof von Sitten, und 1300-1325 waren die Aostataler im Sittener Domkapitel gleich stark vertreten wie die Walliser. Die de Challant, eine Familie aus Aosta, spielten in Sitten, Lausanne und Neuenburg eine führende Rolle. Im 13. Jahrhundert kamen Walser-Siedler aus dem Oberwallis herüber und liessen sich im Lystal in Issime, Gressoney-Saint-Jean und Gressoney-La-Trinité nieder, wo man noch heute walserdeutsche Dialekte spricht. Ende des 17. Jahrhunderts eröffneten die Chorherren vom Grossen St. Bernhard in Aosta das Priorat Saint-Jacquême. Gelegentlich kam es aber auch zu Spannungen: Im 16. Jahrhundert drohten die Walliser wegen des Konflikts um die Alp Chermontane (Val de Bagnes) mehrmals damit, ins Aostatal einzufallen.

Als ab dem 14. Jahrhundert das Latein einen Niedergang erlebte und als Verwaltungs-, Kirchen- und Kultursprache aufgegeben wurde, setzte sich im Aostatal natürlicherweise das Französische durch. 1561 wurde es per Dekret von Emanuel Philibert von Savoyen zur alleinigen Amtssprache erhoben. Im Tal entwickelte sich ein bedeutender Literaturbetrieb, im Kollegium Saint-Bénin (1604) wurde die Elite geschult, und gegen Ende des 17. Jahrhunderts entstand ein dichtes Netz von Landschulen. Als unmittelbar nach der Einigung Italiens (1861) das Italienische das Französische als Schul-, Verwaltungs-, Gerichts- und Pressesprache zu verdrängen begann, leisteten die Talbewohner Widerstand, insbesondere die Intellektuellen und allen voran die Kleriker. So begann ein heftiger Sprachenstreit. Nachdem der Faschismus im Aostatal jeden Rest der Frankofonie auszulöschen versucht hatte, kam es 1948 zu einer Entspannung, als der italienische Staat dem Tal ein Statut politischer Autonomie und kultureller Zweisprachigkeit gewährte. Rund 50 Jahre später dominiert nun zwar das Italienische, doch sind vier von fünf Aostatalern des Französischen mehr oder weniger mächtig, und rund 50% bezeichnen das Frankoprovenzalische als ihre Erstsprache. Der Anteil der deutschsprachigen Walser beträgt 1%.

Im 18. Jahrhundert erlebte das Aostatal einen grossen wirtschaftlichen Aufschwung: Die Ablösung der Grundzinsen (1784), der letzten Feudalrechte, die Einführung neuer Nutzpflanzen (Mais, Kartoffel) und technische Verbesserungen gaben der Landwirtschaft neuen Auftrieb. Dank dem Abbau von Blei, Eisen, Mangan, Anthrazit und Gold sowie mit der Eisenverhüttung entstand eine blühende Industrie. Nach dem Zweiten Weltkrieg machte das Tal einen tiefgreifenden wirtschaftlichen Strukturwandel durch. Der Ackerbau geriet in eine Krise und spielt heute nur noch eine untergeordnete Rolle; einzig die Viehzucht und der Weinbau scheinen dem Wandel widerstehen zu können. Die Grossindustrie (Eisenverhüttung, Kunstseide) ist am Verschwinden, die kleinen und mittleren Unternehmen entwickeln sich nur zaghaft. Gegenwärtig stammen die Einkünfte vor allem aus dem Dienstleistungssektor (Verwaltung, Handel, Spielcasino in Saint-Vincent), und einzig der Tourismus scheint interessante Zukunftsperspektiven zu eröffnen (z.B. Feriengebiete Breuil-Cervinia, Gressoney-Saint-Jean, Courmayeur).

Seit dem Ende des Faschismus sind die Beziehungen zwischen dem Aostatal und den Westschweizer Kantonen wieder enger geworden, wozu unter anderem 1964 die Eröffnung des Strassentunnels am Grossen St. Bernhard beitrug. Die Chorherren vom Grossen St. Bernhard gründeten 1951 in Aosta eine landwirtschaftliche Schule, die später zu einem Agrarinstitut ausgebaut wurde. Sie leistete einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung der Landwirtschaft und insbesondere des Weinbaus im Aostatal. Seit den 1980er Jahren wurden Organisationen für internationale Zusammenarbeit ins Leben gerufen, zum Beispiel die Communauté de travail des Alpes occidentales (Cotrao), die regelmässige Kontakte zwischen kulturellen Vereinigungen, Beamten und Politikern der Regionen Aostatal, Piemont, Rhône-Alpes sowie der Kantone Genf, Waadt und Wallis sicherstellen und die Realisierung gemeinsamer Projekte ermöglichen.

Quellen und Literatur

  • J.A. Duc, Histoire de l'Eglise d'Aoste, 10 Bde., 1901-15 (Neudr. 1985-)
  • La Valle d'Aosta, 2 Bde., 1959
  • L. Colliard, La culture valdôtaine au cours des siècles, 1965 (21976)
  • B. Janin, Le Val d'Aoste, 1968 (41991)
  • A. Zanotto, Histoire de la Vallée d'Aoste, 1968 (21980)
Weblinks
Normdateien
GND

Zitiervorschlag

Alexis Bétemps: "Aostatal", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 18.06.2002, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007023/2002-06-18/, konsultiert am 29.03.2024.