Waadt
Version vom: 30.05.2017
Autorin/Autor:
Gilbert Coutaz
Übersetzung:
Christoph Badertscher
Kanton der Eidgenossenschaft seit 1803. Amtlicher Name: Kanton Waadt, französisch Canton de Vaud, italienisch Cantone di Vaud, romanisch Chantun Vad. Die ältere Bezeichnung Waadtland oder die Waadt (französisch Pays de Vaud) geht auf pagus waldensis (765) zurück. Amtssprache ist Französisch, Hauptort ist Lausanne.
Oro- und hydrografische Karte des Kantons Waadt mit den wichtigsten Ortschaften
[…]
Die Waadt gehörte in der Spätantike bzw. im Frühmittelalter nacheinander zum burgundischen Reich, zum fränkischen Reich, zum Mittelreich, zum Zweiten Königreich Burgund und zum Heiligen Römischen Reich. 1011 erhielt der Bischof von Lausanne vom König von Burgund die comté de Vaud, faktisch die Regalien über das Gebiet. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts fasste das Haus Savoyen im bischöflichen Gebiet Fuss. 1285-1359 diente das Waadtland als Apanage der jüngeren Linie und fiel dann an den älteren Zweig der Grafen und späteren Herzöge von Savoyen zurück. Als Folge der Burgunderkriege 1474-1476 wurden Teile der Waadt und 1536 das gesamte Gebiet Untertanenland von Bern bzw. von Bern und Freiburg in den gemeinen Herrschaften Orbe-Echallens und Grandson; erst die Waadtländer Revolution 1798 beendete die Fremdherrschaft. Während der Helvetischen Republik hiess die Waadt Kanton Léman, vom Erlass der Mediationsakte (1803) an Kanton Waadt.
Struktur der Bodennutzung im Kanton Waadt
Fläche (2006) | 3 212,1 km2 | |
---|
Wald / bestockte Fläche | 1 022,6 km2 | 31,8% |
Landwirtschaftliche Nutzfläche | 1 393,1 km2 | 43,4% |
Siedlungsfläche | 270,0 km2 | 8,4% |
Unproduktive Fläche | 526,4 km2 | 16,4% |
Struktur der Bodennutzung im Kanton Waadt - Arealstatistik der Schweiz
Das Territorium umfasst Teile des Faltenjuras (darunter das Vallée de Joux), des Mittellands (mit dem Gros-de-Vaud und dem Jorat) sowie der Voralpen (Les Ormonts, Pays-d'Enhaut) und gehört zum Einzugsgebiet der Rhone (Venoge) und des Rheins (Broye, Orbe, Saane). Der Kanton grenzt an den Genfersee (La Côte, Lavaux, Chablais) sowie an den Neuenburgersee und den Murtensee. Er hat eine gemeinsame Grenze mit Bern und Frankreich sowie mit allen Westschweizer Kantonen mit Ausnahme des Juras. Seit dem Altertum führen europäische Verbindungswege durch sein Gebiet. Seine Grenzen sind seit dem 16. Jahrhundert unverändert, ausser im Broyetal – Avenches und Payerne waren zwischen 1798 und 1802 freiburgische Distrikte – und im Dappental, wo 1862 der Grenzverlauf mit Frankreich bereinigt wurde. Der viertgrösste Kanton der Schweiz mit der drittgrössten Bevölkerung zählte bis Ende 1998 385 Gemeinden, am 1. Januar 2013 318. Lausanne ist Sitz einer Universität, die im 16. Jahrhundert als Akademie gegründet wurde, einer zuerst kantonalen, seit 1969 eidgenössischen technischen Hochschule, des Bundesgerichts (seit 1875) sowie internationaler Organisationen, darunter seit 1915 des Internationalen Olympischen Komitees.
Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur des Kantons Waadt
a Einwohner, Nationalität: Wohnbevölkerung; Sprache, Religion: ortsanwesende Bevölkerung
b 1880 und 1900 einschliesslich der Christkatholiken; ab 1950 römisch-katholisch
c zu keiner Konfession oder religiösen Gruppe gehörig
d gemäss landwirtschaftl. Betriebszählung 1996
Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur des Kantons Waadt - Historische Statistik der Schweiz; eidgenössische Volkszählungen; Bundesamt für Statistik
Von den Anfängen bis ins Frühmittelalter
Ur- und Frühgeschichte
Autorin/Autor:
Gilbert Kaenel
Übersetzung:
Christoph Badertscher
Ur- und frühgeschichtliche Fundorte im Kanton Waadt (A)
[…]
Zu den Pionieren der Waadtländer Archäologie gehören Frédéric Troyon, Albert Naef und David Viollier, der 1927 die "Carte archéologique du canton de Vaud" erstellte. Der archäologische Dienst des Kantons Waadt führt deren Arbeit seit 1973 weiter. 2011 verzeichnete er nahezu 3500 Fundorte, wovon mehr als ein Viertel vorrömische Spuren aufweist. Diesen Reichtum an Funden aus der Urzeit verdankt der Kanton Waadt seiner grossen Fläche (2822 km2, ohne Seen) sowie der geografischen und ökologischen Vielfalt.
Vom Jungpaläolithikum bis zum Mesolithikum
Autorin/Autor:
Gilbert Kaenel
Übersetzung:
Alice Holenstein-Beereuter
Die ältesten Belege einer Begehung des waadtländischen Gebiets stammen vom Ende des Paläolithikums. In der Grotte Le Scex du Châtelard (Villeneuve) wurden Werkzeuge aus behauenem Silex des späten Magdalénien (ca. 13'500 v.Chr.) zusammen mit Überresten der eiszeitlichen Fauna entdeckt. Auch im Abri Freymond (Mont-la-Ville) beim Col du Mollendruz fanden sich einzelne Zeugen aus dieser Periode.
Der spätpaläolithischen Kultur des Azilien sind auf 12'500 v.Chr. datierte Spuren in zwei jurassischen Abris, auf dem Mollendruz und im Abri de la Cure (Baulmes), zuzuweisen. Vor allem aber das Mesolithikum, das mit der starken Erwärmung und der Entstehung des Walds zusammenfällt, weist auf dem Gebiet der Waadt viele Funde auf: Mikrolithische Geräte aus Silex (Pfeilspitzen, Schaber), aus Knochen oder Hirschgeweih, Herdstellen und geringe Siedlungsspuren belegen zwischen 9000 und 6000 v.Chr. von Jägern und Sammlern benutzte Rast- oder Lagerstellen. Das bergige Gebiet der Voralpen wurde im Azilien, dann auch im Mesolithikum aufgesucht, wie der Felsunterstand Les Sciernes-Picats (Château-d'Œx) belegt. Ein kleiner Abri wurde auf dem Molasseplateau in Ogens entdeckt. Nomadische Jäger begingen auch das Ufer des Genfersees in Lausanne-Vidy.
Das Neolithikum
Autorin/Autor:
Gilbert Kaenel
Übersetzung:
Alice Holenstein-Beereuter
Auf die Wildbeuter (Jagd, Fischfang, Sammelwirtschaft) folgten Viehzüchter und Ackerbauern, deren älteste Spuren in den bereits früher benutzten Abris nachgewiesen wurden, so in Baulmes (einige Keramikscherben, 5500-5000 v.Chr.), auf dem Mollendruz (Keramik und geschliffener Stein, 5000-4500 v.Chr.), aber auch auf dem Hügel der Cité von Lausanne (um 4500 v.Chr.). Auf den Terrassen des Mittellands und an den Ufern der Seen wurden dauerhafte Siedlungen angelegt, der Wald gerodet und in der Nähe der Höfe und Weiler Getreide gepflanzt. Zwar deuten einige Spuren (Sous-Colachoz bei Concise) auf eine Belegung ab 4500-4000 v.Chr. hin, doch die Siedlungsweise am Ufer (Pfahlbauer) wurde erst ab 3900 v.Chr. allgemein üblich und hielt sich, mit Unterbrüchen von manchmal mehreren Jahrhunderten, bis zur Bronzezeit. Nahezu 90 prähistorische Ufersiedlungen liegen am Waadtländer Ufer des Genfer- und des Neuenburgersees, sodass die Waadt von allen Kantonen die meisten dieser Siedlungen aufweist: Unter anderem in den Buchten von Morges, Yverdon-les-Bains, Yvonand, Concise folgten jeweils mehrere Dörfer aufeinander. Die hervorragende Konservierung im feuchten Boden (Holz, Gewebeteile, Flechtwaren) erleichtert die Rekonstruktion der Siedlungen. Dank der Dendrochronologie lassen sich die Überreste der viereckigen, auf Pfosten abgestützten Häuser mit meist erhöhtem Fussboden datieren und die baulichen Veränderungen der Dörfer nachzeichnen.
Während des ganzen mittleren Neolithikums (ca. 5000 bis 3300/3250 v.Chr.) entwickelte sich in mehreren Phasen die Cortaillodkultur, die aus mediterranen Elementen hervorging und deren Zentrum in der Westschweiz lag. Sie wurde von der aus der Zürichseeregion stammenden Horgener Kultur abgelöst (3250-2950 v.Chr.), gefolgt von der Lüscherzkultur, die südländische Einflüsse aufnahm (2950-2700 v.Chr.) und dann ins Auvernier-Cordé überging. Das späte Neolithikum zeigt eine Prägung durch die im Nordosten des Mittellands anzusiedelnde Schnurkeramikkultur (2700-2450 v.Chr.), auf welche die Glockenbecherkultur folgte (2450-2200 v.Chr.). Aufgrund einer Klimaverschlechterung wurden die Ufersiedlungen um 2400 v.Chr. aufgegeben.
Gräber aus dem mittleren Neolithikum sind am Genfersee besonders gut belegt. Die Toten wurden in Hockerstellung beigesetzt, und zwar in Steinkistengräbern, die mehrere Individuen aufnehmen konnten und in Gräberfeldern angeordnet wurden. Die berühmtesten sind jene von Chamblandes, nach denen dieser Typ des Steinkistengrabs benannt ist, und von Pierra-Portay (beide Pully), von Les Gonelles (Corseaux) und von Lausanne-Vidy. Die Menhirreihen in Clendy (Yverdon-les-Bains) und La Possession (Lutry) sowie mehrere Megalithen oder Megalithgruppen am Nordufer des Neuenburgersees und in Lausanne-Vidy hängen mit religiösen Riten zusammen. Jede dieser Kulturen formte und verzierte Keramikgegenstände und Werkzeuge aus geschliffenem Stein, Silex, Hirschgeweih und Knochen auf ihre eigene Weise und entwickelte sie weiter. Mithilfe dieser Erzeugnisse lassen sich 3000 Jahre des Neolithikums gliedern und charakterisieren. Im 4. Jahrtausend v.Chr. traten die ersten Objekte aus Kupfer auf.
Bronzezeit
Autorin/Autor:
Gilbert Kaenel
Übersetzung:
Alice Holenstein-Beereuter
Über die ersten 200 Jahre der frühen Bronzezeit (2200-2000 v.Chr.) ist auf Waadtländer Gebiet praktisch nichts bekannt. Zwischen 2000 und 1550 v.Chr. jedoch entwickelte sich eine eigentliche Bronzeindustrie (Legierung von Kupfer und Zinn). Diese ist hauptsächlich im Chablais durch der Rhonekultur zugeschriebene Körpergräber mit Steinumrandung fassbar, in denen die Toten in ausgestreckter Rückenlage bestattet wurden (Ollon-Saint-Triphon, Pully, Ecublens). Neben den Grabbeigaben und Haushaltsgegenständen wurden rituell gedeutete Waffen- und Metallschmuckdepots entdeckt, so in Neyruz fünf Beile und ein Dolch. Die Funde von Lausanne-La Bourdonnette und Lausanne-Bois-de-Vaux, prunkvolle Grabstätten oder Depots, sind weitere hervorragende Zeugnisse dieser Kultur. Die um 2400 v.Chr. aufgegebenen Siedlungsplätze wurden kurz vor 1800 v.Chr. wieder belegt (Morges-Les Roseaux, Préverenges, Yverdon-les-Bains-Clendy, Concise-Sous-Colachoz). Noch zahlreicher sind die Ufersiedlungen um 1700-1600 v.Chr. in einer mit "Roseaux" bezeichneten Phase nach dem Namen der Siedlung bei Morges.
Der Beginn der mittleren Bronzezeit (1600-1500 v.Chr.), gekennzeichnet durch einen erneuten Unterbruch in der Besiedlung der Seeufer, fällt mit dem Ende der Rhonekultur zusammen. Die folgende Phase (1500-1350 v.Chr.) ist durch vom Ufer zurückversetzte (Champ Vully in Rances; Le Motti in Onnens) oder in der Ebene liegende Siedlungen (En Planeise in Payerne) vertreten, vor allem aber durch Tumuli (En Sency in Vufflens-la-Ville), Grabhügel mit mehreren übereinanderliegenden Gräbern, die vom allmählichen Wiederaufkommen der Brandbestattung zeugen.
Der Beginn der Spätbronzezeit (1350-1100 v.Chr.) überschneidet sich mit der Endphase der mittleren Bronzezeit. Die befestigte Siedlung (temporäres Refugium?) des auf nahezu 1400 m gelegenen Châtel d'Arruffens (Montricher) auf den Jurahöhen war vom Ende der mittleren Bronzezeit an bewohnt.
Luftaufnahme der Fundstelle Promenade des Anglaises in Yverdon-les-Bains mit den wieder aufgerichteten Menhiren des archäologischen Lehrpfads, der 1986 angelegt wurde (Musée cantonal d'archéologie et d'histoire, Lausanne; Fotografie Denis Weidmann und Jean-Louis Voruz).
[…]
Die letzten Seeufersiedlungen vom Ende der Spätbronzezeit (1050-800 v.Chr.) sind durch grossflächige Dörfer charakterisiert, die mehrere Dutzend Häuser umfassen konnten. Die Fundstätten Corcelettes (Grandson), Grande Cité (Morges) und Eau Noire (Avenches) lieferten eine beeindruckende Menge an materiellen Zeugnissen: bronzene Werkzeuge, Schmuckgegenstände und Waffen, von denen die meisten als rituelle Depots gedeutet werden, und Gefässe aus Keramik. Die teils erhöht liegenden oder durch die natürliche Lage geschützten Landsiedlungen (Lausanne-La Cité, Ollon-Saint-Triphon) sind weniger erforscht. Aus der ausgehenden Spätbronzezeit stammen Erzeugnisse aus Keramik und Metall der Kultur Rhin-Suisse-France orientale, die auch durch Brandbestattungen mit typischer Grabausstattung gekennzeichnet ist, so am Boiron (Tolochenaz), in Saint-Prex, Saint-Sulpice oder in Lausanne-Vidy.
Eisenzeit
Autorin/Autor:
Gilbert Kaenel
Übersetzung:
Alice Holenstein-Beereuter
Die Siedlungen der älteren Eisen- oder Hallstattzeit, die nach dem Verlassen der Ufergebiete gegründet wurden, so jene von Le Motti (Onnens), Faoug oder Avenches-En Chaplix (8.-7. Jh. v.Chr.), sind noch wenig erforscht. Der schon in der Spätbronzezeit aufgetretene Erdhügel über dem Grab des Verstorbenen wurde allgemein üblich. Der Tumulus von Payerne, der am Ende des 19. Jahrhunderts untersucht wurde, gab die Reste eines vierrädrigen Wagens und einen goldenen Halsring frei. Er gehört zu einer grossen Gruppe von sogenannten Fürstengräbern und Fürstensitzen der Späthallstattzeit und des Beginns der Latènezeit (Ende 7. Jh. bis Anfang 5. Jh. v.Chr.).
Für die ersten nahezu 300 Jahre der jüngeren Eisen- oder Latènezeit (480/450-430 v.Chr.) sind Körpergräber, sogenannte Flachgräber ohne oberirdischen Aufbau, praktisch die einzigen Zeugnisse, mit Ausnahme einiger Siedlungsreste in Rances oder unter der römischen villa von Orbe. Die Nekropole von En Pétoleyres (Saint-Sulpice) mit ihren knapp 100 Grabstätten – die zweitgrösste der Schweiz – wurde von der frühen bis zum Beginn der mittleren Latènezeit benutzt (zweite Hälfte des 5. Jh. bis Beginn des 3. Jh. v.Chr.). Mit Speer und Lanze bewaffnete Männer und reich mit Hals-, Arm- und Beinreifen, Glas- und Bernsteinperlen geschmückte Frauen wurden dort ebenso begraben wie Kinder; ein Mädchen trug zwei Figuren aus Glaspaste phönizischer Herkunft. Das teilweise erforschte Gräberfeld von En Crédeyles (Vevey) hat Fundkomplexe geliefert, die auf 400-200 v.Chr. datiert werden.
Am Ende der Latènezeit wurden diese Nekropolen aufgegeben und teilweise wieder Feuerbestattungen vorgenommen, bei den rund 30 Gräbern von Lausanne-Vidy etwa gleich viele wie Körperbestattungen (zweite Hälfte des 2. Jh. v.Chr.). Das auffälligste Merkmal dieser Zeit ist die Entstehung neuer Siedlungen, so des bäuerlichen Weilers in La Maule (Cuarny) oder der grösseren Siedlung von Yverdon, die sich spätestens zu Beginn des 2. Jahrhunderts aus einem offenen Dorf zu einem Oppidum entwickelte. Dieser städtische Ort wurde 80 v.Chr. mit einer Befestigungsanlage umgeben, einer durch eichene Frontpfosten verstärkten Trockensteinmauer mit dahinterliegendem Erdwall (Pfostenschlitzmauer). Keramikproduktion, vielseitiges Handwerk, Prägung von Silbermünzen nach römischem Vorbild und von Potinmünzen (kupferhaltige Legierung) sowie Importe aus der römischen Welt sind repräsentativ für diese Kultur der Spätlatènezeit, die den Helvetiern der Westschweiz zugeschrieben werden kann. Die 2006 entdeckte Fundstätte auf dem Mormont (Eclépens und La Sarraz) vom Ende des 2. Jahrhunderts v.Chr. besass sicher kultische Funktion. Dort wurden in zahlreichen, bis auf den kalkhaltigen Untergrund hinabreichenden Gruben Keramikgefässe, Schmuckgegenstände, metallene Werkzeuge, Tiere und Menschen als Opfergaben niedergelegt.
Zur Zeit des Gallischen Kriegs (58-51 v.Chr.) wurde in Sermuz (Dorf Gressy, Yverdon-les-Bains) ein kleines, mit einer gallischen Mauer (murus gallicus) geschütztes Oppidum errichtet. Wie jenes in Lausanne-Vidy wandelte sich dieses Oppidum ab der Mitte des 1. Jahrhunderts v.Chr. zu einer gallorömischen Siedlung. Auf dem Hügel Bois de Châtel in der Ebene von Avenches stand im 1. Jahrhundert v.Chr. ein Oppidum, aus dem zahlreiche Überreste bekannt sind, insbesondere Grabbeigaben aus dem 2. Jahrhundert v.Chr. Diese wurden im heiligen Bezirk im Westen der späteren Hauptstadt des römischen Helvetiens entdeckt und zeugen von der Siedlungskontinuität bei Anbruch der Römerzeit.
Römische Zeit
Autorin/Autor:
Laurent Flutsch
Übersetzung:
Christoph Badertscher
In der Antike bildete der Kanton Waadt keine politische oder ethnische Einheit: Ab der Spätlatènezeit (2.-1. Jh. v.Chr.) lagen die Genferseeregion und das Mittelland in helvetischem, das Chablais in nantuatischem Gebiet und das Pays-d'Enhaut vermutlich in der rätischen, nicht-keltischen Zone.
Das Territorium
Autorin/Autor:
Laurent Flutsch
Übersetzung:
Alice Holenstein-Beereuter
Auf dem waadtländischen Territorium kreuzten sich bedeutende Fluss- und Landwege. Die Strecke Lausanne-Yverdon spielte als Verbindung zwischen Rhonebecken und Rheinebene eine wichtige Rolle für den Warenverkehr und die Versorgung der rheinischen Gebiete. Die strategische Route über den Grossen St. Bernhard, die 47 n.Chr. von Kaiser Claudius ausgebaut wurde, führte durch den Kanton und überquerte den Jura über den Jougne-Pass. Die Strecke Villeneuve-Genf entlang des Genfersees und die von Vevey, Lausanne und Nyon nach Norden abgehenden Strassen vervollständigten das Netz. Diese Konstellation der Land- und Wasserwege, die Nachbarschaft zur Provinz Narbonensis (Genf, Südufer des Genfersees) und zu Italien sowie die Vielfältigkeit der Landschaft und der natürlichen Ressourcen erklären die aussergewöhnliche Dichte an römischen Siedlungen.
Statuette aus Bronze, ausgegraben in Ursins, datiert zwischen 50 v.Chr. und 50 n.Chr. (Musée cantonal d'archéologie et d'histoire, Lausanne; Fotografie Fibbi-Aeppli, Grandson).
[…]
Mit der Colonia Iulia Equestris (Nyon) und Aventicum (Avenches) umfasste der Kanton zwei römische Kolonien (Colonia). Zu den kleineren Ortschaften zählten Pennelocus (Villeneuve), Viviscus (Vevey), Lousonna (Lausanne), Uromagus (Oron), Minnodunum (Moudon) und Eburodunum (Yverdon-les-Bains). In der Ebene lagen zahlreiche Gutshöfe – mindestens so viele wie heutige Dörfer –, darunter besonders prunkvolle wie die villae von Pully, Commugny, Yvonand oder Orbe (Boscéaz). Vom römischen Verkehrsnetz zeugen Reste von Strassen (Meilensteine und Fahrspuren) in Yvorne, Saint-Saphorin (Lavaux), Saint-Prex oder Ballaigues. Einzelne Heiligtümer befanden sich in Ursins oder auf dem Gipfel des Chasseron (Bullet).
Die Helvetier und Rom
Autorin/Autor:
Laurent Flutsch
Übersetzung:
Alice Holenstein-Beereuter
Nach ihrem Auswanderungsversuch und ihrer Niederlage bei Bibracte 58 v.Chr. kehrten die Helvetier wieder in ihr altes Siedlungsgebiet zurück. Über ihren Status in den folgenden 40 Jahren ist nichts Genaues bekannt. Helvetien wurde zwar formell nicht unterworfen, doch die römische Präsenz verstärkte sich: 45/44 v.Chr. wurde für Veteranen der römischen Kavallerie die Kolonie Nyon gegründet. Ihr Territorium erstreckte sich vom Genfersee bis zum Jura und vom Pas de l'Ecluse bis zur Aubonne, wenn nicht bis zur Morges. Ein Teil der Region La Côte war also schon ab diesem Zeitpunkt römisches Gebiet. Im Mittelland wurden römische Truppen vermutlich an den strategisch wichtigen Punkten stationiert, unter anderem in Sermuz. Der wirtschaftliche Einfluss Roms verstärkte sich durch die Einfuhr von italienischem Geschirr und die Verwendung von Ziegeln beim Siedlungsbau, zum Beispiel in Lausanne-Vidy.
Im Vorfeld der Germanenfeldzüge eroberte Augustus 13 v.Chr. die Alpen und schloss damit die Unterwerfung der Helvetier und ihrer alpenländischen Nachbarn, einschliesslich Nantuaten und Räter, ab. Das Land der Helvetier wurde nun als civitas der Gallia Belgica angegliedert, die Nantuaten und die anderen Stämme des Wallis einem Bezirk Rätiens zugeteilt.
Der Aufschwung der städtischen Siedlungen
Autorin/Autor:
Laurent Flutsch
Übersetzung:
Alice Holenstein-Beereuter
Die Urbanisierungspolitik von Kaiser Augustus entfaltete ihre Wirkung ab dem letzten Jahrzehnt vor unserer Zeitrechnung auch auf waadtländischem Boden. Die bestehenden Kleinstädte wurden umgestaltet oder verlegt (Lausanne, Avenches), andere Siedlungen vermutlich erst gegründet. Mit einer Ortschaft alle 30 km entlang der Verkehrsachsen war dieser Prozess um 20 n.Chr. praktisch abgeschlossen. Diese regionalen Zentren der römischen Macht, in denen die indigene Aristokratie einen günstigen Rahmen für die Bewahrung ihrer Vorrechte fand, förderten die Romanisierung. Ab Mitte des 1. Jahrhunderts n.Chr. setzte sich die römische Mauertechnik durch und in den wichtigsten Ortschaften wurden grosse Bauwerke wie Thermen, Theater und Amphitheater errichtet.
Import, Export, Transportwesen
Autorin/Autor:
Laurent Flutsch
Übersetzung:
Alice Holenstein-Beereuter
Die Waadt und ihre benachbarten Regionen gehörten zum Markt und zum Währungssystem des römischen Imperiums. Die massive Einfuhr römischer Güter (Olivenöl, Wein, Fischsaucen, Geschirr, Rohstoffe), neue Technologien (Mauertechnik, Ziegel- und Backsteinbrennerei, Ingenieurkunst, Rohrleitungsbau, Schlosserarbeit, Glasfabrikation) und der Ausbau des Verkehrswesens verhalfen der Waadt zu einem wirtschaftlichen Aufschwung. Dabei erwies sich die geografische Lage als grosser Vorteil: Von ihrer Basis in Lausanne-Vidy aus beförderte die Korporation der Genferseeschiffer Waren auf dem See und bis Yverdon, wo die in Avenches stationierten Zihl- und Aareschiffer den Weitertransport übernahmen. Der Nord-Süd-Verkehr und in geringerem Ausmass der Verkehr über den Jura mehrten den regionalen Wohlstand.
Handwerk und Landwirtschaft übernahmen römische Techniken. Neue Kulturpflanzen wie Rebe, Apfel-, Kastanien-, Pfirsich-, Kirsch- und Pflaumenbaum, Rande, Sellerie, Fenchel und Knoblauch wurden eingeführt. Die Nutzung der natürlichen Ressourcen (Stein und Holz, Jagd, Fischfang) intensivierte sich mit den steigenden Bedürfnissen der städtischen Siedlungen und dem Bevölkerungswachstum. Die lokalen Produkte wurden kaum exportiert, sondern auf dem regionalen Markt vertrieben.
Die Umgestaltungen im 1. Jahrhundert
Autorin/Autor:
Laurent Flutsch
Übersetzung:
Alice Holenstein-Beereuter
Nach dem Tod Neros kam es 68-69 zwischen Servius Sulpicius Galba, Vitellius, Otho und Vespasian zum Kampf um die Nachfolge, von dem auch die Helvetier betroffen waren, die sich die Feindschaft Vitellius' und seiner Truppen zuzogen. Avenches entging nur knapp der Zerstörung. Der Sieg Vespasians 69 veränderte die Lage: Der neue Kaiser begünstigte Helvetien, das sich gegen seinen Rivalen gestellt hatte und zu dem er familiäre Verbindungen unterhielt, denn sein Vater Flavius Sabinus war als Bankier in Avenches ansässig. Die Stadt, die seit mindestens 40 Jahren Hauptort der Civitas Helvetiorum war, erhielt 71 den Status einer Kolonie. Sie wurde mit einer gewaltigen Mauer ausgestattet, deren Bau 72 begann. 79 folgte Titus, der einen Teil seiner Kindheit bei seinem Grossvater in Avenches verbracht hatte, seinem Vater Vespasian nach (Flavier). Zwischen 85 und 89 kam es zu einer neuen Provinzeinteilung, infolge derer die civitas der Helvetier aus der Gallia Belgica ausgegliedert und der Provinz Germania Superior mit der Hauptstadt Mainz zugeteilt wurde. Diese Organisation bestand bis 297.
Die Krisen im 3. und 4. Jahrhundert
Autorin/Autor:
Laurent Flutsch
Übersetzung:
Alice Holenstein-Beereuter
Die Stabilität trug im 2. Jahrhundert zur Entwicklung der städtischen Zentren bei, förderte die Entstehung einer Mittelklasse und brachte einigen Bürgern grossen Reichtum, wie der Prunk mehrerer Wohnsitze beweist. Die ab 250 gehäuft auftretenden politischen und wirtschaftlichen Krisen zogen die Region in Mitleidenschaft ebenso wie die Einfälle der Alemannen, die den Mittellandkorridor für ihre Züge nach Italien oder in die Narbonensis benutzten. 275 wurde Avenches geplündert. Die Stadt wurde zwar nicht aufgegeben, blieb aber nachhaltig geschwächt. Unter Diokletian (284-305) beruhigte sich die Lage. Der Kaiser reformierte den Staat und gestaltete ihn 297 um. Das Land der Helvetier wurde der Sequania angegliedert, deren Zentrum Besançon war.
Konstantin I. (306-337) liess mehrere strategisch wichtige Orte entlang der Einfallsachsen befestigen. In einem castrum in Yverdon, das 325 mit einer Mauer umgeben wurde, stationierte er eine Flottengarnison zur Versorgung der Truppen am Rhein. Ein weiterer Militärposten befand sich in Genf. Zum Bau seiner Umfassungsmauer wurden die Bauwerke in Nyon als Steinbrüche benutzt.
Im Verlauf des 4. Jahrhunderts scheinen neue, wenig belegte Gebietseinteilungen vorgenommen worden zu sein. Avenches und der südliche Teil des Mittellandes waren wohl zeitweise Martigny und Genf angegliedert. Die Bevölkerung verliess die Städte in der Ebene und siedelte sich unweit davon an besser geschützten Orten an, so auf dem Hügel Bois de Châtel bei Avenches und jenem der Cité von Lausanne. Die meisten Gutshöfe wurden von ihren Eigentümern aufgegeben. Das Personal aber blieb dort in Gemeinschaften, die später zu Pfarreien und Dörfern wurden. Einige Objekte mit christlichen Symbolen, die insbesondere in Avenches und in Lausanne gefunden wurden, zeugen von der Verbreitung des Christentums im Lauf des 4. Jahrhunderts. Die allgemeine Christianisierung war aber noch lange nicht abgeschlossen.
Das Ende des Kaiserreichs
Autorin/Autor:
Laurent Flutsch
Übersetzung:
Alice Holenstein-Beereuter
Rom gab 401 die Verteidigung der Rheingrenze auf und zog seine Truppen nach Italien zurück. Für das Waadtland war damit die römische Epoche im eigentlichen Sinn zu Ende. Doch das Imperium bestimmte weiterhin die Geschichte der Region, indem es im Süden des Mittellandes 443 die Burgunder ansiedelte, mit Genf als Hauptstadt. Die germanischen Burgunder waren vorher von Rom besiegt und zu foederati erklärt worden. Ihr Siedlungsgebiet sollte Italien als Glacis (Aufmarschgebiet) dienen. Da ihre Zahl relativ gering war (ca. 25'000), integrierten sich die Burgunder in die einheimische Bevölkerung und nahmen die lateinische Sprache an. 470 hatte sich ihr Königreich über den Jura hinaus ausgedehnt, und die Hauptstadt wurde nach Lyon verlegt.
Der römische Rückzug, die Ansiedlung der Burgunder und schliesslich der Untergang des weströmischen Reichs (476) veränderte das Leben der Bevölkerung nicht grundsätzlich. Mit dem Niedergang der alten Hauptorte zugunsten von meist prosperierenden Zentren wie Genf, Sitten und später Lausanne war diese Periode eine Zeit des Übergangs und der Strukturanpassung. Nach 400 Jahren im römischen Reich jedoch hatte sich das Waadtland durch die Verschmelzung von einheimischer Tradition und mediterranen Einflüssen nachhaltig verändert. Technologische und landwirtschaftliche Neuerungen, die Alphabetisierung, die Latinisierung sowie die Aneignung von römischer Kultur, Recht und Religion bildeten das Fundament der heutigen Waadtländer Identität.
Frühmittelalter
Autorin/Autor:
Gilbert Coutaz
Übersetzung:
Christoph Badertscher
Die Archäologie hat für das Frühmittelalter im Wesentlichen Grab- und Münzfunde erbracht. Das Material, das zum reichsten der Schweiz gehört, bedarf noch weitgehend der Untersuchung und Interpretation. Schriftliche Quellen sind erst ab der Mitte des 8. Jahrhunderts vorhanden. Sach- und Schriftquellen entstammen dem kirchlichen Bereich, sind daher unvollständig und einseitig. Dennoch lässt sich zeigen, dass das Frühmittelalter zugleich eine Zeit der Beständigkeit und des Wandels war.
Das Gebiet der Waadt gehörte im Frühmittelalter zur Sapaudia, dem Territorium, das in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts für das Volk der Burgunder geschaffen und um 500 zerschlagen wurde. 534 nahmen die fränkischen Könige das burgundische Reich ein, und 561 stellte König Gunthram dessen Einheit unter der Bezeichnung pagus Ultrajoranus wieder her.
Kontinuität
Autorin/Autor:
Gilbert Coutaz
Übersetzung:
Alice Holenstein-Beereuter
Durch die frühere Besiedlung und die Migrationen bewahrte die Waadtländer Bevölkerung ihre romanische Sprache und Tradition. Mehrere ältere Siedlungen bestanden weiterhin, so in Aubonne, Bonvillars, Champagne, Concise, Corcelles-près-Concise, Genolier, Lausanne, Onnens, Pully, Saint-Prex, Saint-Saphorin (Lavaux), La Tour-de-Peilz, Ursins, Vevey und Yverdon. Weitere Niederlassungen entstanden erst im Frühmittelalter, wie die Kirche Saint-Léger in Saint-Légier-La Chiésaz und jene in Préverenges sowie die Nekropolen von Bex, Rances-Champ-Vully, Saint-Sulpice, Le Clos d'Aubonne oder La Tour-de-Peilz, die mit ihren 578 Gräbern für den Kanton einzigartig ist, belegen. Das Kloster Romainmôtier, seit Mitte des 5. Jahrhunderts bezeugt, wurde an der Stelle einer früheren gallorömischen Kirche errichtet und im 10. Jahrhundert an Cluny abgetreten.
Die neue territoriale Gliederung bildete weitgehend die römische Verwaltungseinteilung ab. So fasste die Diözese Lausanne die Gebiete der ehemaligen Civitas Helvetiorum zusammen, die sie von den beiden früher gebildeten Diözesen Genf und Sitten übernahm. Zu Beginn des 6. Jahrhunderts wechselte der Sitz der Diözese noch zwischen Windisch und Avenches. Zwischen dem Ende des 6. und dem Beginn des 7. Jahrhunderts errichtete der Bischof seinen Sitz in Lausanne, auf dem Hügel der Cité. Die Siedlung Lausanne war während der ganzen Periode mit der Kirche eng verflochten. Sie bildete das Zentrum des pagus waldensis, dessen Name von den grossen Waldflächen zeugt, welche die Stadt umgaben.
Veränderungen
Autorin/Autor:
Gilbert Coutaz
Übersetzung:
Alice Holenstein-Beereuter
Die Machthaber des Frühmittelalters bemühten sich um die Kontrolle über das Gebiet der Waadt, einen strategischen Raum, durch den die wichtigste Strassenverbindung zwischen Frankreich und Italien verlief. Es stand nacheinander unter burgundischer, dann unter merowingischer Herrschaft und wurde schliesslich Teil des Mittelreichs, das 843 aus der Teilung des Karolingerreichs hervorging (Frankenreich), bis es nach dessen endgültiger Zersplitterung 888-1032 unter der Herrschaft der Burgunderkönige stand (Zweites Königreich Burgund).
Ab dem Ende des 6. Jahrhunderts verstärkte sich, ausgehend von Romainmôtier, der monastische Einfluss mit der Gründung von Saint-Thyrse (Lausanne), Baulmes und Payerne. Die grossen Friedhöfe am Rand der Siedlungen wurden in die unmittelbare Nähe der Kirchen verlegt. Ab dem Ende des 9. Jahrhunderts entstanden mehr und mehr Pfarreien. Lausanne spaltete schon vor der Jahrtausendwende seine Pfarrei auf mehrere Pfarrkirchen auf.
Die Waadt, Kernland des Zweiten Königreichs Burgund (888-1032)
Autorin/Autor:
Gilbert Coutaz
Übersetzung:
Alice Holenstein-Beereuter
Unter König Rudolf III., der 993-1032 regierte, nahm das Waadtland eine zentrale Stellung in der Organisation des Königreichs ein. Politische und religiöse Macht waren dort näher beisammen als anderswo. Hatten zuvor die Äbte von Cluny als Verbündete seiner Vorgänger auf dem Thron bedeutenden Einfluss ausgeübt, fiel diese Rolle nun Romainmôtier und Payerne zu. Die Übertragung der Grafschaft (comitatus) Waadt, des südlichen Teils des pagus waldensis, an den Bischof von Lausanne 1011 gab diesem mehr als ein Territorium, nämlich ein Bündel von Rechten über die Stadt und ihr Umland sowie im Lavaux, in Curtilles, Lucens, Albeuve, Bulle, La Roche, Saint-Prex und Chevressy (Pomy). In diese Zeit fiel auch der demografische, wirtschaftliche und bauliche Aufschwung (romanische Abteikirche in Payerne) des Waadtlands. Das Aussterben der Rudolfinger 1032 brachte die Angliederung an das Heilige Römische Reich. Nach dem Tod Kaiser Heinrichs III. 1056, des letzten Königs von Burgund, blieben dessen Nachfolger dem Waadtland fern. Das Fehlen einer zentralen, anerkannten Gewalt förderte ab Mitte des 11. Jahrhunderts den Aufstieg des regionalen und lokalen Adels.
Politische Geschichte vom Mittelalter bis 1798
Von 1056 bis 1536
Autorin/Autor:
Bernard Andenmatten
Übersetzung:
Christoph Badertscher
Bis ins 13. Jahrhundert war der Bischof von Lausanne der mächtigste Herr in der Waadt. 1207 fasste das Haus Savoyen in der Waadt Fuss und errichtete eine Territorialherrschaft mit moderner Verwaltungsstruktur. Seit den Burgunderkriegen waren weder der Bischof noch der Herzog von Savoyen in der Lage, sich der aufstrebenden Macht Bern zu widersetzen.
Die Entstehung der Feudalherrschaft (ca. 1050-1200)
Autorin/Autor:
Bernard Andenmatten
Übersetzung:
Marianne Derron Corbellari
Von 1057 an hatte die Waadt keinen von der lokalen Elite unbestritten anerkannten Herrschaftsträger mehr. Bis ins 13. Jahrhundert unterstand das Land zwar der mehr oder weniger fernen Macht des Kaisers, tatsächlich war es aber Gegenstand zäher Auseinandersetzungen um die Territorialherrschaft zwischen den Adelsfamilien einerseits und den grossen Klöstern und dem Bischof von Lausanne andererseits.
1011 hatte Rudolf III. dem Bischof von Lausanne die gräflichen Rechte abgetreten. Obwohl die unmittelbaren Folgen dieses Akts vermutlich nicht einschneidend waren, übten trotzdem bis zu Beginn des 13. Jahrhunderts vornehmlich die Prälaten von Lausanne die öffentlichen Rechte in der Waadt aus. Im jahrhundertelangen Konflikt zwischen Kaiser und Papst schlugen sie sich meist auf die Seite des Ersteren und stärkten so ihre weltlichen Rechte, wie zum Beispiel Bischof Burkhard von Oltigen, der 1079 von Heinrich IV. Güter geschenkt erhielt. So konnten die Bischöfe ihre Güter im Lavaux und im Broyetal mehren und zugleich die Eigenständigkeit der Kirche gegenüber den Begierden anderer Hegemonialmächte wie der Herzöge von Zähringen oder der Grafen von Genf verteidigen. Der politische Einfluss der Bischöfe war nie auf das Territorium der Diözese beschränkt, sondern ging weit über ihren Grundbesitz hinaus, da der Kaiser ihnen wichtige Herrschaftsrechte wie Weg und Zoll, Markt und insbesondere das Münzrecht abgetreten hatte.
Zu den Klosterherrschaften liegen am meisten Quellen vor. Im 11. Jahrhundert verfügten die Cluniazenserpriorate Payerne und Romainmôtier über bedeutenden Grundbesitz und Bannrechte. Romainmôtier war vor allem im Nordwesten der Waadt begütert, hatte aber auch in der Region La Côte und in der Freigrafschaft zahlreiche Besitzungen. Das Kloster bildete ab Mitte des 11. Jahrhunderts eine einflussreiche Herrschaft, die sich manchmal vehement gegen Rivalen wie die de Salins oder die von Grandson verteidigte. Von 1120 an lassen sich dank weiterer geistlicher Niederlassungen (Zisterzienser in Montheron, Hautcrêt und Bonmont, Benediktiner in Lutry, Grandson und Blonay, Prämonstratenser am Lac de Joux, Kartäuser in Oujon) die Zunahme und Verdichtung der Herrschaften besser fassen. Die neuen Klöster verfügten zwar über weniger, dafür aber kompaktere Güter und Herrschaftsrechte als die Cluniazenser.
Nur kirchliche Quellen sowie archäologische Studien der Burgen, deren systematische Erfassung noch aussteht, liefern Aufschlüsse über die Herrschaftspraxis der weltlichen Aristokratie vor 1200. Die umfangreichen und relativ gut erhaltenen Klosterarchive lassen Rückschlüsse auf die Machtausübung des weltlichen Adels und auf die ihm unterstellte Bevölkerung zu, vor allem mittels Urkunden über fromme Stiftungen und Beilegungen von Rechtsstreiten. Die lokale weltliche Elite scheint nach der Auflösung des Königreichs Burgund im 11. Jahrhundert trotz der politischen Umwälzungen nicht vollständig ausgewechselt worden zu sein. Sie war besonders im Westen der Waadt schon gut verankert, wie zum Beispiel die Herren d'Aubonne und von Mont.
Von allen Herren der Waadt waren die von Grandson zweifellos die mächtigsten: 1110 als principes provincie bezeichnet, sind sie wegen ihrer Konflikte mit den Mönchen von Romainmôtier gut bezeugt. Am Jurafuss besassen sie die Festen Grandson, Champvent, La Sarraz, Belmont(-sur-Yverdon) und Montricher, mit denen sie den Zugang zu den Jurapässen kontrollierten. Am anderen Ende der Waadt übten die de Blonay, die 1109 als principes des Chablais erwähnt werden, faktisch die Oberherrschaft über Chillon, das Rhone- und das obere Broyetal aus. Im Zentrum der Waadt (Cossonay), aber auch in der Region La Côte (Prangins und Nyon) sind die Herren de Cossonay ab 1096 als Burgbesitzer mit Rittergefolgschaft belegt.
Neben diesen wichtigen weltlichen Dynastien existierten auch Geschlechter, deren Einflussbereich sich auf kleinere Gebiete erstreckte, wie die de Vufflens und die von Goumoëns im Gros-de-Vaud. Andere Herrschaften berührten das heutige Kantonsgebiet nur am Rand, unter anderen jene der Grafen von Greyerz, deren ursprünglicher Herrschaftskern sich im Pays-d'Enhaut befand. Auch wenn diese Periode von zersplitterten Machtverhältnissen geprägt war, darf sie nicht als anarchisch bezeichnet werden. Die Bande unter dem weltlichen Adel waren anscheinend lose und die Feudalbeziehungen unklar. Erst in den Urkunden des 13. Jahrhunderts werden die Herrschaften, besonders die Stammburgen als deren Kern, genauer beschrieben und explizit als Eigengüter bezeichnet.
Der Aufbau der savoyischen Territorialherrschaft
Autorin/Autor:
Bernard Andenmatten
Übersetzung:
Marianne Derron Corbellari
Die Waadt erfuhr im 13. Jahrhundert einschneidende Veränderungen, die auch in anderen Regionen auftraten. Dazu gehörte zum einen die Ausweitung der Schriftlichkeit, zum andern die Einführung einer Verwaltungsstruktur, die bereits den frühneuzeitlichen Staat ankündete. Der Urkundenbestand nahm sprunghaft zu. Von dessen grosser typologischer Vielfalt zeugen zum Beispiel die ersten Rechnungsbücher der Kastlanei Chillon von 1257. Obwohl in der Waadt bis zum Spätmittelalter Gewohnheitsrecht vorherrschte, war eine gewisse Durchdringung mit gelehrtem Recht bemerkbar, vor allem in überwiegend kirchenrechtlichen Bereichen wie der Ehe- und Erbpraxis. Diese Entwicklung wurde von Personen unterstützt, die äusseren Einflüssen gegenüber offen standen: vom Bischof von Lausanne Roger de Vico Pisano und dessen italienischem Gefolge Anfang des 13. Jahrhunderts, von Lausanner Kanonikern, die an den Universitäten Paris und Bologna studiert hatten, aber auch von Beamten in savoyischen Diensten.
Banner, geteilt in vier Felder mit den Wappen der Herren de Blonay und der Grafen von Savoyen, Anfang 14. Jahrhundert (Fondation du château de Blonay; Fotografie Claude Bornand).
[…]
Massgebliche Architekten des Wandels in Recht und Verwaltung in der Waadt waren die Savoyer. Diese waren ab dem 12. Jahrhundert im Chablais ansässig, 1207 erlangten sie Rechte in der Waadt. Im Vertrag von Burier von 1219 gab der Bischof von Lausanne Graf Thomas I. Moudon zu Lehen. Aber erst dessen Sohn Peter II. nahm die Waadt eigentlich in Besitz, indem er 1240-1260 systematisch Feudalrechte erwarb und zahlreichen Herren (d'Aubonne, de Bioley, Grafen von Greyerz, de Saint-Martin, de Palézieux) den Treueeid abnahm. Zu seinen neuen Vasallen zählten auch Ritter aus Dörfern wie Vuillens, Sottens, Bussy und Chapelle, die meist im Broye- und Saanetal sowie am Ufer des Neuenburgersees Besitzungen hatten. Mit dem Erwerb der Vogtei Payerne schuf sich Peter II. 1240 ein ansehnliches Obereigentum, bestehend aus den Kastlaneien Moudon, Romont, Rue, Yverdon und Les Clées. Graf Philipp I., sein Bruder und Nachfolger, führte diese Politik weiter und stärkte gleichzeitig die Verwaltungsstrukturen. Gegen Ende seiner Herrschaftszeit kam die Expansion der Savoyer vorübergehend zum Stillstand, da die Habsburger vordrangen und Payerne 1283 lange belagerten. Im heftigen Erbstreit nach Philipps I. Tod 1285 wurde die Waadt von mehreren Parteien beansprucht. Nach gewalttätigen Konflikten überliess Philipps I. Nichte, Béatrice de Faucigny, ihre waadtländischen Verbündeten, die Cossonay-Prangins, ihrem Schicksal. In der Folge mussten diese ihre Besitzungen in Nyon, Prangins und Grandcour an Philipps I. Neffen, Graf Amadeus V. und dessen Bruder Ludwig I. von Savoyen-Waadt, abtreten. Diese teilten sich das savoyische Hoheitsgebiet in einem langwierigen Verfahren auf: Der Grossteil der Waadt wurde zur Apanage für Ludwig I. und seine Nachkommen, genannt Savoyen-Waadt, erklärt (auch "Baronnie Waadt"). Amadeus V. behielt das Chablais, die Treue der mächtigsten Vasallen und die Kontrolle über Payerne. Mit der Gründung von Morges (1286) und von Rolle (um 1318-1319) dehnten die Savoyer ihren Einflussbereich noch bis in die Region La Côte aus.
In diesen unruhigen Zeiten wurden viele Waadtländer Burgen errichtet oder umgebaut (Champvent, Lucens, Morges, Grandson); zugleich erlangte die Waadt eine feste territoriale und politische Identität. Ihre West- und ihre Ostgrenze entsprachen nun nicht mehr denjenigen der Diözese Lausanne, sondern der Apanage der Savoyen-Waadt: Diese reichte von Vevey bis Nyon, einschliesslich dem Bugey und dem Valromey, was das westliche Genferseegebiet ins Zentrum des savoyischen Besitzes rückte. Die Coutume der Waadt stammt von 1302. Sie galt in einem um 1350 noch genauer bestimmten Gebiet mit der fortan geläufigen Bezeichnung Patrie de Vaud. Um 1330 wurde Moudon zum Herrschaftszentrum der Vogtei Waadt, während Chillon Zentrum der Vogtei Chablais war. 1359 veräusserte Katharina von Savoyen-Waadt die Apanage an Graf Amadeus VI. Danach wurde die Vogtei in der Verwaltungssprache des savoyischen Staats, der sich zu Beginn des 15. Jahrhunderts von Nizza bis zu den Toren Berns erstreckte, oft als "Mark Waadt" bezeichnet.
Den Expansionsgelüsten der Savoyer bot in der Waadt einzig der Bischof von Lausanne die Stirn. Nach 1320 schwächte sich diese Rivalität dank einer Reihe von Kompromissen ab, die zwar die savoyische Vorherrschaft festigten, aber dem kleinen Bischofsstaat eine gewisse Autonomie einräumten. Neben Lausanne und dem Lavaux besassen die Bischöfe Lucens, Bulle, Avenches und La Roche. Ihr politischer Einfluss reichte aber darüber hinaus, was sich darin zeigt, dass ihre Währung auch im südlichen Teil der Diözese zirkulierte und kalendarisch zu Ehren der heiligen Jungfrau, der Schutzpatronin der Kathedrale und der Diözese, der Annuntiationsstil galt. Weitere einflussreiche Familien besassen auf dem Waadtländer Territorium Herrschaften und verfügten über Vasallen, so die de Montfaucon-Montbéliard und später die de Chalon (beides Grafenhäuser) in Orbe, Echallens und Grandson, die von Greyerz im Pays-d'Enhaut und die von Neuenburg in Champvent. Ab dem zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts galten deren Rechte jedoch stets als Lehen der Savoyer. Als Kastvögte der Klöster übten die Savoyer auch deren wichtigste Herrschaftsrechte aus, überliessen jedoch den Geistlichen den grössten Teil der Einkünfte aus den Kastlaneien.
Die starke staatliche Präsenz der Savoyer liess kommunalen Strukturen nur wenig Raum zur Entfaltung. Auch wenn den Gemeinwesen in den Stadtrechten zahlreiche Konzessionen gewährt wurden (1214 in Villeneuve), betrafen diese weit öfter die Wirtschaft (Zollbefreiung, Weinverkaufspatent) als die politische Organisation oder die Rechtsprechung. In den beiden letztgenannten Bereichen bewahrte der durch einen Kastlan repräsentierte Herr seine Vorrechte. Zeichen einer gewissen Gemeindeautonomie manifestierten sich deshalb eher in den bischöflichen Besitzungen (Lausanne und Avenches), ebenso in Payerne, wo sich das Priorat und die Savoyer die Herrschaft teilten. Die savoyische Waadt kannte aber eine seit 1361 bezeugte beratende Ständeversammlung (Etats de Vaud), an der regelmässig Gesandte der Kastlaneien, seltener Adlige und Geistliche teilnahmen. Meist beriefen die Savoyer die Stände ein, um über ihre Steuerforderungen und die Modalitäten der Steuererhebung zu beraten. Da die Stände auch spontan tagen durften, berieten sie gerade in unsicheren Zeiten ausserdem über Fragen der allgemeinen Ordnung. Im Chablais ist keine derartige Institution bekannt, während in der Diözese – allerdings erst Ende des 15. Jahrhunderts – Versammlungen der drei Stände bezeugt sind.
Das Ende der savoyischen Herrschaft und des Bischofsstaats
Autorin/Autor:
Bernard Andenmatten
Übersetzung:
Marianne Derron Corbellari
In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, in der Zeit der Blüte des savoyischen Herzogtums, das sich rund um das Genferseebecken ausbreitete, wählte der savoyische Hof öfters die Waadt als Residenzort. Felix V., ehemaliger Herzog Amadeus VIII. und auf dem Konzil von Basel 1439 gewählter Papst, hielt sich hauptsächlich in Lausanne auf. Danach wurde das Herzogtum von Wirren erfasst, die sich auch auf die Waadt auswirkten. Immer wieder in eine Apanage umgewandelt – 1460 für Jakob von Savoyen – und verpfändet, um die herzoglichen Finanzen wieder ins Lot zu bringen, verlor die Waadt für die Dynastie an politischer Bedeutung. Die Herrscherfamilie residierte deshalb immer öfter im Piemont. Ausserdem wurde die Region während der Burgunderkriege in Mitleidenschaft gezogen: 1475 wurden La Sarraz und Les Clées geplündert, im Februar 1476 Yverdon, im folgenden Juni die Ortschaften im Genferseegebiet und im Broyetal. Die Niederlage des Herzogs von Burgund und seines savoyischen Verbündeten ebnete den Bernern und Freiburgern den Weg zur Annexion des Waadtländer Besitzes der de Chalon (Grandson, Orbe, Echallens). Bern riss des Weiteren den Teil des Chablais rechts der Rhone (Bex und Aigle) an sich. Der Rückzug der Savoyer liess die Stände der Waadt erstarken. Sie entwickelten insbesondere im Bereich der Gesetzgebung grössere Initiative und erliessen zwischen 1510 und 1534 rund ein Dutzend Satzungen, darunter die gegen Missbräuche der kirchlichen Gerichtsbarkeit gerichteten "Statuta nova patrie Vuaudi". Auch der mit den Savoyern eng verbundene Bischof von Lausanne kam um weitgehende Zugeständnisse nicht herum. 1481 musste er den Zusammenschluss der Verwaltung der Lausanner Cité mit den vier Bannern der Unterstadt hinnehmen. Die Stadt betrieb fortan eine autonome Politik, die vor allem im Abschluss eines Burgrechtsvertrags mit Bern und Freiburg 1525 greifbar wird.
Nachdem sowohl die savoyische als auch die bischöfliche Macht deutlich geschwächt war, nahmen Bern und Freiburg 1536 die Waadt ein. Die Eroberung bildete nur eine regionale Episode in einem grösseren Konflikt, der beinahe zum Untergang des Herzogtums Savoyen führte. Bern und Freiburg teilten die Waadtländer Kastlaneien unter sich auf, wobei sich Bern zudem den Löwenanteil der bischöflichen Güter samt Lausanne sicherte.
Die Berner Herrschaft (1536-1798)
Errichtung und Festigung der Berner Herrschaft
Autorin/Autor:
Danièle Tosato-Rigo
Übersetzung:
Marianne Derron Corbellari
Im Frühling 1536 eroberten Berner Truppen, angeführt von Hans Franz Nägeli, unter Berufung auf den Vertrag von Saint-Julien (1530) die Waadt. Sie waren ausgezogen, um das mit Bern verburgrechtete Genf von der savoyischen Blockade zu befreien. Die gleichzeitige Bestätigung der Freiheiten der Waadtländer und das – schon bald gebrochene – Versprechen, sich nicht in religiöse Fragen einzumischen, erleichterten die Eroberung.
Nach der Flucht des Bischofs Sébastien de Montfalcon wurde dessen Besitz konfisziert. Den östlichen Teil der Waadt überliess Bern Freiburg, das linke Ufer der unteren Rhone bis Evian dem Wallis, die beide nach anfänglichem Zögern ebenfalls gegen Savoyen ausgezogen waren. Die mit Bern verburgrechteten Städte Lausanne und Payerne (1525 bzw. 1344) beteiligten sich an den militärischen Operationen, wofür sie zwar steuerliche und rechtliche Privilegien erhielten, nicht aber die erhoffte politische Unabhängigkeit.
Die der Waadt am 13. Mai 1536 verliehenen Satzungen teilten das Land in Landvogteien ein, zu denen nach dem Bankrott des Grafen von Greyerz 1555 mit dem Pays d'Enhaut noch eine weitere dazukam. Anfang des 18. Jahrhunderts wurde die Zahl der Landvogteien definitiv auf 16 festgelegt. Während das in den Burgunderkriegen (1474-1476) eroberte Gouvernement Aigle und das Pays-d'Enhaut zur "deutschen" Verwaltung gehörten (Tütsch Bern), wurde die restliche Waadt in einer neuen französischsprachigen Einheit zusammengefasst (Welsch Bern).
Die Eroberung von 1536 wurde von Savoyen angefochten und war von der übrigen Eidgenossenschaft, die eine Berner Vorherrschaft befürchtete, ungern gesehen. Deshalb dauerte die Konsolidierung der Herrschaft noch einige Zeit: Im Vertrag von Lausanne 1564 musste Bern die Landvogteien Gex, Ternier-Gaillard und Thonon dem Herzog von Savoyen zurückgeben; im Gegenzug anerkannte dieser die Berner Herrschaft über die Waadt. Die wichtigsten eidgenössischen Orte schlossen die Waadt erst Ende des 17. Jahrhunderts in die Bundesgarantien ein.
Die 16 für sechs, in den gemeinen Herrschaften für fünf Jahre ernannten Landvögte, denen die Verwaltung sowie das Justiz- und Wehrwesen oblagen, waren die einzigen die Landesherrschaft vertretenden Berner vor Ort. Sie stützten sich weitgehend auf den Sachverstand und die persönlichen Kontakte ihres Statthalters, des auf Lebenszeit ernannten Untervogts. Dieser Posten war Angehörigen einiger weniger lokalen Notabelnfamilien vorbehalten. Die Tagebücher von Jean Henri Polier de Vernand zeugen von der Bedeutung dieses Amts. Nur wenige Adelsfamilien wie die d'Allinges, d'Aubonne, de Joffrey, de Martines oder Treytorrens beantragten nach 1536 das Berner Burgerrecht, dank dem sie in Staatsstellen aufsteigen konnten. Noch seltener erhielten sie eine solche Stelle auch tatsächlich (z.B. die eingeburgerten de Gingins, von Tavel und von Goumoëns).
Nach ihrem Herrschaftsantritt strebten die Berner eine Rechtsvereinheitlichung an. Sie revidierten den Coutumier de Moudon (1577) und druckten das neue Landrecht 1616 unter dem Titel Der Landtschafft Waadt Satzung und Statuten (Loix et Statuts du Pays de Vaud). In der Folge änderten sie die alten Gewohnheitsrechte häufig mittels Mandaten ab. 1650-1750 führte Bern eine grossangelegte sogenannte Lehensreform durch, um die Zehnterhebung und die Herrschaftsrechte, die Bern als Nachfolger des Bischofs und des Hauses Savoyen zugefallen waren, anerkennen zu lassen und zu vereinfachen. Direktbesteuerungen waren die Ausnahme (1555, 1577). Zusammenlegungen, Tausche, Käufe und Verkäufe äufneten – zulasten seiner Vasallen – die Erträge aus Zehnt und Herrschaftsrechten des Staats Bern. Am Ende des Ancien Régime machten die von den Waadtländern bezahlten Zehnten und Grundzinsen fast 50% der bernischen Einnahmen aus. Zwei Untersuchungen über das Nobilitierungsverfahren im Waadtländer Adel (1670-1672, 1675-1677) standen in enger Verbindung mit dieser Bodenreform und führten dazu, dass über 40 Familien ihre Titel vorlegen mussten. Bern lehnte es aber schliesslich ab, einen einheitlichen Rechtsstatus für den Adel festzulegen, weshalb die Geschlechter keine gemeinsame Identität entwickelten, mit der sie ihre Interessen gegenüber Bern hätten verteidigen können.
Plan für den Hafen von Morges, gezeichnet vom Ingenieur Isaac Masset, 1687 (Archives cantonales vaudoises, Chavannes-près-Renens, Bb 25, XII, S. 430-431; Fotografie Rémy Gindroz).
[…]
Im Wehrwesen verpflichtete die neue Obrigkeit die Waadtländer, sieben von insgesamt 21 Regimentern der Berner Miliz zu stellen. Der Grad eines Obersten war grundsätzlich Bernern vorbehalten, doch hatten Waadtländer Untertanen ab Anfang des 18. Jahrhunderts Zugang zu einem Drittel der Hauptmannsstellen in fremden Diensten.
Die Landvogteien wurden in 60 Kastlaneien unterteilt, die für das Gerichtswesen zuständig waren. Bern übernahm zwar die vormals von den Savoyern und – in Lausanne – vom Bischof ausgeübten Rechte (Urteile bei Kapitalverbrechen, Begnadigungsrecht, letztinstanzliche Appellationen), behielt aber die zahlreichen, rund 400 Gerichtshöfe bei. Es gestaltete vor allem das Kirchenwesen um, indem es die Reformation einführte (Edikte vom 19. Oktober und 24. Dezember 1536), den Besitz der Geistlichkeit säkularisierte, diese neu in sechs direkt Bern unterstellte Kapitel einteilte (Lausanne-Vevey, Payerne, Morges, Yverdon, Gex, Thonon) und Anfang des 18. Jahrhunderts die Synoden aufhob. Mit den Sittengerichtsordnungen (1640, 1746, 1787) hatte Bern ein wirksames Mittel in der Hand, um das neue Gesetzgebungsrecht auf dem gesamten Territorium durchzusetzen. Durch ihre gleichzeitig geistliche und zivile Amtstätigkeit wurden die Pfarrer zu einem wichtigen Bindeglied zwischen der Regierung und den Städten bzw. der Landschaft.
Lokale Gewalten: Herren, Städte und Gemeinschaften
Autorin/Autor:
Danièle Tosato-Rigo
Übersetzung:
Marianne Derron Corbellari
Die lokalen Herren bewahrten weitgehende Autonomie, da das Berner Regime die Feudalstrukturen im Wesentlichen aufrechterhielt und auch die politische Elite in den Städten nicht auswechselte, sondern sie in die Verwaltung des Territorialstaats eingliederte. Sie erliessen Dorfsatzungen, gewährten Kredite, schufen Arbeitsstellen und amtierten als Gerichtsherren. Da sie über Verstösse gegen die Reformationsmandate (1560) urteilten, hatten sie vielerorts die hohe Gerichtsbarkeit inne. Mit diesem Machtinstrument ausgestattet, verurteilten sie zwischen 1580 und 1653 in zahlreichen Hexenprozessen rund 1600 Personen zum Tod.
Ab 1536 konnten auch Nichtadlige Herrschaften, Herrschaftsrechte und Ansprüche auf Feudalabgaben erwerben. Daher bildeten die Rechtsträger eine heterogene Gruppe, obwohl sie alle Vasallen Berns waren. Die Abschaffung des droit de cape 1748, einer vormals von Nichtadligen verlangten Steuer beim Erwerb eines adligen Lehensguts, drängte den Adel weiter zurück. Ausländer und Genfer Bankiers waren besonders auf den Kauf von Herrschaften in der Region La Côte erpicht, wie zum Beispiel die Necker in Coppet, Bière und Rolle.
Städte und Marktflecken behielten ihre Privilegien und Freiheiten. Wo der Coutumier de Moudon nicht galt (Lausanne, Payerne, Grandson, Orbe-Echallens, Aigle), wurde das Gewohnheitsrecht im 17. und 18. Jahrhundert schriftlich festgelegt. In ihrer Entwicklung folgten diese Orte Bern, dessen politisches System sich ab Mitte des 17. Jahrhunderts mit der Schaffung verschiedener Kammern oder Kommissionen spezialisierte und oligarchische Züge annahm. Sie wurden im Allgemeinen von zwei Räten regiert, wobei sich der Kleine Rat ab Ende des Jahrhunderts gegenüber dem Grossen Rat zunehmend durchsetzte. In den häufigen Konflikten zwischen beiden Instanzen (z.B. in Morges in den 1760er Jahren) wurde Bern als Schlichtungsorgan angerufen. Die Städte verteuerten den Erwerb des Bürgerrechts im Verlauf des 17. Jahrhunderts beträchtlich.
Titelblatt zu einem Gedicht von Samuel Chappuzeau, das anlässlich der Zusammenkunft der vier "bonnes villes du Pays de Vaud", Moudon, Yverdon, Morges und Nyon, bei Jean Hermann Widerhold 1679 in Genf gedruckt wurde (Bibliothèque cantonale et universitaire Lausanne).
[…]
Als die Stände der Waadt nach 1570 nicht mehr einberufen wurden, übernahmen die Städte die Verteidigung des Gewohnheitsrechts. An ihren vom Ende des 16. bis Anfang des 17. Jahrhunderts recht häufigen Zusammenkünften, denen oft auch Gesandte des Adels beiwohnten, nahmen mit der Zeit nur noch die quatre bonnes villes Moudon, Nyon, Yverdon und Morges teil. Diese schrittweise Einschränkung erfolgte nach den von Bern erlassenen Mandaten von 1622, 1647, 1653 und 1680, die das Versammlungs- und Beschlussfassungsrecht immer restriktiver auslegten. Die letzte Versammlung fand 1728 in Morges statt.
Auch die Dorfgemeinschaften verfügten über eine gewisse Autonomie. Wenn sie direkt Bern unterstanden (z.B. im ehemaligen Herrschaftsgebiet von Romainmôtier), war diese grösser als unter einem lokalen Herrn. Die Dörfer wurden von einem oder zwei Räten verwaltet, die über die Nutzung der Allmend, die Fürsorge und das Schulwesen entschieden, aber auch über die Ausführung bestimmter polizeilicher und sogar gerichtlicher Aufgaben.
Autorin/Autor:
Danièle Tosato-Rigo
Übersetzung:
Marianne Derron Corbellari
Bis 1790 blieb es in der Waadt politisch weitgehend ruhig. Die Daux-Verschwörung 1588 und der Aufstand unter Major Jean Daniel Abraham Davel 1723 waren nur einzelne Episoden. Die Konflikte zwischen ländlichen Gemeinschaften und den Herren sind aber noch wenig erforscht.
Zwei Oppositionsbewegungen, die ihren Ursprung an der Akademie Lausanne hatten, zeugen vom Widerstand gegen den bernischen Cäsaropapismus. Weil er die Kompetenzen der Berner Obrigkeit im Kirchenwesen hinterfragte, wurde der erste Stadtpfarrer, Pierre Viret, 1559 verbannt. Die übrigen Professoren der Akademie folgten ihm in die Verbannung. In den 1720er Jahren löste die Formula Consensus einen neuen Machtkampf aus, der wiederum mehrere Professoren vertrieb.
Die Französische Revolution von 1789 ermutigte die städtische Elite, ihre Reformwünsche zu äussern. Auf der Landschaft löste sie Bestrebungen nach wirtschaftlichen Freiheiten aus. Viele Feudalrechte wurden darauf in den 1790er Jahren abgeschafft, und zwar eher von Bern selbst als von den lokalen Herren, weil Bern als Landesherr den inneren Frieden wahren wollte. 1790 gelang es sogar den Kaufleuten ohne Bürgerrecht, also einfachen Habitanten, von Bern die Abschaffung der Handelspatente zu erwirken.
Im Juli 1791 wurden zum ersten Jahrestag des Sturms auf die Bastille in mehreren Waadtländer Städten Revolutionsbankette abgehalten (Bankette). Die Berner Regierung reagierte darauf mit entschiedener Repression. Als 1792 die Schweizergarde in den Tuilerien niedergemetzelt wurde, verstummten im Waadtland die Forderungen nach mehr Freiheit. Nach Bonapartes Siegen und der Schaffung der Schwesterrepubliken im Herbst 1797 erstarkte die Reformbewegung von Neuem: Die Städte und Marktflecken forderten in zahlreichen Petitionen, eine Abgeordnetenversammlung der Waadt einzuberufen. Der Franzoseneinfall im Januar 1798 führte zur Revolution, welche die Reformbewegung hinfällig machte.
Gesellschaft und Wirtschaft vom Mittelalter bis 1798
Vom Mittelalter bis zur Eroberung durch Bern (1056-1536)
Bevölkerung und Siedlung
Autorin/Autor:
Bernard Andenmatten
Übersetzung:
Elmar Meier
Das enge Netz an Burgen, das die Waadt im 12. Jahrhundert überzog, macht den Anschein einer intensivierten Siedlungstätigkeit. Für eine tatsächliche Erhöhung der Bevölkerungsdichte gibt es jedoch nur spärliche Hinweise, wie zum Beispiel die Erwähnung eines neuen Fleckens in La Sarraz um 1130-1135 oder die erste Stadtanlage von Moudon, die zeitgleich mit dem um 1127 errichteten castrum entstanden sein soll. Ab Anfang des 13. Jahrhunderts nahm die Bevölkerung stark zu, wie die Gründung von Villeneuve 1214 oder die für 1219 auf 8000-9000 geschätzte Einwohnerzahl von Lausanne nahelegen. Mit der Gründung von Saint-Prex 1234 und der Erweiterung des Fleckens Aubonne im gleichen Jahr wuchs sie weiter. In den Zeitraum 1260-1320 fallen viele Neugründungen (Yverdon, La Tour-de-Peilz, Morges) oder Stadterweiterungen, häufig im Uferbereich der Seen. Diese Entwicklung wurde mit der Gründung von Rolle (um 1318-1319) abgeschlossen. Die aussergewöhnliche Städtedichte ist vor allem Ausdruck des erbitterten Konkurrenzkampfs der Herrschaftsträger in dieser unruhigen Zeit. Gescheiterte oder nur teilweise erfolgreiche Siedlungsprojekte (L'Isle 1291, Daillens 1301, Saint-Nicolas de Ver bei Rolle vor 1321) zeigen, dass für zahlreiche Städtegründungen im vorgesehenen Gebiet nicht das erforderliche Bevölkerungspotenzial vorhanden war.
Einige noch nicht vollständig ausgewertete Quellen geben näheren Aufschluss über die demografische Situation im 14. und 15. Jahrhundert. Verschiedenen Schätzungen zufolge war die Bevölkerungsdichte Anfang des 14. Jahrhunderts sehr hoch, sogar in den Berggebieten, wie ein aufgegebenes Siedlungsprojekt am Col de la Croix 1292 oder Rodungen im Vallée des Ormonts beweisen. Nach diesem Höchststand ging die Bevölkerung wieder zurück, zum Beispiel im Chablais ab dem zweiten Viertel des 14. Jahrhunderts, also noch vor den verheerenden Pestepidemien. Die grosse Pest, die sich rhoneaufwärts ausbreitete, ist in Genf im Spätsommer 1348 belegt, in Lausanne im November, in Vevey und Moudon im Winter 1349. Ein Drittel des Domkapitels Lausanne (rund ein Dutzend Chorherren) erlag der hochansteckenden Krankheit. Die zweite, kaum weniger schlimme Pestwelle im Sommer 1360 bremste die Bevölkerungsentwicklung für lange Zeit. Die Bevölkerungsdichte von Palézieux schrumpfte vermutlich zwischen 1337 und 1416 von ca. 63 auf 43 Einwohner pro km2. 1368 betrug die Gesamtbevölkerung der savoyischen Kastlaneien im Waadtland schätzungsweise 40'000-50'000 Einwohner, wobei von fünf Personen pro Feuerstätte ausgegangen wird.
Lange waren die Migrationsbewegungen in quantitativer Hinsicht von eher geringer Bedeutung. Waadtländer Adlige wanderten nach England aus, wo sie vor allem im Dienst König Heinrichs III. standen, und piemontesische Geldverleiher und Beamte aus Savoyen wanderten ein. Ab 1450 zogen der Weinbau im Lavaux und die Rodungen im Jorat saisonale Arbeitskräfte aus dem Piemont (Region Domodossola), später aus dem Faucigny an. Diese wurden allmählich sesshaft und trugen damit zum Wiederanstieg der Bevölkerung im 16. Jahrhundert bei.
Wirtschaft
Autorin/Autor:
Bernard Andenmatten
Übersetzung:
Elmar Meier
Ab dem 12. Jahrhundert ist eine Zunahme der Produktivität anzunehmen. Darauf lassen die auf engem Raum gegründeten neuen Klöster schliessen, deren Gemeinschaften von den landwirtschaftlichen Überschüssen leben konnten. Das System der von Laienbrüdern bewirtschafteten Grangien erreichte seinen Höhepunkt zwischen Ende des 12. und Mitte des 13. Jahrhunderts, insbesondere bei den Zisterziensern: Montheron besass neun, Hautcrêt sieben und Bonmont fünf Grangien. Die Rodungen hielten sich in Grenzen, da die Mönche bestehendes Kulturland übernahmen. Zisterzienser und Prämonstratenser trugen jedoch massgeblich zur Anlegung der Weinberge im Lavaux bei. Die Eigenwirtschaft endete im 14. Jahrhundert mit der Verpachtung der Grangien an Lehenbauern. Manche Abteien standen teilweise wegen des zunehmenden Mangels an nicht entlöhnten Arbeitskräften (Konversen) kurz vor dem Ruin, wie 1324 das Kloster Lac de Joux. Doch betrafen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten auch weltliche Herrschaften, wie das Beispiel der herrschaftlichen Domäne von Palézieux zeigt, die zur selben Zeit aufgeteilt und an Lehenbauern verpachtet wurde. Allerdings wurden viele weltliche und kirchliche Weingüter bis ins ausgehende Mittelalter weiterhin in Eigenwirtschaft betrieben.
Die Waadt lag an einer der grossen internationalen Handelsrouten des mittelalterlichen Europa, wie aus den Rechnungsbüchern der wichtigen Zollorte Villeneuve und Les Clées hervorgeht. Welchen Einfluss dies auf die örtlichen Wirtschaftsbeziehungen hatte, bleibt noch zu untersuchen. Überhaupt beschränken sich die Kenntnisse über den Handel hauptsächlich auf dessen rechtlichen Aspekt, der sich aus den entsprechenden Artikeln der Freiheitsbriefe erschliesst. Der Umlauf von Goldmünzen (Gulden) ist bereits 1314-1320 belegt. Das relativ weit entwickelte Kreditgeschäft wurde nicht nur von piemontesischen Geldverleihern (aus Asti) betrieben, sondern auch von kirchlichen Institutionen (Hautcrêt) und Privatpersonen.
Adlige, Bürger und Leibeigene
Autorin/Autor:
Bernard Andenmatten
Übersetzung:
Elmar Meier
Bis anhin richtete sich das Forschungsinteresse eher auf die rechtliche Stellung der Bewohner der Waadt als auf die sozialen Gegensätze. Es gibt jedoch Anzeichen dafür, dass im 14. Jahrhundert die bestehenden Machtverhältnisse infrage gestellt wurden: die Lausanner Revolte 1313, die antiaristokratischen Ausschreitungen in Crassier 1320, die Rebellion der Bürger von Avenches 1350. Proteste regten sich auch, nachdem die Waadt 1359 wieder als Apanage an den älteren Zweig der Grafen von Savoyen gefallen war. Sie zogen 1362 die Entsendung von Kriegsknechten nach Les Clées und Payerne nach sich. 1420 kam es in Payerne zu einem Aufstand.
Am meisten weiss man über die aristokratischen Eliten. Um 1100 wurden einige Vertreter der grössten Familien als senior oder princeps bezeichnet, doch äusserte sich die höhere gesellschaftliche Stellung meist in der Herrscherrolle, mit der sich häufig die Bezeichnung "Ritter" verband. 1208 ist erstmals der Titel "Junker" für einen noch nicht zum Ritter geschlagenen Adelsspross belegt, was auf die Erblichkeit des Adelsstatus hinweist. Im 13. Jahrhundert waren Adlige in der Regel vom Klafterzins (toisé, Zins auf Hofstätten) befreit, verloren aber 1340 dieses Privileg. Abgesehen von einer vagen Tendenz zum Erstgeborenenrecht im 15. Jahrhundert gab es kein eigentliches Adelsrecht. Um 1400 kamen die an Notabeln ausgestellten Adelsbriefe auf (Cerjat) und die Adelsschicht begann sich zu erneuern. Mehrere wichtige Geschlechter wie die von Grandson, de Cossonay oder von Montagny erloschen. Dagegen kamen einheimische oder aus anderen Regionen Savoyens stammende Familien (Champion, Bouvier, Russin) von vergleichsweise bescheidener Herkunft, die in Militär und Verwaltung zu Wohlstand gelangt waren, durch Kauf oder Heirat in den Besitz bedeutender Herrschaften, so zum Beispiel die de Colombier in Vufflens-le-Château.
Die ab dem 12. Jahrhundert erwähnten Stadtbewohner wurden in Lausanne als citoyens und in den Sitzen der Kastlaneien als bourgeois bezeichnet. Sie genossen dort Freiheiten, d.h. rechtliche Privilegien, mit denen sie sich von den Leibeigenen auf dem Land abhoben. Letztere, auch Zinspflichtige genannt, bildeten die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung. Ab 1300 konnten sich einige von ihnen loskaufen. Im ausgehenden Mittelalter gab es aber immer noch grosse Gebiete, in denen die Leibeigenschaft weiterbestand, insbesondere in einigen geistlichen Herrschaften (bischöfliche Besitzungen, Domkapitel, Klöster Montheron, Lac de Joux und Romainmôtier), aber auch in weltlichen (Vallée des Ormonts).
Vom 14. Jahrhundert an nahm die soziale Ausgrenzung zuweilen gravierende Formen an. 1321 betraf sie die Leprakranken, denen vorgeworfen wurde, sie hätten die Brunnen vergiftet. Während der Pest von 1348-1349 wurden die Juden im Chablais dessen bezichtigt und ermordet. Diese hatten sich im Gefolge der Savoyer ab dem 13. Jahrhundert und dann vor allem nach der Vertreibung aus dem Königreich Frankreich in der Waadt niedergelassen. Einige jüdische Gemeinden bildeten sich neu (1408 in Lausanne), verschwanden jedoch um 1437. Die Ausgrenzung verlagerte sich danach auf Anschuldigungen wegen Hexerei. In zahlreichen Hexenprozessen spielten die dominikanischen Inquisitoren von Lausanne bis zur Reformation eine aktive Rolle.
Religiöses Leben
Autorin/Autor:
Bernard Andenmatten
Übersetzung:
Elmar Meier
Der grösste Teil des Waadtlands gehörte zur Diözese Lausanne, das westliche Genferseegebiet zur Diözese Genf und das Chablais zur Diözese Sitten. Die Bischöfe von Lausanne sind vor allem für ihre weltliche Politik bekannt. Manche traten aber auch durch ihre Spiritualität hervor, so Amadeus (1145-1159), Zisterziensermönch und Verfasser von Marienhomilien, oder Bonifatius (1231-1239), ein intellektueller Reformbischof, den die ablehnende Haltung des Klerus und der Bevölkerung zum Rücktritt zwang. Die Marienverehrung und die Wallfahrt zur Kathedrale von Lausanne, die im 13. Jahrhundert aufkamen, gewannen regionale Bedeutung und blieben bis ins 16. Jahrhundert lebendig. Davon zeugt auch die Beliebtheit der grands pardons (religiöse Feste).
Im 12. Jahrhundert ist der grosse Ordensklerus am besten dokumentiert, auch wenn sich seine pastorale Funktion schwer fassen lässt. Erst mit dem Pfarreiverzeichnis von 1228, das im Lausanner Chartular enthalten ist, wird die geistliche Betreuung greifbar. Dem weltlichen Klerus erwuchs durch die höchst erfolgreichen Bettelorden Konkurrenz: Dominikaner liessen sich 1234 in Lausanne nieder, Franziskaner 1258 in Lausanne, 1289/1298 in Grandson und 1295/1296 in Nyon, Augustiner Eremiten um 1300 kurzzeitig in Vevey. Einige Stiftshäuser, die oft den Kongregationen von Saint-Maurice d'Agaune oder vom Grossen St. Bernhard gehörten, wurden auch für Spitalzwecke genutzt. Diesen zahlreichen Niederlassungen von Männerorden standen nur wenige Frauenklöster gegenüber: in Rueyres (Chardonne) im 12. Jahrhundert und in Lausanne (ab 1267 Zisterzienserinnen von Bellevaux, 1290-1331 Dominikanerinnen von Chissiez). 1422/1424 liessen sich Klarissen-Colettinnen in Vevey nieder, 1426/1430 in Orbe.
Über das religiöse Leben der Laien ist wenig bekannt, obwohl im 14. Jahrhundert Beginen belegt sind, vor allem in Lausanne, aber auch in Avenches, Yverdon und Moudon. In Orbe, Vevey, Yverdon, Avenches und in der Umgebung von Lausanne (Vidy, Jorat) lebten auch Reklusen, hauptsächlich Frauen. Diese besonderen religiösen Lebensformen werden im 15. Jahrhundert nicht mehr erwähnt. Von der Volksfrömmigkeit dagegen zeugen die zahllosen Jahrzeitstiftungen und Beitritte zu den Bruderschaften, die bis zur Reformation weit verbreitet waren.
Kultur und Bildung
Autorin/Autor:
Bernard Andenmatten
Übersetzung:
Elmar Meier
Die massive Zunahme des Schriftgebrauchs im 13. Jahrhundert beschränkte sich auf Verwaltungsakten, die bis ins 16. Jahrhundert auf Lateinisch verfasst wurden. Spuren eines kulturellen und intellektuellen Lebens sind ausserhalb des kirchlichen Kontextes kaum anzutreffen. Vor allem in der Kathedrale von Lausanne und den Bettelklöstern finden sich Hinweise auf akademische Laufbahnen und auf Manuskripte, die fast ausnahmslos verschollen sind. Das einzige literarische Werk aus dieser Zeit, die Dichtungen Ottos III. von Grandson, hat keine regionalen Wurzeln. Zu einer kleinen gebildeten Elite gehörten einige Autoren wie Jean Bagnyon, Jacques de Bugnin (Congé pris du siècle séculier 1480) oder der Kartäuser Pierre de Dompierre, der letzte Prior von La Lance (1510-1538), der in seiner Jugend Gedichte und eine Grammatik schrieb. Am Hof des gelehrten Bischofs Aymon de Montfalcon (1491-1517), der selber dichtete, blühte das kulturelle Leben auf und verlieh damit der vorreformatorischen Waadt für kurze Zeit ein humanistisches Gepräge.
Eine Seite aus Le congié pris du siècle séculier von Jacques de Bugnin in der von Michel le Noir in Paris gedruckten Ausgabe, um 1510 (Bibliothèque nationale de France, Paris, Rés-YE-802, Fol. 1v).
[…]
Im 14. Jahrhundert bildete sich auf Betreiben der kommunalen Behörden, die wohl eher Berufskenntnisse als eine Gelehrtenkultur fördern wollten, in den verschiedenen Flecken ein dichtes Netz von Elementarschulen. Im 15. Jahrhundert überstieg die Nachfrage nach Schulbildung allmählich das örtliche Angebot, sodass Lehrer aus der Freigrafschaft Burgund herangezogen wurden.
Unter Berner Herrschaft (1536-1798)
Bevölkerung und Siedlung
Autorin/Autor:
Danièle Tosato-Rigo
Übersetzung:
Elmar Meier
Gemäss den beiden Volkszählungen, welche die Berner Obrigkeit durchführte, um die Telle zu erheben (1550) und den Bestand der einsatzfähigen Soldaten zu ermitteln (1558-1559), lebten im 16. Jahrhundert zwischen 53'000 und 66'000 Personen in der Waadt. Für das 18. Jahrhundert liefern die Erhebungen von 1764 und 1798 genauere Zahlen. Sie zeigen, dass die Bevölkerung von Mitte bis Ende des Jahrhunderts von 120'000 auf 144'000 Personen anstieg, was einer Wachstumsrate von jährlich rund 0,5% entspricht. Die damals verbreitete Annahme eines Bevölkerungsschwunds, die auch der Dekan Jean-Louis Muret in seiner wegweisenden statistischen Schrift Mémoire sur l'état de la population du Pays de Vaud (1766) vertrat, ist damit widerlegt.
Während Taufen und Heiraten bereits ab Ende des 16. Jahrhunderts erfasst wurden, bestehen erst seit 1728 Sterberegister für alle Kirchgemeinden. Entsprechend lückenhaft sind die Kenntnisse über den Einfluss der grossen Epidemien auf die Bevölkerungsentwicklung. Eine der verheerendsten Pestwellen, jene von 1611-1614, soll in Vevey 1500 Tote gefordert haben, in Lausanne 2000 und im Pays-d'Enhaut 2500. Auch nach dem Verschwinden der Pest Mitte des 17. Jahrhunderts blieben Infektionskrankheiten die hauptsächliche Todesursache.
Im 18. Jahrhundert verteilte sich die Bevölkerung fast gleichmässig auf das Hinterland (60%) und das Genferseegebiet. Einige voralpine Streusiedlungen wie Château-d'Œx oder Gryon hatten mehr Einwohner als viele Städte im Flachland. In der Volkszählung vom Mai 1798 lag Lausanne mit 9021 Einwohnern an erster Stelle, gefolgt von Vevey (3268), Yverdon (2484) und Morges (2145). Payerne, Nyon, Orbe, Moudon, Aigle, Aubonne und Rolle zählten zwischen 1000 und 2000 Einwohner, Avenches, Grandson und Villeneuve zwischen 800 und 900. Von 382 erfassten Gemeinden hatten 321 weniger als 500 Einwohner, 161 weniger als 200.
Im Zeitraum 1764-1798, in dem die Bevölkerung vor allem auf dem Land zunahm, verzeichneten nur zwei der grössten Waadtländer Städte ein Wachstum: In Lausanne stieg die Einwohnerzahl von 7191 auf 9021 (+25%), in Nyon von 1624 auf 1934 (+19%). In mehreren Städten im Genferseegebiet veränderte die Zuwanderung das Verhältnis zwischen Einheimischen und Auswärtigen massiv. 1764 waren zum Beispiel in Vevey weniger als die Hälfte der Einwohner Waadtländer, während die andere Hälfte aus Frankreich, Bern oder Neuenburg stammte. Hugenottische Flüchtlinge reisten zu Tausenden durch, aber nur wenige konnten bleiben, meistens als Ewige Einwohner, selten als Bürger (Protestantische Glaubensflüchtlinge).
Die Abwanderung war noch stärker als die Zuwanderung. Aufgrund der Erhebung von 1764, welche die in den Vorjahren weggezogenen Personen erfasste, lebten 10% der Männer und rund 6% der Frauen ausserhalb der Waadt. Dabei war die militärische Auswanderung weniger bedeutend als die zivile Auswanderung von Gesinde, Angestellten, Kaufleuten, Lehrern und Gouvernanten.
Wirtschaft und Gesellschaft
Autorin/Autor:
Danièle Tosato-Rigo
Übersetzung:
Elmar Meier
Ausschnitt aus der südorientierten Karte des Berner Territoriums. Kolorierter Kupferstich von Thomas Schöpf, 1578 (Zentralbibliothek Zürich, Abteilung Karten und Panoramen).
[…]
Wichtigster Erwerbszweig war die meist im Dreizelgensystem organisierte Landwirtschaft. An den Hängen des Genferseeufers wurde im grossen Stil Weinbau betrieben, wodurch sich das Waadtland im 18. Jahrhundert zum bedeutendsten Weinanbaugebiet der Schweiz entwickelte. In einigen Gegenden wurde Anfang des 18. Jahrhunderts der Anbau von Kunstgräsern (Esparsette) und der Kartoffel eingeführt, die sich vor allem nach den Missernten der 1770er Jahre ausbreitete. Im Voralpenraum und im Jura stellte man schon früh auf Viehwirtschaft um. Die wahrscheinlich im 15. Jahrhundert einsetzende Produktion von Greyerzerkäse erreichte im 18. Jahrhundert einen Höhepunkt.
Die Eisenverarbeitung, die im Jura eine lange Tradition hatte, gelangte im Dreissigjährigen Krieg (1618-1648) zur Blüte. Der Abzug des ausländischen Kapitals, dem sie ihren Aufschwung verdankte, bremste ihre Entwicklung. Dasselbe gilt für den Entreroches-Kanal und die Salinen von Bex, die zunächst in Privatbesitz waren und 1685 an Bern gingen. Gleichwohl entstand im Jura in der Gegend des Vallée de Joux, von Vallorbe und Sainte-Croix ein Industriegebiet, in dem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Uhrenbranche Einzug hielt. Hingegen gelang es nicht, die Textilindustrie zu etablieren. Dies lag weniger an der fehlenden Unterstützung durch die Berner Obrigkeit, wie lange behauptet wurde, als vielmehr an den ungünstigen Voraussetzungen für die Seidenraupenzucht im Waadtland und an den fehlenden Absatzmöglichkeiten. Eine industrielle Revolution gab es in der Waadt nicht, ausser vielleicht im Gerbereigewerbe. Jüngere Forschungen haben jedoch eine ausgeprägte gewerbliche Entwicklung nachgewiesen. Davon zeugen die starke Zunahme und Spezialisierung der Berufe (im 18. Jh. in Lausanne 200) sowie der Aufschwung der Messen, deren Zahl in Städten und Dörfern bis 1781 auf rund 50 angestiegen war. Zeitgleich mit dem aufblühenden Gewerbe entstand im 18. Jahrhundert eine Konsumgesellschaft, die auch auf dem Land die neuen Luxusprodukte wie Fayencen, Glas sowie Seiden- und Baumwollstoffe nachfragte. Die Gold- und Silberschmiedekunst erreichte ihren Höhepunkt, und das Porzellan von Nyon wurde berühmt. Als sich 1736 der Verleger Marc-Michel Bousquet in Lausanne niederliess, begann eine kurze Blütezeit des Buchdrucks, die bis in die 1780er Jahre dauerte.
Aufgrund ihrer Lage an einer der grossen internationalen Handelsrouten, auf denen der Warenverkehr im 18. Jahrhundert zunahm, verfügte die Waadt gegen Ende des Ancien Régime über eines der besten Strassennetze Europas. Neben einem intensiven Binnenhandel florierten die von Ferggern (z.B. Familien Blanchenay, Mandrot, Muret) abgewickelten Transitgeschäfte. Zwei Drittel der Waren wurden über den Zoll von Nyon eingeführt, nachdem der Zoll von Jougne ab dem 17. Jahrhundert an Bedeutung verloren hatte. Andere Familien investierten in den internationalen Handel oder wandten sich dem Finanzsektor zu, wie die d'Illens, Roguin, van Berchem oder Francillon.
Die wirtschaftliche Bedeutung der fremden Dienste ist noch nicht hinreichend geklärt. Nicht nur der Adel strebte nach militärischen Führungsfunktionen. Von den im 18. Jahrhundert erfassten rund 400 waadtländischen Offizieren, die vorwiegend im Dienst Frankreichs, Hollands und Piemont-Sardiniens standen, stammte die Hälfte aus adligen Familien mit zum Teil grosser militärischer Tradition (von Goumoëns, Constant de Rebecque oder de Chandieu), die andere Hälfte aus Bürgerfamilien.
Die grosse Mehrheit der Bevölkerung waren Bauern, die im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts endgültig von der Leibeigenschaft befreit wurden und sich in ihrem Rechtsstatus stark unterschieden. Kleinstbesitz (bis 5 ha) war die Regel. Die wenigen Vollbauern waren häufiger Lehennehmer als Eigentümer. Im 17.-18. Jahrhundert stieg die Zahl der Taglöhner. Durch Einhegungen, die in den obrigkeitlichen Mandaten von 1591, 1716 und 1771 angeordnet wurden, verloren sie ausserdem vielerorts das Trattrecht. Während im Alpenraum der Zehnt und die übrigen Abgaben praktisch aufgehoben waren, belasteten sie die Bauern in den Landvogteien Moudon, Orbe-Echallens und in der zur Landvogtei Romainmôtier gehörenden Herrschaft La Sarraz bis Anfang des 19. Jahrhunderts schwer. Erst in der Mediation wurde mit dem Gesetz vom 31. Mai 1804 der Auskauf der Feudalrechte geregelt.
Wie auf dem Land nahm auch in den Städten die soziale Ungleichheit im 17. Jahrhundert zu, was mit den steigenden Gebühren für die Aufnahme in die Bürgerschaft zusammenhing. Die Hintersassen, ohne politische Rechte, bildeten in der Folge die Mehrheit. 1764 machten sie in Nyon und Morges zwei Drittel der Bevölkerung aus. Auch das Gesinde erfuhr einen beträchtlichen Zuwachs: 1764 arbeiteten in Nyon 28% der erwerbstätigen Einwohner als Dienstboten.
Der Anteil der Armen lag in den Städten bei durchschnittlich 20%. Während Bürger, seltener auch Hintersassen, Unterstützung aus der Armenkasse erhielten, wurden Nichtansässige von den Spitälern nur für ein bis zwei Tage (sogenannte passade) versorgt und danach weggeschickt. 1703-1811 beherbergte und verköstigte das Lausanner Spital 100'000 Passanten.
Religiöses Leben
Autorin/Autor:
Danièle Tosato-Rigo
Übersetzung:
Elmar Meier
Das reformatorische Gedankengut verbreitete sich in der Waadt erst, als Bern nach der Lausanner Disputation vom Oktober 1536 den neuen Glauben einführte. Nur etwa die Hälfte der katholischen Geistlichen konvertierte, und von diesen übernahmen nur wenige ein Pfarramt. Rund 70 gingen nach Freiburg ins Exil. Viele von denen, die infolge ihres Glaubenswechsels bleiben durften und Anspruch auf eine Pension hatten, schlossen sich dem Widerstand gegen die Reformation an. Diese setzte sich erst nach einigen Generationen durch. In den mit Freiburg verwalteten gemeinen Herrschaften Orbe-Echallens und Grandson lebten Reformierte und Katholiken nebeneinander, bis in den meisten Gemeinden eine Mehrheit für den neuen Glauben stimmte. Die letzte Abstimmung (sogenanntes Plus) fand 1619 in Poliez-le-Grand statt. Wo die katholische Konfession sich halten konnte, in Echallens und einem Dutzend Dörfer der Kastlanei, wurde die Kirche gemeinsam genutzt (Simultaneum). Von Bern und Freiburg erlassene Ordnungen (1532, 1725) bildeten einen gesetzlichen Rahmen für das religiöse Zusammenleben.
Die religiösen Praktiken sind quellenmässig kaum fassbar, da Bern sie in seinem Westschweizer Untertanengebiet erst spät regelte, mit den Kirchenordnungen von 1758, die kaum umgesetzt wurden, und jenen von 1773. Die Waadt war offenbar ein fruchtbarer Boden für heterodoxe Bewegungen. Arminianismus und Sozianismus wurden im sogenannten Assoziationseid bekämpft, den Bern 1699 den Pfarrern abverlangte. Der Pietismus entwickelte sich Anfang des 18. Jahrhunderts vor allem bei Laien und mit Vevey als Zentrum. Eine von den hugenottischen Flüchtlingen beeinflusste "zweite Reformation" zeichnete sich zur selben Zeit durch eine Rückkehr zu tieferer Frömmigkeit aus. Das von Jean-Frédéric Ostervald vertretene freie Christentum fand in gebildeten Kreisen grossen Anklang. Ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begann sich die Säkularisierung auch in den Eliten zunehmend durchzusetzen.
Bildung und Kultur
Autorin/Autor:
Danièle Tosato-Rigo
Übersetzung:
Elmar Meier
Die sich entfaltende Schriftkultur und die zunehmende religiöse Betreuung der Bevölkerung im 16. und 17. Jahrhundert waren die wichtigsten Triebkräfte der Entwicklung des Elementar- und Sekundarschulwesens, für das die Gemeinden aufkamen, und der von der Berner Obrigkeit unterstützten höheren Bildung. 1801 war die Zahl der Elementarschulen, die mit der obrigkeitlichen Schulordnung von 1676 obligatorisch geworden waren, auf 534 angewachsen. Elf Städte verfügten damals über ein Kollegium: Lausanne, Aubonne, Avenches, Morges, Moudon, Nyon, Orbe, Payerne, Rolle, Vevey und Yverdon.
Von 1537 bis zu den ersten Akademiegesetzen 1547 nahm die Akademie Lausanne allmählich Gestalt an. Als erste französischsprachige reformierte Hohe Schule Europas, die bis zur Akademiereform 1616 von der humanistischen Pädagogik entscheidend beeinflusst war, zog sie anfänglich namhafte Professoren an, darunter Konrad Gessner (1516-1565), Theodor Beza und Celio Secondo Curione. Die Verbannung von Pierre Viret löste 1559 eine Krise aus, während der die Akademie ihre internationale Ausstrahlung weitgehend verlor. Erst 1711 erlangte sie diese mit der Berufung von Jean Barbeyrac auf den neu geschaffenen Lehrstuhl für Naturrecht für kurze Zeit zurück.
Die Aufklärung fand in der Waadt grossen Widerhall. Intellektuelle prägten die ersten Jahrzehnte des 18. Jahrhunderts, vornehmlich Pfarrer und Magistraten, die Aufklärung und Offenbarungsreligion in Einklang zu bringen versuchten, darunter Jean-Pierre de Crousaz, Abraham Ruchat, Charles Guillaume Loys de Bochat, Gabriel Seigneux de Correvon und Jean Philippe Loys de Cheseaux. Einige von ihnen unterstützten das pädagogisch völlig neuartige Projekt der Lausanner Armenschulen (1726) und schrieben Beiträge für die aufkommende literarische Presse (Bibliothèque italique und Journal helvétique).
Ab den 1740er Jahren entwickelte sich eine von den Freimaurern eingeführte neue Form der Geselligkeit mit gemeinnütziger Ausrichtung, in der sich gelehrter Austausch mit sozialen Kontakten verband. 1761 entstanden in Lausanne, Vevey, Yverdon, Nyon und Payerne Zweige der Berner Ökonomischen Gesellschaft, der aufklärerisch gesinnte Waadtländer angehörten. Es folgten 1762 die Moralische Gesellschaft, 1772 die Literarische Gesellschaft und 1783 die Société des sciences physiques de Lausanne. Öffentliche Bibliotheken wurden 1763 in Yverdon, 1767 in Morges und 1780 in Lausanne eingerichtet. Frauen aus dem Adel und Grossbürgertum wie Angélique de Charrière-Bavois, Catherine de Charrière oder Marie Blaquière führten Salons. Diese waren besonders bei Ausländern beliebt, die unter anderem wegen des angesehenen Arztes Auguste Tissot und der Landschaft des Genferseegebiets in die Waadt kamen. Der Aufenthalt von Literaten wie Voltaire oder Edward Gibbon trug zur kulturellen Blüte bei. Ab 1790 empfing Germaine de Staël Intellektuelle in Coppet. Das ambitiöseste verlegerische Vorhaben, das die waadtländische Teilhabe an der reformierten Aufklärung veranschaulicht, war die von Fortunato Bartolomeo de Felice herausgegebene Encyclopédie d'Yverdon.
Politische Geschichte vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Der Kanton Léman in der Helvetischen Republik (1798-1802)
Autorin/Autor:
Danièle Tosato-Rigo
Übersetzung:
Ernst Grell
Am Vorabend der Helvetischen Revolution standen in der Waadt Verteidiger des Status quo Befürwortern von Reformen gegenüber. Nur ganz wenige machten sich für die Loslösung von Bern stark. Ermutigt durch die Stationierung einer Division von 10'000 Mann der französischen Italienarmee im Pays de Gex, rief eine Handvoll Patrioten in Lausanne und Vevey in der Nacht vom 24. Januar 1798 die Lemanische Republik aus. Das kurzlebige Gebilde stiess weder bei den waadtländischen Eliten noch bei der Landbevölkerung auf Sympathien. Erstere befürchteten, ein Satellit von Frankreich zu werden, Letztere wollten von einer Revolution nichts wissen. So wurde das Ende der Berner Herrschaft nicht auf Druck einer lokalen Opposition, sondern durch den Franzoseneinfall herbeigeführt. Auslöser des französischen Vordringens war der Zwischenfall in Thierrens vom 25. Januar, als zwei französische Husaren ermordet wurden, die einen Adjutanten auf dessen Mission zum Berner General Franz Rudolf von Weiss begleiteten. Der Franzoseneinfall verunmöglichte die Rückkehr zur alten Ordnung, umso mehr, als sich Bern zur Verteidigung seines Territoriums auf sein Deutschschweizer Gebiet zurückzog.
Die Waadtländer übernahmen am 15. Februar 1798 als erste die von den französischen Generälen aufoktroyierte helvetische Verfassung, während die helvetischen Zentralbehörden erst am 12. April mit ihrer Arbeit begannen. Mit Hilfe französischer Truppen wurde der bewaffnete Widerstand gegen die Revolution im Jura und im Pays-d'Enhaut Anfang März 1798 niedergeschlagen. Der neue Kanton Léman umfasste die von Bern abgetrennte Waadt mit Ausnahme der Distrikte Avenches und Payerne, die zum Kanton Freiburg kamen. Obschon der Kanton von Kampfhandlungen verschont blieb, musste er eine hohe Kriegssteuer (sogenannte Ménard-Anleihe) leisten. Zudem wurde die Waadt während des Zweiten Koalitionskriegs von durchziehenden Truppen auf dem Weg zu den Alpenpässen heimgesucht. Darüber hinaus hatten die Waadtländer als Vorreiter der Revolution der französischen Armee Freiwilligenkontingente zu stellen, die sich an den Feldzügen gegen Bern, die Innerschweizer Kantone (1798) und das Wallis (1798, 1799) beteiligten. Dabei verhielten sich die französisch-waadtländischen Truppen äusserst barbarisch.
Die rasche Eingliederung der politischen Eliten und der städtischen Wirtschaftsführer in die neue Ordnung spiegelte sich in der gewichtigen Vertretung von Waadtländern in den höchsten Gremien der Helvetischen Republik. Sie umfasste Persönlichkeiten wie Frédéric-César de La Harpe, Pierre-Maurice Glayre, Philippe Abraham Louis und Louis Secretan, Jules Muret sowie Louis François Bégoz. Allerdings teilte die Bevölkerung diese Unterstützung für den Einheitsstaat, der für die politische Existenz des neuen Kantons unabdingbar schien, nicht immer, da sie fürchtete, in den Krieg hineingezogen zu werden. Die Rückkehr der Föderalisten in die helvetische Regierung kostete 1800 mehreren Waadtländern ihren Sitz. Im Juni 1801 erhielt eine Petition, in der ein Dutzend Notabeln des Kantons Léman die Rückkehr zum Berner Regime forderten, zwischen 17'000 und 26'000 Unterschriften. Die Instabilität kulminierte im Mai 1802 im durch die rückwirkende Erhebung von Feudalsteuern ausgelösten Aufstand der Bourla-Papey. Auf den Zusammenbruch der helvetischen Regierung und ihre Flucht nach Lausanne am 20. September 1802 folgte mit der Besetzung von Orbe durch Föderalisten am 30. September eine letzte bewaffnete Widerstandsaktion gegen die Revolution, bevor Napoleon Bonaparte vermittelnd eingriff.
Der Kanton Waadt von 1803 bis zur Gegenwart
Die Anfänge eines umstrittenen Kantons
Autorin/Autor:
Olivier Meuwly
Übersetzung:
Ernst Grell
Im Februar 1803 trat die Mediationsakte in Kraft, die in Kapitel 19 die Verfassung des Kantons Waadt enthielt. Von Beginn weg strebten Jules Muret, Henri Monod (1753-1833) und Auguste Pidou im Kleinen Rat eine Art politische, militärische und wirtschaftliche Autarkie an. Diese führenden Persönlichkeiten der Waadtländer Regierung positionierten den Kanton gleichzeitig als treues Mitglied der Eidgenossenschaft und als Staat, der sich durchaus ohne Bern zu verwalten wusste. Das trug ihnen bald die Bezeichnung "Väter des Vaterlands" ein. Ihre vorsichtige Politik liess sich umsetzen, weil die Wähler, die für ihr Wahlrecht einen relativ bescheidenen Zensus erfüllen mussten, gemässigte Vertreter in den Grossen Rat (Legislative) schickten.
Der Fall Napoleons I. 1814 brachte der Waadt unruhige Zeiten. Schliesslich war es der gestürzte Kaiser gewesen, der die Unabhängigkeit der Waadt durchgesetzt hatte. Zudem spitzten die Versuche Berns, sein ehemaliges Untertanengebiet zurückzugewinnen, die Lage zu. Die Waadtländer verhandelten aber geschickt und bewahrten ihre Souveränität nach einer Intervention des Zaren Alexander I., eines ehemaligen Schülers von de La Harpe. Die Freiheit hatte jedoch ihren Preis: Die Waadtländer mussten eine Verfassung (1814 vom Grossen Rat verabschiedet) akzeptieren, die einen höheren Zensus und ein Kooptationssystem beinhaltete. Mit Letzterem sicherte sich der Grosse Rat eine Anzahl "zuverlässiger" Abgeordneter.
Die nunmehr Staatsrat genannte Regierung unter der Führung von Muret bemühte sich darum, die Grossmächte nicht zu reizen und sich gegenüber den Miteidgenossen loyal zu verhalten. Doch in den Augen der neuen städtischen Eliten erwies sich Murets Politik als zusehends autoritärer. Von dieser Feindseligkeit profitierte in den 1820er Jahren die liberale Bewegung. Sie gewann im Kanton an Boden, während sich die Proteste gegen die als arrogant und unnachgiebig empfundene Haltung der Behörden häuften. Vereint um den 1824 gegründeten Nouvelliste vaudois, kämpfte die von Charles Monnard angeführte junge Garde der Liberalen für einen tief greifenden Wandel der Institutionen und ein kompromissloses Bekenntnis zur Pressefreiheit und zum Öffentlichkeitsprinzip der Debatten.
Die liberale Revolution
Autorin/Autor:
Olivier Meuwly
Übersetzung:
Ernst Grell
Unter Druck bot der Staatsrat im Frühjahr 1830 Hand zu einer Verfassungsrevision, die in Wirklichkeit auf eine dauerhafte Festschreibung der Ordnung von 1814 abzielte. Trotz der verbreiteten Unzufriedenheit sperrte sich die Regierung gegen Veränderungen. Die Pariser Julirevolution von 1830 wirkte für die liberale Bewegung wie ein Fanal: Am 18. Dezember 1830 wurde der Staatsrat abgesetzt und damit Murets Regierung gestürzt. Die neue Verfassung wurde im Juni 1831 vom Volk angenommen und schrieb das allgemeine Stimm- und Wahlrecht (nur für Männer) fest. Die liberale Regierung zeichnete sich unter anderem durch ihr Engagement für das Schulwesen aus, sah sich jedoch bald vom linken Flügel der revolutionären Bewegung bedrängt, deren führende Köpfe sich dem ab ca. 1833-1834 aufkommenden Radikalismus anschlossen.
Versammlungssaal des Verfassungsrats Anfang 1831. Anonyme Grafik, lithografiert von Spengler & Cie. in Lausanne, veröffentlicht im Bon Messager, 1832 (Musée historique de Lausanne).
[…]
Die Radikalen organisierten sich und forderten eine konsequentere Demokratisierung des politischen Systems, da etwa das sich über mehrere Tage erstreckende Wahlprozedere vor allem die weniger bemittelten Wähler benachteiligte. Im Weiteren traten sie für einen Staat ein, der sich entschiedener in die Belange der Wirtschaft einmischen sollte. Mit Hilfe des Nouvelliste vaudois, dessen Kontrolle die Radikalen erlangt hatten, nutzten sie die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit dem liberalen Staatsrat. Allerdings gehörte der Regierung mit Henri Druey auch der Anführer und Theoretiker der Radikalen an. Als der Kanton Luzern die Jesuiten an seine höheren Schulen berief, weigerte sich die liberale Regierung, gegen Luzern Stellung zu beziehen, da sie die kantonale Souveränität respektieren wollte. Diese Weigerung führte zur Lancierung einer Petition, die dank der Unterstützung durch die Association patriotique von Louis-Henri Delarageaz erfolgreich war und die radikale Revolution vom 13. und 14. Februar 1845 auslöste.
Die radikale Regierung und ihre Opposition
Autorin/Autor:
Olivier Meuwly
Übersetzung:
Ernst Grell
Die neue radikale Verfassung wurde am 10. August 1845 angenommen. Sie brachte mit dem Gesetzesreferendum und der Volksinitiative neue Volksrechte. Als sich zahlreiche Pfarrer weigerten, eine Erklärung des Staatsrats von der Kanzel zu verlesen, kam es innerhalb der Waadtländer Landeskirche zur Spaltung. Dissidenten gründeten 1847 die Eglise libre (Evangelische Freikirchen). Innerhalb der Regierungsmehrheit nahmen die Spannungen zu, als Druey 1848 in den Bundesrat gewählt wurde. Während sich die Besiegten von 1845, die Liberalkonservativen, aufrappelten, bröckelte das Lager der Radikalen weiter. Einige hatten genug vom autoritären Stil Delarageaz', der Druey als starken Mann im Kanton abgelöst hatte, und näherten sich den Liberalen an. Andere vom linken Flügel warfen dem Staatsrat vor, die rigide Flüchtlingspolitik des Bundesrats vor allem gegenüber deutschen Liberalen und französischen Republikanern zu dulden, in Kirchenfragen zu unnachgiebig zu sein und seine Steuerversprechen nicht einzuhalten. Darüber hinaus erreichten die Beziehungen zwischen dem Kanton und der Stadt Lausanne einen Tiefpunkt: Nachdem Lausanne mit Freiburg eine gemeinsame Eisenbahnpolitik entworfen hatte, die jener des Staatsrats zuwiderlief, stellte dieser 1857 die Stadt unter Zwangsverwaltung.
1859 brachte die Opposition eine Abstimmung für eine Verfassungsrevision zustande, in der sie aber knapp unterlag. Ein zweiter Versuch führte zum Erfolg, sodass 1861 Liberalkonservative und Linksradikale eine Kantonsverfassung mit einem nunmehr siebenköpfigen Staatsrat ausarbeiteten und Delarageaz und seine Anhänger aus der Regierung verdrängten. Da der neue Staatsrat aber ein Spiegelbild der siegreichen Allianz war, blieb er schwach. Diese Gelegenheit liessen sich Delarageaz' Radikale nicht entgehen. Angeführt von einer neuen Generation um die herausragenden Politiker Victor Ruffy und Louis Ruchonnet, schlossen sie ihre Reihen, boten der langsam auseinander brechenden Gegenseite Paroli und nutzten die 1868 gegründete Zeitung La Revue (Nouvelle Revue de Lausanne) als ihr Sprachrohr. 1866-1892 besetzten sie wieder sämtliche Sitze im Staatsrat.
Spannungen im linken wie im rechten Lager
Autorin/Autor:
Olivier Meuwly
Übersetzung:
Ernst Grell
In den 1870er Jahren formierten sich die Liberalkonservativen neu um die Gazette de Lausanne. Zwar setzten sie nach einem Finanzskandal 1884 eine Totalrevision der Verfassung durch, die Radikalen behaupteten jedoch ihre Mehrheit und nutzten die Revision als Plebiszit für ihre politischen Ziele, etwa für die Einführung einer progressiven Kapitalsteuer. 1885 trat die neue Verfassung in Kraft.
Dank der 1881 gegründeten Association démocratique festigten die Radikalen ihre Vormacht, indem sie die Schlüsselstellen im Kanton mit Getreuen Ruchonnets besetzten. Dennoch sahen sie sich bald mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Die soziale Frage erreichte im Verlauf der 1880er Jahre ein nie gekanntes Ausmass und stellte die Behörden vor grosse Probleme. Bislang hatte der Radikalismus auf die Arbeiterschaft zählen können, die hinter seinen nationalen und liberalen Werten stand. Angesichts der Verwerfungen im wirtschaftlichen und sozialen Leben brach diese Allianz im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts auseinander.
Rückseite der aus Seide gefertigten Fahne der Sektion Vevey des Metallarbeiterverbands, 1917 (Archives cantonales vaudoises, Chavannes-près-Renens, PP 907/548, Depot im Musée cantonal d'archéologie et d'histoire, Lausanne; Fotografie Fibbi-Aeppli, Grandson).
[…]
Unter der Führung des ehemaligen Radikalen Aloys Fauquez, der sich mit seiner Partei überworfen hatte, verselbstständigte sich die Arbeiterbewegung. Nach erneuten Spannungen zwischen den Radikalen und den Liberalkonservativen beschleunigte sich ihr Aufstieg. Als 1891 Antoine Vessaz, einer der mächtigsten Radikalen des Kantons und ein enger Freund Ruchonnets, im Zusammenhang mit einem Eisenbahngeschäft der Korruption bezichtigt wurde, schlugen die Liberalen aus dem Skandal Profit. Ihrer Forderung nach Teilhabe an der politischen Macht mussten die Radikalen nachgeben: Ab 1891 stellten die Liberalen einen der Waadtländer Vertreter in Bundesbern und ab 1892 einen Staatsrat. Die Abmachung kam kurz nach der Gründung der Sozialistischen Arbeiterpartei 1890 zustande. Angesichts der Bedrohlichkeit, die von der neuen Partei ausging, versöhnten sich die Radikalen mit den Liberalkonservativen. Von nun an trugen sie gemeinsam die Regierungsverantwortung.
Die in Lausanne verankerte Arbeiterbewegung vermochte dieses Bündnis nicht zu zerschlagen, da sie unter anderem durch das Majorzwahlsystem benachteiligt wurde. Obwohl sich ab den 1860er Jahren die Streiks häuften, fehlte ihr die Mehrheit für einen Systemwechsel. Auch als revolutionär gesinnte Gewerkschafter 1907 einen Generalstreik ausriefen, änderte sich daran nichts. Vielmehr zwang das Scheitern des Streiks die Waadtländer Sozialdemokraten zu einer Reorganisation mit Paul Golay als treibender Kraft. Diese Ereignisse zeugten von den wachsenden sozialen Spannungen vor dem Ersten Weltkrieg. Nach dem Krieg brachen sie erneut auf. Im Gegensatz zur Entwicklung auf nationaler Ebene erstritt die Linke in der Waadt keine ihrer Stärke entsprechende Beteiligung an der Macht. Hingegen hielt sie, anders als in der Deutschschweiz, den Schaden nach der Abspaltung der Kommunistischen Partei 1921 in Grenzen.
Anfang Oktober 1917 standen die Leute für Rationierungskarten in der unteren Rue Saint-Laurent in Lausanne an. Postkarte nach einer Fotografie von Eugène Würgler (Musée historique de Lausanne).
[…]
Das freisinnige Lager sah sich auch einer Opposition von rechts gegenüber, und zwar einer Ende des 19. Jahrhunderts entstandenen Bewegung unter den Bauern. Während die Bauernvertreter in den eidgenössischen Wahlen von 1919 einen Durchbruch feierten, blieb ihr Erfolg in der Waadt bescheiden. 1921 rief ein dissidenter Radikaler eine Waadtländer Bauernpartei (BGB) ins Leben. Daraufhin hatten die Radikalen Mühe, zu verhindern, dass die Bauern der stärksten Partei im Kanton den Rücken kehrten. Trotzdem überliessen sie den Liberalen, die 1913 die Liberale Partei des Kantons Waadt gegründet hatten, einen zweiten Regierungssitz.
Die Spannungen zwischen Radikalen und Liberalen einerseits und Sozialdemokraten andererseits verschärften sich. Da die städtische Bevölkerung ihre Hoffnungen auf einen gemässigten Sozialismus setzte, erzielte die Sozialdemokratie auf Gemeindeebene Fortschritte. Auch nach der Eindämmung der aufstrebenden bäuerlichen Opposition kehrte im freisinnigen Lager keine Ruhe ein. Obwohl sie die Regierungsverantwortung teilten, lieferten sich die beiden Parteien immer wieder erbitterte Kontroversen, vor allem in Steuerfragen, wie im Fall der 1899 angenommenen Vorlage zur Einführung der Erbschaftssteuer.
Die Zeit der Extreme
Autorin/Autor:
Olivier Meuwly
Übersetzung:
Ernst Grell
Mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 erlebte die Linke in den Städten einen bemerkenswerten Aufschwung, vor allem im 1933-1937 mehrheitlich sozialdemokratisch regierten Lausanne. Obwohl deren Lösungsansätze bei der bürgerlichen Rechten auf wenig Gegenliebe stiessen, bestritt kaum jemand die Notwendigkeit staatlicher Eingriffe. Für die Rechte stellte sich zudem die Frage, wie sie auf die Herausforderungen der Zeit reagieren sollte, ohne wie in anderen Kantonen und insbesondere im Ausland dem Extremismus zu verfallen. Dass die Rechte in Bewegung geraten war, zeigte die 1933 gegründete Ligue vaudoise. Deren Mitglieder machten sich für den Korporativismus stark, lehnten die parlamentarische Demokratie ab und strebten eine grundlegende Änderung des politischen Systems an. Korporatistische Ideen beeinflussten eine Zeit lang auch liberale und einzelne radikale Meinungsführer.
Im Zweiten Weltkrieg sammelten sich die Kommunisten im Parti ouvrier populaire (POP) und verzeichneten bei Kriegsende nicht zuletzt dank der militärischen Siege der Roten Armee bedeutende Erfolge: Der POP kam 1945 in den kantonalen Wahlen auf 42 der 217 Grossratsmandate und eroberte 1946 drei von sieben Sitze der Lausanner Stadtregierung (bis 1949). Sein Höhenflug endete, als die Sowjetunion 1956 im Westen vollends in Ungnade fiel. Der Antikommunismus förderte wie auf nationaler Ebene auch in der Waadt das Zusammengehen der bürgerlichen Parteien mit den gemässigten sozialdemokratischen Kräften. Bereits 1946 traten die Radikalen den Sozialdemokraten einen Sitz im Staatsrat ab, den Arthur Maret errang.
Die Jahre der Hochkonjunktur festigten den politischen Konsens. Nachdem 1960 das Proporzwahlrecht endgültig eingeführt worden war, gipfelte das Streben nach Ausgleich 1962 in der Waadtländer Zauberformel mit drei Radikalen, zwei Sozialdemokraten, einem Liberalen und einem Vertreter der Bauernpartei (BGB). Erst in den 1980er Jahren wurde diese Regierungszusammensetzung wieder infrage gestellt. Als erster Kanton führte die Waadt 1959 das Frauenstimm- und -wahlrecht ein. 1962 gingen 13 von 197 Grossratssitzen an Frauen. Dennoch wurde erst 1997 mit Jacqueline Maurer-Mayor die erste Frau in den Staatsrat gewählt.
Stabilität und Brüche
Autorin/Autor:
Olivier Meuwly
Übersetzung:
Ernst Grell
Während die Sozialdemokratische Partei unter dem Einfluss der aus der 1968-er Bewegung hervorgegangenen Neuen Linken einen härteren Kurs einschlug und sich gegen die Konkurrenz der Grünen behaupten musste, sah die liberal-radikale Rechte die Veränderungen des politischen Systems nicht voraus, in dem sie so lange eine Schlüsselposition eingenommen hatte. Mit mässigem Erfolg rief sie zu einer Reform des Staats auf, dessen Ausgaben je länger desto mehr als zu hoch erachtet wurden. 1994 verloren die Radikalen einen Sitz im Staatsrat an die Grünen.
Als der Kanton in den 1990er Jahren eine schwere wirtschaftliche, finanzielle und politische Krise durchlief, hielt niemand mehr den Vormarsch der Schweizerischen Volkspartei (SVP, bis 1973 BGB) auf. Die SVP politisierte mit lange vernachlässigten, konservativen Werten, wie sie es in Zürich erfolgreich getan hatte. Aufgrund der Schwächung des freisinnigen Lagers beschlossen Radikale und Liberale 2012 den Zusammenschluss ihrer Parteien. In diesem Kontext tauchte Ende des 20. Jahrhunderts die Idee einer Totalrevision der Waadtländer Verfassung auf, die ein Verfassungsrat 1999-2002 umsetzte.
Die neue Verfassung trat am 14. April 2003 zu einem Zeitpunkt in Kraft, als der Kanton mit einem Staatsrat aus je zwei Radikalen und Sozialdemokraten sowie je einem Vertreter der Liberalen, der SVP und der Grünen zur Stabilität zurückgefunden hatte. Seit der Legislatur 2007-2012 dauert die Amtszeit des Staatsratspräsidenten fünf Jahre, also die ganze Legislatur. Ferner gewährt die Verfassung den Ausländern unter bestimmten Voraussetzungen das Stimm- und Wahlrecht auf Gemeindeebene. Die Wahlen von 2012 brachten der Linken mit drei Sitzen für die Sozialdemokraten und einem für die Grünen gegenüber zwei Sitzen für die Radikalen und einem für die Liberalen die Mehrheit in der Regierung. Auch wies der Staatsrat erstmals mehr Frauen als Männer auf.
Entsprechend seinem demografischen Gewicht stellt der Kanton Waadt die drittgrösste Vertretung in den eidgenössischen Räten: 1919 waren es 16 Nationalräte, 2015 18. Die Waadtländer Sozialdemokraten zogen erstmals 1919 in den Nationalrat und 1975 in den Ständerat ein. Seit einigen Jahrzehnten dominieren innerhalb der Waadtländer Vertretung in Bern Parlamentarier aus Lausanne. 1848-1998 war die Waadt immer mit einem radikalen Bundesrat in der Landesregierung vertreten, 2015 wurde mit Guy Parmelin ein Mitglied der SVP Bundesrat. Hatte der Kanton in der Krise der 1990er Jahre auf nationaler Ebene merklich an Einfluss verloren, erlangte er mit der Rückkehr zu politischer, finanzieller und wirtschaftlicher Stabilität neue Stärke. Zur Wiedergewinnung seines Ansehens trug der Aufschwung der ETH Lausanne bei.
Sitze des Kantons Waadt in der Bundesversammlung 1919-2015
Sitze des Kantons Waadt in der Bundesversammlung 1919-2015 - Historische Statistik der Schweiz; Bundesamt für Statistik
Zusammensetzung des Staatsrats im Kanton Waadt 1918-2012
| 1918 | 1930 | 1938 | 1946 | 1958 | 1962 | 1974 | 1986 | 1990 | 1994 | 1998 | 2002 | 2007 | 2012 |
---|
FDP | 5 | 5 | 5 | 4 | 3 | 3 | 3 | 3 | 3 | 2 | 2 | 2 | 2 | 2 |
LP | 2 | 2 | 2 | 2 | 1 | 1 | 1 | 1 | 1 | 1 | 2 | 1 | 1 | 1 |
SP | | | | 1 | 3 | 2 | 2 | 2 | 2 | 2 | 1 | 2 | 2 | 3 |
Grüne | | | | | | | | | | 1 | 1 | 1 | 1 | 1 |
BGB/SVP | | | | | | 1 | 1 | 1 | 1 | 1 | 1 | 1 | 1 | |
Total Sitze | 7 | 7 | 7 | 7 | 7 | 7 | 7 | 7 | 7 | 7 | 7 | 7 | 7 | 7 |
Zusammensetzung des Staatsrats im Kanton Waadt 1918-2012 - Historische Statistik der Schweiz; Bundesamt für Statistik; Staatskanzlei
Zusammensetzung des Grossrats im Kanton Waadt 1917-2012
| 1917 | 1937 | 1945 | 1957 | 1966 | 1974 | 1978 | 1986 | 1990 | 1994 | 1998 | 2002 | 2007 | 2012 |
---|
FDP | 133 | 131 | 100 | 93 | 75 | 70 | 67 | 70 | 71 | 68 | 54 | 44 | 29 | 47a |
LP | 45 | 53 | 36 | 36 | 34 | 34 | 36 | 45 | 42 | 41 | 35 | 31 | 22 | |
CVP | | | | 5 | 7 | 8 | 7 | 5 | 4 | 2 | 3 | 2 | 3 | 4 |
SP | 18 | 21 | 26 | 43 | 49 | 53 | 61 | 52 | 52 | 55 | 46 | 46 | 39 | 41 |
POP | | | 42 | 10 | 16 | 16 | 11 | 3 | 4 | 7 | 12 | 12 | 4 | |
Grüne | | | | | | | 4 | 5 | 12 | 10 | 16 | 21 | 24 | 19 |
BGB/SVP | | 10 | 8 | 14 | 14 | 14 | 14 | 13 | 15 | 17 | 14 | 22 | 26 | 27 |
Andere | 10 | 4 | 5 | 10 | 2 | 5 | | 7 | | | | 2 | 3 | 12 |
Total Sitze | 206 | 219 | 217 | 211 | 197 | 200 | 200 | 200 | 200 | 200 | 180 | 180 | 150 | 150 |
a Wegen der Fusion zwischen Radikalen und Liberalen (beschlossen 2012) sind hier unter FDP die Sitzgewinne beider Parteien zusammen aufgeführt.
Zusammensetzung des Grossrats im Kanton Waadt 1917-2012 - Historische Statistik der Schweiz; Bundesamt für Statistik; Staatskanzlei
Kantonsverwaltung
Autorin/Autor:
Gilbert Coutaz
Übersetzung:
Christoph Badertscher
Zwischen 1803 und 1886 änderte der Kanton im Zug der Verfassungsrevisionen sechsmal das Organisationsgesetz für den Staatsrat. Dabei musste er jedes Mal neue Lösungen und Kompromisse finden, was angesichts der politischen Herausforderungen und äusseren Zwänge keine leichte Aufgabe war. Die Verfassung von 1885 war 1886-2003 in Kraft. Auf ihrer Grundlage wurden im Lauf der Zeit sechs Organisationsgesetze für den Staatsrat verabschiedet. Hinzu kam 1948 die wichtige Verordnung über die Organisation der Departemente.
Marksteine in der Organisation der Exekutive
Autorin/Autor:
Gilbert Coutaz
Übersetzung:
Ernst Grell
Mit der Einführung eines glaubwürdigen Programms für die Verwaltung 1814 wurde ein erstes Etappenziel erreicht. Aber erst 1832 liess sich offen und ohne äusseren Druck über die Organisation der Verwaltung diskutieren. Hatte 1803 noch eine pragmatische Herangehensweise dominiert, erfolgte der Aufbau der Verwaltung 1832 nach Lehrmeinung.
1803 bildeten neun Magistrate, die gleichzeitig im Grossen Rat (Legislative) sassen, den Kleinen Rat (Exekutive). Eine Beschränkung der Amtsdauer gab es nicht. 1814 setzte sich die nun Staatsrat genannte Exekutive aus 13 Mitgliedern des Grossen Rats zusammen. In beiden Fällen handelte es sich um ein Kollegialsystem. In diesem System stand jedem der drei (1803) bzw. vier (1814) Departemente eine Kommission aus mehreren Staatsräten vor. 1831 wurde die Zahl der Staatsräte auf neun reduziert. Sie wurden für sechs Jahre gewählt, wobei die Drittelserneuerung galt und nach wie vor keine Beschränkung der Amtsdauer vorgesehen war. 1832 regelte zum ersten Mal ein Gesetz die kollektive und individuelle Verantwortung des Staatsrats. Die radikale Revolution von 1845 stellte die Strukturen von 1831 nicht auf den Kopf. Der Bruch erfolgte 1862 mit dem Gesetz über die Organisation des Staatsrats, das sieben Staatsräte vorsah und sieben Departemente einführte. Dies zog eine Neuverteilung der Kompetenzen nach sich und erlaubte die Einbindung zusätzlicher Staatsaufgaben.
Das Gesetz von 1886 präzisierte die vorangegangenen Neuerungen, vor allem die Organisation der sieben Departemente. Jeder Staatsrat stand nun gemäss dem Departementalsystem einem Departement vor, das im Gegensatz zu früher ein oder mehrere zentrale Ämter umfasste. 1970 wurde per Gesetz das seit Ende der 1940er Jahre geforderte Fürsorgedepartement eingeführt und das Militärdepartement abgeschafft. Die Verwaltung befand sich in einer Wachstumsphase, weil die Staatstätigkeit auf die Raumplanung, den Städtebau sowie auf den Natur-, Denkmal- und Landschaftsschutz ausgeweitet wurde.
Obwohl die Neuorganisation von 1998 die Verteilung auf sieben Departemente beibehielt, brach sie mit der bisherigen Praxis. Mit Ausnahme des Finanzdepartements erhielten alle Departemente neue Bezeichnungen und neue Aufgabenbereiche. So markierte das 200-Jahr-Jubiläum der Waadtländer Revolution eine Zäsur, deren Tragweite noch nicht erkennbar ist.
Gebietseinteilung
Autorin/Autor:
Gilbert Coutaz
Übersetzung:
Ernst Grell
Als Folge der Kantonsverfassung von 2003 schrieb ein am 30. Mai 2006 verabschiedetes und am 1. September 2006 in Kraft getretenes Gesetz die neue Gebietseinteilung fest. Deren Umsetzung erfolgte schrittweise: Die Wahlkreise wurden im Hinblick auf die Wahlen von 2007 neu festgelegt, die Regierungsstatthalterämter 2008. Die Bezirke wurden 2006 von 19 auf zehn reduziert. Die alte Einteilung in 19 Bezirke ging auf die Berner Vogteien zurück, diejenige in 60 Kreise (Wahl- und Gerichtskreise) auf 1803. Auf Letzteren hatten verwaltungsmässige Unterteilungen wie die Regierungsstatthalterämter gefusst.
Die Finanzkrise der 1990er Jahre zwang zu neuen Formen der Zusammenarbeit, zu Umstrukturierungen im Bereich der Leistungen und zum Überdenken der räumlichen Massstäbe angesichts der individuellen Mobilität und der Informatik. Bis 2000 kamen Gemeindefusionen nur sporadisch vor, doch ab 2007 häuften sie sich, sodass sich zwischen 2007 und 2012 die Zahl der Gemeinden um 52 verringerte. Zu dieser Entwicklung trug die Komplexität der Geschäfte, ein anspruchsvoller Finanzausgleich und nicht zuletzt der Mangel an politischem Nachwuchs bei.
Öffentliche Dienste
Autorin/Autor:
Gilbert Coutaz
Übersetzung:
Ernst Grell
Die Zahl der Ämter in der Kantonsverwaltung nahm langsam, aber kontinuierlich von 28 im Jahr 1886 auf maximal 54 im Jahr 1998 zu. Seither legte man Ämter wieder zusammen und schuf bessere Voraussetzungen für die amtsübergreifende Zusammenarbeit, sodass die Verwaltung 2007 noch 42 Ämter zählte.
1885 befanden sich wie bereits 1803 sämtliche Departemente der Kantonsverwaltung in der Lausanner Cité. In der Periode 1886-1970 verteilte sich die Verwaltung auf verschiedene Lausanner Quartiere mit Zentren in Barre, Riponne und Pontaise. Die ab den 1920er Jahren verfolgte Idee, die gesamte Verwaltung in einigen wenigen Gebäuden unterzubringen, wurde nach dem Scheitern des sogenannten Ilôt-Riponne-Tunnel-Projekts zu Beginn der 1990er Jahre endgültig aufgegeben. Seit 1999 favorisiert die Politik die dezentrale Organisation wie im Fall der Auslagerung von Ämtern nach Moudon und Morges.
Staatsbeamte
Autorin/Autor:
Gilbert Coutaz
Übersetzung:
Ernst Grell
Im April 1803 nahm der Kleine Rat seine Arbeit an der Spitze einer kleinen Zentralverwaltung auf, die aus rund zwei Dutzend, zum Teil neu gewählten, jungen Beamten bestand. 2012 zählte die Verwaltung über 24'000 Vollzeitstellen. Allerdings existieren für eine längere Periode keine gesicherten Angaben, da erst 1948 ein Personalbüro geschaffen wurde. Dieses wurde 1974 zum Amt aufgewertet.
Während die Zahl der Beamten zwischen 1803 und 1861 stabil blieb, nahm sie mit der Verwaltungsorganisation von 1886 kontinuierlich zu und stieg von 1100 Beamten bis 1970 auf ca. 11'000 an. In den 1970er Jahren erfolgte der grösste Personalzuwachs. Die Finanzkrise führte nach 1998 hingegen zu einem Personalabbau. Dennoch spiegelt diese Entwicklung die Tatsache, dass mit der Ausweitung der staatlichen Interventionen und der Übernahme immer zahlreicherer und komplexerer Aufgaben mehr Verwaltungspersonal benötigt wurde, insbesondere im sozialen Bereich.
1947 erhielt die Verwaltung erstmals ein Beamtengesetz. Zuvor, vor allem zwischen 1803 und 1886, handelte der Staatsrat mittels Dekreten und Beschlüssen. 1886 erliess er auf der Grundlage eines Gesetzes von 1878 Bestimmungen zu den Arbeitszeiten, Löhnen, Absenzen, Beförderungen und zur Besoldung der Beamten. Das Gesetz über die Organisation des Staatsrats von 1886 führte erstmals Besoldungsklassen ein, die für alle Beamten galten. 1955 kamen die Familienzulagen, 1969 die automatische Lohnindexierung, 1989 der 13. Monatslohn hinzu. Brachten die Jahre 1947-1991 eine stete Besserstellung der Beamten, verschlechterten sich 1992-2001 ihre Arbeitsbedingungen. Deshalb gingen diese aus Unzufriedenheit zwischen 1995 und 2005 mehrfach auf die Strasse oder streikten. 2002 wurde der Beamtenstatus nach einer Abstimmung abgeschafft.
Das Personalgesetz von 2001 postulierte ein neues Selbstbild der Kantonsverwaltung. Diese will ein kundenfreundlicher Dienstleistungsbetrieb sein, der auf motivierte Angestellte zurückgreift und deren Fähigkeiten nutzt. Gleichzeitig wurden die Einstufungen der Funktionen und das Entlöhnungssystem überarbeitet.
Steuerpolitik
Autorin/Autor:
Gilbert Coutaz
Übersetzung:
Ernst Grell
Bis Mitte des 19. Jahrhunderts stammten die Einkünfte des Staats aus Weggeldern, die 1830-1849 zwischen 9% und 10% der Gesamteinnahmen ausmachten, aus Regalien, Handänderungsgebühren und Grundsteuern. Letztere wurden auf Grundstücken und Gebäuden gemäss dem 1805 revidierten Katasterplan der Helvetischen Republik erhoben. Der Kanton passte das System durch punktuelle Massnahmen wie die Weggeldreform von 1833 an, die in Richtung Freihandel zielte.
Nach 1848 musste der Kanton die Weggelder und Regalien (mit Ausnahme des Salzregals) an den Bundesstaat abtreten. Erst 1861 wurde die ab 1836 geforderte Kapitalsteuer angenommen, vorerst mit einem proportionalen Steuersatz, ab 1885 mit einem progressiven. Ab 1899 verfügte der Kanton über eine progressive Erbschaftssteuer; 2004 wurden die Ehegatten davon befreit. Der höhere Anteil der Steuergelder an den Staatseinnahmen dank der Einkommenssteuer ab 1956 bestimmte im 20. Jahrhundert die Entwicklung der kantonalen Finanzen. Während die 2004 per Volksabstimmung angenommene und 2008 in Kraft getretene Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung Anfang des 21. Jahrhunderts einen Lastenausgleich zwischen Bund und Kantonen anstrebt, sorgt die Steuerbelastungsverschiebung (im Kanton Waadt seit 2004) für einen Finanzausgleich zwischen Kanton und Gemeinden. 2000 lehnten die Waadtländer Stimmberechtigten eine Vereinheitlichung der Gemeindesteuerfüsse ab. Der 2001 eingeführte interkommunale Finanzausgleich, gegen den sowohl die 1909 gegründete Union des communes vaudoises als auch die 2002 geschaffene Association des communes vaudoises opponierte, wurde 2011 revidiert.
Nach der Annahme der Verfassungsrevision von 1885 kämpfte der Grossrat gegen vier schwere Krisen der öffentlichen Finanzen, so 1898-1900, zu Beginn der 1920er Jahre, während des Zweiten Weltkriegs und 1992-2005. Hatte die Staatsverschuldung des Kantons Waadt 1997 noch 7,3 Mrd. Franken betragen, wurde sie bis 2010 auf 1,9 Mrd. Franken gesenkt.
Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart
Autorin/Autor:
Gilbert Coutaz
Übersetzung:
Christoph Badertscher
Gerade weil im 19. und 20. Jahrhundert die Wirtschaft und Gesellschaft des Kantons sowie die Kräfteverhältnisse zwischen den Regionen tief greifende Veränderungen erfuhren, wurde eine kantonale Identität "erfunden". Das Reden über die Waadtländer Identität berührte verschiedenste Bereiche und wurde stets von Neuem zum Thema.
Bevölkerung
Autorin/Autor:
François Vallotton, Malik Mazbouri
Übersetzung:
Christoph Badertscher
Die Bevölkerungsentwicklung im Kanton Waadt durchlief verschiedene Phasen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl der Kantonsbewohner von 148'000 Personen 1815 auf knapp 200'000 im Jahr 1850. Dieses Wachstum einer noch typischen Agrargesellschaft lag leicht unter dem schweizerischen Mittel. 1850-1914 beschleunigte sich die Zunahme der Bevölkerung parallel zum allgemeinen Wirtschaftsaufschwung, die jedoch durch die Krisenjahre 1875-1890 gebremst wurde. Zum Wachstum trug die Einwanderung aus anderen Kantonen und dem Ausland bei, sodass der Anteil der Personen mit Waadtländer Bürgerrecht in der Periode 1860-1910 von 82% auf gut 40% sank.
Bis 1950 glich eine positive Migrationsbilanz das unter dem nationalen Durchschnitt liegende natürliche Bevölkerungswachstum teilweise aus. In der Zwischenkriegszeit gehörte die Waadt zu den wenigen Kantonen, die eine Zuwanderung von Personen aus der übrigen Schweiz verzeichneten. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fusste das demografische Wachstum vor allem auf der Einwanderung aus dem Ausland. Betrug 1950 der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung noch 7,3%, lag er 1960 bei 12,6%, 1970 bei 22,6%, 1980 bei 20,2%, 1990 bei 25,4% und 2000 bei 27,6%. Damit wies die Waadt um die Jahrtausendwende unter den Kantonen die zweithöchste Ausländerquote aus.
Bestand die Waadt im 19. Jahrhundert noch weitgehend aus einer ländlichen Gesellschaft, setzte ab den 1880er Jahren eine Urbanisierung ein. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zählten nur Montreux, Vevey und Lausanne mehr als 10'000 Einwohner, und die neun grössten Gemeinden stellten um 1900 ein Drittel der Kantonsbewohner. 1990 umfassten diese Gemeinden bereits 44% der Gesamtbevölkerung; 2009 lebten 75% der Waadtländer in Agglomerationen mit einer ständigen Wohnbevölkerung von mindestens 20'000 Personen, und zwar in den Grossräumen Lausanne, Vevey-Montreux und Yverdon-les-Bains sowie in den Waadtländer Gebieten der Ballungszentren Genf und Monthey-Aigle.
Die Bevölkerungskonzentration im Genfer Seebecken bildet eine weitere langfristige Entwicklung. 1990 umfasste dieses Gebiet 70% der Kantonsbewohner, während sich andere Bezirke im 20. Jahrhundert entvölkerten, vor allem der Bezirk Grandson wegen der schwindenden Bedeutung des Industriezentrums Sainte-Croix sowie das Pays-d'Enhaut. In geringerem Masse waren bis in die 1980er Jahre die Bezirke Moudon und Echallens von der Abwanderung betroffen.
Wirtschaft und Verkehr
Autorin/Autor:
François Vallotton, Malik Mazbouri
Übersetzung:
Christoph Badertscher
Im 19. Jahrhundert dominierte die Landwirtschaft das wirtschaftliche Leben des Kantons Waadt: 1888 bot der 1. Sektor noch gut 43% der Beschäftigten Arbeit. Erst um 1900 wurde er vom Industriesektor übertroffen. Der Dienstleistungssektor legte im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg deutlich zu und wuchs während des ganzen 20. Jahrhunderts kontinuierlich: 1900 beschäftigte er 29%, 1930 40,7%, 1960 46% und 2000 79,4% der Berufstätigen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts expandierte der 2. Sektor langsam, aber stetig, bis er unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg einen Aufschwung erlebte und sich die Zahl der Arbeitnehmer in der Industrie zwischen 1941 und 1970 verdoppelte. Nach der Krise von 1974 setzte der Niedergang des 2. Sektors ein.
Diese allgemeine Entwicklung gilt es in doppelter Hinsicht zu differenzieren. Zum einen weisen die Bezirke unterschiedliche sozioökonomische Strukturen auf. So konzentriert sich die Landwirtschaft auf den Jurafuss, das Gros-de-Vaud und das Pays-d'Enhaut, während die für den Kanton bedeutenden Industriegebiete im Vallée de Joux, in Sainte-Croix, Yverdon-les-Bains, Vevey und im Ouest lausannois liegen. Zum anderen liess die Ballung von Arbeitsplätzen im Grossraum Lausanne ab 1945 die Pendlerströme anschwellen. Seit den 1990er Jahren pendeln auch immer mehr Grenzgänger aus dem französischen Teil des Genfer Seebeckens und aus dem französischen Jura in die Waadt.
Erwerbsstruktur des Kantons Waadt 1860-2000a
a bis 1960 ohne Teilzeitangestellte
b Residualgrösse einschliesslich "unbekannt"
c ortsanwesende Bevölkerung
d Die Beschäftigtenzahlen der Volkszählung 2000 sind wegen der grossen Zahl "ohne Angabe" (46 254) nur begrenzt mit den vorhergehenden Daten vergleichbar.
Erwerbsstruktur des Kantons Waadt 1860-2000 - Historische Statistik der Schweiz; eidgenössische Volkszählungen
1800-1850: dominante Landwirtschaft
Autorin/Autor:
François Vallotton, Malik Mazbouri
Übersetzung:
Christoph Badertscher
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts arbeiteten zwei von drei Waadtländern in der Landwirtschaft. Nur in den wachstumsträchtigen Branchen des ersten industriellen Aufschwungs der Schweiz wurden Betriebe gegründet, vor allem in der Textilindustrie. Um 1832 zählte eine Erhebung in Gewerbe und Industrie 15'000 Beschäftigte, wobei die wichtigsten Unternehmen der Leder-, der Metall- sowie der Uhren- und Spieldosenindustrie angehörten. Die geringe Dichte und Grösse der Werkstätten gingen mit einem rudimentären technologischen Standard einher. Deshalb machten sich liberale Persönlichkeiten, vor allem aus dem Kreis der 1826 gegründeten kantonalen Gemeinnützigen Gesellschaft, für die Förderung der Industrie und die Berufsbildung stark. In der Folge fanden in Lausanne 1833 und 1838 Industrieausstellungen statt. Auch die Eröffnung der Ecole moyenne et industrielle 1837 (ab 1908 Collège scientifique) belegt die Bestrebungen um eine bessere Ausbildung der Facharbeiter. Diese fielen in eine Zeit, als der Kanton unter der Leitung Adrien Pichards ein neues Strassennetz mit den Verbindungen Nyon-Saint-Cergue-Les Rousses, Yverdon-Sainte-Croix-Pontarlier, Lausanne-Oron und Aigle-Le Sépey errichtete. Pichard arbeitete auch ein Strassenprojekt zur Umfahrung von Lausanne aus, zu welcher der 1836-1844 gebaute Grand-Pont gehörte, ein Vorzeigeobjekt jener Zeit.
1850-1914: Eisenbahnbau, technischer Fortschritt und touristischer Aufschwung
Autorin/Autor:
François Vallotton, Malik Mazbouri
Übersetzung:
Christoph Badertscher
Trotz dieser nicht zu unterschätzenden Anfänge profitierte die Waadtländer Industrie kaum von den neuen Rahmenbedingungen des 1848 gegründeten Bundesstaats. Die Wirtschaft litt sowohl unter der Trägheit der politischen Amtsinhaber, die ihren lokalen Traditionen verhaftet blieben, als auch unter einem rückständigen Bankwesen. Dieser Mangel wurde zwar mit den Gründungen der Banque cantonale vaudoise 1846 und der Caisse hypothécaire d'amortissement 1859 behoben. Allerdings berücksichtigte die Kantonalbank die lokale Industrie selten und die Hypothekarkasse bot ausschliesslich Hypotheken an.
Die Anstösse zu einer dynamischen Veränderung der Wirtschaft kamen von aussen, namentlich vom Eisenbahnbau im Zug der industriellen Revolution. Nach einem Tauziehen zwischen dem Kanton und seiner Hauptstadt Lausanne entschied sich der Bund bei der Linienführung durch das Mittelland für die Strecke über Lausanne und Oron und gegen jene via Yverdon. Mit der Verbindung Jougne-Ecublens-Saint-Maurice sowie den Tunneldurchstichen am Simplon 1906 und am Mont-d'Or 1915 sicherten sich Lausanne und die Waadt innerhalb des europäischen Eisenbahnnetzes eine strategisch wichtige Position. Dieses Netz mit seinen Nebenlinien beschleunigte den Niedergang des dörflichen Gewerbes und die Ablösung der Werkstätten durch Fabriken. Stammten die Finanzmittel in der ersten Phase des Eisenbahnbaus aus England, später aus Frankreich, übernahmen beim weiteren Ausbau des Netzes Waadtländer Privatbanken die Finanzierung.
In der Landwirtschaft führten der Wettbewerb mit ausländischen Produkten und fallende Bodenpreise, nicht zuletzt wegen der Krise der 1870er Jahre, zu Fortschritten in der Viehzucht und Milchwirtschaft. Davon zeugen die Gründungen von Kondensmilch- und Schokoladefabriken in Bercher, Payerne, Vevey, Orbe, Bussigny und Yverdon-les-Bains. Gleichzeitig begünstigte diese Entwicklung den Handel mit Brot- und Futtergetreide, wie ihn das 1877 in Nyon gegründete Unternehmen André betrieb. Auf die spätere Stagnation in der Landwirtschaft reagierte der Kanton mit Fördermassnahmen, indem er die Ausbildung der Bauern verbesserte (seit 1922 Ecole vaudoise d'agriculture in Marcelin-sur-Morges) und 1901 das Finanzinstitut Crédit foncier vaudois schuf.
In den 1840er Jahren entfaltete sich der Tourismus am Ufer des Genfersees, an der sogenannten Waadtländer Riviera, danach in den Waadtländer Alpen und im Jura. Der Wettbewerb trieb den technischen Fortschritt in den Bereichen Verkehr, Energie und Kommunikation voran. 1877 verband die erste Standseilbahn der Schweiz, gleichzeitig die weltweit erste Bahn mit einem Hydraulikmotor, Ouchy mit dem Lausanner Stadtzentrum, 1888 wartete Montreux mit der zweiten elektrischen Strassenbahn Europas auf. Dank gut situierter Kundschaft erlebte der Fremdenverkehr um die Jahrhundertwende sein goldenes Zeitalter mit markant verlängerter Sommer- und Wintersaison. Zur selben Zeit positionierte sich Lausanne als Bildungszentrum mit seiner 1890 gegründeten Universität und seinen über 150 Schulen und Internaten. Auch Heil- und Kurorte zogen eine internationale Kundschaft an, wobei sich Leysin mit seinen Kliniken auf die Behandlung der Tuberkulose spezialisierte.
1914-2010: Zweite und dritte industrielle Revolution, Handel und Dienstleistungen
Autorin/Autor:
François Vallotton, Malik Mazbouri
Übersetzung:
Christoph Badertscher
Nach dem Beginn des Ersten Weltkriegs brach der Tourismus zusammen. Andere Wirtschaftszweige wie der Handel und der Grossvertrieb legten hingegen zu. Die Waadtländer Industrie- und Handelskammer beteiligte sich 1919 an der Schaffung des Bureau industriel suisse, der späteren Schweizerischen Zentrale für Handelsförderung, und führte ab 1920 als Ergänzung zur Basler Mustermesse den Comptoir suisse durch. Die ersten Warenhäuser kamen um die Jahrhundertwende auf und setzten sich im Zug der Wirtschaftskrise zu Beginn der 1930er Jahre durch. Uniprix eröffnete 1932 Filialen in Vevey und Lausanne. Der Siegeszug der Grossverteiler löste Proteste aus und zog politische Massnahmen nach sich, welche die Warenhäuser in ihrem Wirken einschränkten. So konnte die Migros aufgrund eines dringlichen Bundesbeschlusses von 1933 erst 1946 Zweigstellen in der Waadt aufbauen.
Innerhalb des Industriesektors konzentrierten sich die Waadtländer Unternehmer auf die traditionellen Branchen. Zu den wichtigsten Firmen in der Metallindustrie und im Maschinenbau zählten Jaquet SA in Vallorbe, die Ateliers de Constructions Mécaniques de Vevey, Matisa und Bobst, in der Lebensmittelindustrie Nestlé, im Druckereigewerbe Heliographia, Presses centrales und Imprimeries réunies sowie in der Uhrenindustrie Jaeger-LeCoultre und Audemars Piguet. Mit dem Aufkommen der Elektrizität entstanden neue Industriebetriebe wie die Câbleries et Tréfileries in Cossonay (1898-1996) und die 1909 gegründete Leclanché in Yverdon. Die Bauwirtschaft erstarkte in der unmittelbaren Nachkriegszeit dank Infrastrukturprojekten. Elektronikfirmen wie Logitech (ab 1981) profitierten von der Zusammenarbeit mit der ETH Lausanne und schufen sich eine Marktnische. Der Industrie kam zugute, dass zahlreiche multinationale Unternehmen wegen der geografischen Lage, des Dienstleistungsangebots und der günstigen Steuerbedingungen ihren Verwaltungssitz in die Waadt verlegten.
Sozialstruktur und gesellschaftlicher Wandel
Die soziale Frage
Autorin/Autor:
François Vallotton, Malik Mazbouri
Übersetzung:
Christoph Badertscher
Eine Darstellung des gesellschaftlichen Wandels in der Waadt muss Kriterien wie Besitzverhältnisse, Bürgerrecht, Berufstätigkeit, Einkommen und Bildungsstand berücksichtigen. Leider fehlen die notwendigen Zahlen, um Vergleiche über einen längeren Zeitraum anstellen zu können. Immerhin existieren zwei Berichte aus dem 19. Jahrhundert, die Aufschluss über die Probleme der damaligen Gesellschaft und die von der Politik vorgeschlagenen Lösungsansätze geben.
Mit dem von einer Kommission des Staatsrats erarbeiteten Bericht Enquête sur le paupérisme von 1841 antwortete die Regierung auf eine Petition von Bürgern aus Château-d'Œx, welche die Aufhebung der Pflicht zur Armenpflege verlangten. Der Bericht sprach sich für deren Beibehaltung aus und bekräftigte gleichzeitig, dass die Armen ihr Los nur durch Arbeit verbessern könnten. Die Zahl der Hilfsbedürftigen wurde auf 19'000 Personen geschätzt, was 10% der Bevölkerung entsprach.
Der zweite, 1896 erschienene Bericht stammte vom späteren Lausanner Stadtrat André Schnetzler, der die Wohnverhältnisse in der Kantonshauptstadt untersucht hatte. Schnetzler machte auf die schlechten Wohnbedingungen der Unterschichten aufmerksam. Unter Verweis auf Epidemien betonte er die Ansteckungsgefahr für die Mittel- und Oberschicht. Sein Bericht führte zu einer neuen Bauordnung und verstärkte die Bemühungen der Politik um eine bessere Wasserver- und Abwasserentsorgung, Hygiene und Wohnungen.
Obwohl eine Sozialpolitik nur in Ansätzen bestand, subventionierte der Staat den sozialen Wohnungsbau während der Depression 1921-1922 und in der Krise der 1930er Jahre, als der Kanton eine hohe Arbeitslosenquote beklagte. So zählte Lausanne 1936 zu den am stärksten von der Arbeitslosigkeit betroffenen Schweizer Städten: Mehr als 4000 Personen bzw. 14% der Erwerbstätigen waren stellenlos. Trotz des Wirtschaftswachstums der Nachkriegszeit und des Aufbaus eines dichteren sozialen Auffangnetzes waren bestimmte Gruppen deutlicher von Armut betroffen, insbesondere Ausländer, ältere Menschen und Frauen, deren Lohnniveau generell unter jenem der Männer blieb. 2006 lag im Kanton Waadt der Anteil der unter der Armutsgrenze Lebenden mit 10,8% und jener der Working Poor mit 5,1% über den schweizerischen Mittelwerten von 9% bzw. 4,5%.
Arbeiterbewegung und soziale Konflikte
Autorin/Autor:
François Vallotton, Malik Mazbouri
Übersetzung:
Christoph Badertscher
Bis in die 1860er Jahre besass die Arbeiterbewegung in der Waadt wegen des schwach entwickelten Industriesektors nur eine geringe Bedeutung. Mehrere Vereinigungen unter dem Einfluss deutscher Arbeiter trugen dennoch dazu bei, dass innerhalb der Arbeiterschaft sozialistische Ideen Fuss fassten und sich ein eigenes Klassenbewusstsein herausbildete. Im Umfeld der Ersten Internationale, deren zweiter Kongress 1867 in Lausanne stattfand, formierte sich eine Gewerkschaftsbewegung. Sie organisierte die ersten Streiks im Kanton. Ab 1888 erfassten diese die neuen Industriestandorte Vevey, Yverdon, Orbe und Nyon, was zu einer deutlichen Zunahme der Arbeitskonflikte führte. Zwischen 1887 und 1914 kam es zu 230 Arbeitskämpfen. Auch wenn sich die Auseinandersetzungen selten mit den Streiks in den meisten anderen westlichen Ländern vergleichen lassen, stiessen sie als neues Phänomen und aufgrund ihrer Häufigkeit in der Öffentlichkeit auf grosse Beachtung, umso mehr, als die Waadtländer Bevölkerung als friedliebend galt. Meist standen Forderungen nach besserer Entlöhnung oder kürzerer Arbeitszeit im Zentrum, daneben aber auch das Gewerkschaftsverbot in Unternehmen und der Kampf gegen den Stücklohn.
Der Einfluss der revolutionären Gewerkschaftsbewegung schlug sich im März 1907 in einem Generalstreik nieder, nachdem es in der Schokoladefabrik Orbe zu einem Arbeitskonflikt gekommen war. Der Generalstreik spiegelte die verhärteten Fronten zwischen einem Teil der Arbeiterbewegung und den Arbeitgebern sowie den politischen Behörden. Gleichzeitig machte er die Spannungen zwischen reformorientierten Sozialdemokraten und Anarchosyndikalisten sichtbar. Die Beteiligung am Landesstreik 1918 fiel in der Waadt geringer aus als in der Deutschschweiz. Als zu Beginn der 1930er Jahre die Linke in mehreren Städten an die Macht kam und Abkommen zum Arbeitsfrieden geschlossen wurden, verloren die Gewerkschaften an Schwung. In der Nachkriegszeit vermochten sie wieder stärker zu mobilisieren, etwa 1949 beim viermonatigen Streik in der Zündholzfabrik Diamond in Nyon, in den 1970er Jahren bei Streiks in den Firmen Paillard 1971 und Matisa 1976 sowie im Verlauf der 1990er Jahre anlässlich von Sparmassnahmen der öffentlichen Hand.
Schule und Ausbildung
Autorin/Autor:
François Vallotton, Malik Mazbouri
Übersetzung:
Christoph Badertscher
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die Primarschule ausgebaut, deren Besuch seit 1806 obligatorisch ist. Der Handlungsspielraum des Staats im Schulwesen nahm auf Kosten der Gemeinden und der Kirche stetig zu. Mit der Erhöhung der staatlichen Mittel für die Lehrerausbildung, die Besoldung der Lehrkräfte und den Schulhausbau wuchs die Mitsprache des Kantons bei der Ausgestaltung und Koordination der Lehrpläne. 1906 sah ein Gesetz die Schaffung einer Oberstufe innerhalb der Primarschule (classes primaires supérieures) vor, um dem Rückgang der Schülerzahlen in den Sekundarschulen der Gemeinden entgegenzutreten.
Im Bereich der Sekundarstufe trennte ein Gesetz von 1837 den gymnasialen Unterricht von der Akademie ab und rief damit die humanistischen Gymnasien als eigenständige kantonale Bildungseinrichtungen ins Leben. 1838 öffnete die erste Höhere Töchterschule unter der Leitung von Alexandre Vinet ihre Tore. 1869 wurde die Ecole moyenne et industrielle in Lausanne zur kantonalen Industrieschule erhoben. Die oberen Klassen der Industrieschulen wurden 1925 in die kantonalen Gymnasien integriert. Die 1901 in Lausanne gegründete Handelsschule erlebte vor dem Ersten Weltkrieg einen enormen Aufschwung. In verschiedenen Regionen des Kantons entstanden Berufsschulen: 1898 eine Nähschule in Lausanne, 1900 eine technische Lehranstalt in Le Sentier, 1903 eine Gewerbeschule in Yverdon, 1907 eine Ausbildungsstätte für Feinmechaniker in Sainte-Croix, 1914 eine Kunstgewerbeschule in Vevey und 1916 eine Gewerbeschule in Lausanne. Seit 1893 besitzt Lausanne auch eine renommierte Hotelfachschule.
Bildungsfragen gewannen im Lauf des 20. Jahrhunderts ständig an Bedeutung. Die Schulreform von 1956 verteilte die Aufgaben zwischen dem Kanton und den Gemeinden, die für die obligatorische Schule verantwortlich blieben, neu und schrieb gemischte Klassen vor. In den 1970er Jahren erfolgte eine Dezentralisierung der Bildung, indem man ausserhalb von Lausanne Berufsbildungszentren, Gymnasien und Lehrerseminare errichtete. Die beiden Letzteren befanden sich jeweils unter einem Dach. Die Reform Ecole vaudoise en mutation legte 1995 den Schwerpunkt auf pädagogische Fragen und führte für die ersten Jahre der Sekundarschule eine durchlässige Stufe (cycle de transition) mit Leistungsniveaus ein, die heftig umstritten war. 1890 ging aus der Akademie die Universität Lausanne hervor. Sie öffnete sich im Zug der 1968er-Bewegung weiteren Studentenkreisen und verfügte nach der Errichtung des Campus ausserhalb der Stadt ab 1970 über mehr Raum und finanzielle Mittel. 1981 wurde in Lausanne das Institut de hautes études en administration publique gegründet. Die vorerst vom Kanton getragene Technische Hochschule der Universität Lausanne ging aus der bereits 1853 als Ausbildungsstätte für Ingenieure ins Leben gerufenen Ecole spéciale hervor. 1969 übernahm der Bund sie als zweite Eidgenössische Technische Hochschule. Dank ihrer Präsenz und ihrer engen Beziehungen zur Wirtschaft steht sie für eine hochstehende und international ausgerichtete Lehre und Forschung.
Kultur und Religion
Verlagswesen, Presse und Medien
Autorin/Autor:
François Vallotton, Malik Mazbouri
Übersetzung:
Christoph Badertscher
Das Waadtländer Verlagswesen erlebte mit den nicht mehr existierenden Häusern Bridel (1844), Payot (1877), Verseau (1925), Mermod (1926), Trois Collines (1935) und Bertil Galland (1972) ein goldenes Zeitalter. Mit der Schliessung der Lausanner Druckerei Rencontre 1971 und der Einstellung der Tätigkeit der Büchergilde Gutenberg 1977 ging diese Epoche zu Ende, auch wenn nach wie vor Verlage wie L'Age d'homme (1966), Favre (1975), En bas (1976), L'Aire (1978), Campiche (1986) und Cabédita (1988) bestehen.
Die Waadtländer Presselandschaft machte einen langen Konzentrationsprozess durch, zu dessen Sinnbild 2011 der Verkauf der Inlandaktivitäten von Edipresse an das Zürcher Verlagshaus Tamedia wurde. Edipresse war in der Westschweiz die wichtigste Mediengruppe und gab die zwei grossen Tageszeitungen Vingt-quatre Heures (hervorgegangen aus dem 1762 gegründeten Feuille d'Avis de Lausanne) und Le Matin (hervorgegangen aus der 1893 gegründeten La Tribune de Lausanne) heraus. 1974 erschienen in der Waadt an 29 Standorten sieben Tageszeitungen und 30 Zeitungen mit ein bis drei Ausgaben pro Woche, während es 2009 noch knapp 20 Titel waren. Der traditionellen Parteipresse erwuchs immer härtere Konkurrenz durch die Informationspresse, Zeitschriften, später Gratiszeitungen. Die Gazette de Lausanne, Parteizeitung der Liberalen ab Anfang des 19. Jahrhunderts, genoss im 20. Jahrhundert den Ruf eines wichtigen kulturellen Forums, ging aber 1991 ein.
Im Bereich Radio und Fernsehen leistete der Kanton Waadt Pionierarbeit: 1922 nahm auf dem Champ-de-l'Air in Lausanne der erste Radiosender der Schweiz bzw. der dritte Europas seinen Betrieb auf. In ganz Europa bekannt wurde das im Jorat gelegene Dorf Sottens, von wo aus der Landessender ab 1931 die Programme von Radio-Lausanne und Radio-Genf ausstrahlte. Ab 1948 beteiligte sich das Studio Lausanne an ersten Fernsehübertragungen, doch 1960 erhielt Genf den Zuschlag als Sitz des Westschweizer Fernsehstudios. Hingegen kamen in den folgenden Jahren zunächst die Leitung, dann die Produktion des Westschweizer Radios nach Lausanne.
Kultur und Vereinsleben
Autorin/Autor:
François Vallotton, Malik Mazbouri
Übersetzung:
Christoph Badertscher
Vom frühen 19. Jahrhundert an bildete sich im Rahmen der Geselligkeit lokaler Schützen-, Gesangs- und Turnvereine eine Waadtländer Identität heraus. Eine wichtige Rolle spielte dabei das Aufkommen eines gemeinsamen Geschichtsbilds, wie es unter anderen Juste Olivier 1837 mit seiner Studie Le canton de Vaud umriss. Einprägsame Bilder trugen ebenfalls dazu bei, etwa Charles Gleyres Le Major Davel (1850) und Les Romains passant sous le joug (1858). Das Winzerfest Fête des Vignerons in Vevey verlor im Lauf der Zeit seinen ländlichen und genossenschaftlichen Charakter und verpflichtete im 20. Jahrhundert angesehene Waadtländer Künstler. Anlässlich der 100-Jahr-Feier zur Kantonsgründung fanden 1903 drei Bühnenaufführungen statt: das Festival vaudois mit Werken des Komponisten Emile Jaques-Dalcroze, das Drama La dîme von René Morax, seine erste Inszenierung in Mézières, die der Gründung des Théâtre du Jorat vorausging, sowie das historische Stück Le peuple vaudois von Henri Warnery, inszeniert am Stadttheater Lausanne zu Musik von Gustave Doret. Sie alle propagierten eine unverfälschte Waadtländer Eigenständigkeit, in der kantonale und nationale Identität eins waren. Die 1914 auf Anstoss von Paul Budry gegründete Monatsschrift Cahiers vaudois bedeutete einen Traditionsbruch, da sie die Autonomie der Kunst hochhielt und für ein paar Jahre Künstler unterschiedlichster Richtungen vereinigte. Das an diese Erfahrung direkt anschliessende, 1918 in Lausanne uraufgeführte Stück Histoire du soldat hinterliess beim Publikum einen tiefen Eindruck. An dieser Produktion nahmen Künstler teil, die das künstlerische Schaffen in der Waadt für lange Zeit prägen sollten: René Auberjonois, Charles Ferdinand Ramuz, Igor Strawinsky, Georges und Ludmilla Pitoëff, Gilles, Elie Gagnebin und Ernest Ansermet.
Neuere Studien betonen die Bedeutung des Staats für verschiedene Kulturbereiche. Für die Architekturgeschichte spielte der 1928 in La Sarraz abgehaltene erste Congrès international d'architecture moderne eine wichtige Rolle, für die Geschichte des Films der Bau der ersten Kinosäle, die Einrichtung des Schweizer Filmarchivs 1948 und die Institutionalisierung des Festivals Visions du réel in Nyon. In der Musik gilt es, neben dem Kammerorchester Lausanne sowie den Festivals von Montreux und Nyon Constantin Regamey zu erwähnen. Im Tanz ragt das 1987 geschaffene Béjart Ballet Lausanne heraus, in der Gegenwartskunst die 1976 eingerichtete Collection de l'Art brut (Art brut). Die Landesausstellung von 1964 in Lausanne belebte mit dem Ensemble Boulimie und dem Théâtre de Vidy die Kleinkunst. Weitere Bühnen folgten: 1967-1976 Création, 1967-1987 Onze und seit 1979 Kléber-Méleau in Lausanne sowie seit 1986 Beausobre in Morges. Im Museumsbereich öffneten im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts mehrere grosse Institutionen ihre Tore, so 1976 das Maison d'Ailleurs in Yverdon-les-Bains, in Lausanne 1984 die Fondation de l'Hermitage, 1985 das Musée de l'Elysée und 1993 das Olympische Museum sowie 1998 das Château de Prangins, eine Zweigstelle des Nationalmuseums. Nach den Jugendunruhen Lôzane bouge 1980 entstand um Veranstaltungslokale wie Cabaret Orwell, Dolce vita, dem berühmtesten Rockklub der Westschweiz in den 1980er Jahren, und später Les Docks eine lebhafte alternative Kulturszene.
Religion
Autorin/Autor:
François Vallotton, Malik Mazbouri
Übersetzung:
Christoph Badertscher
Die Auseinandersetzungen zwischen der evangelisch-reformierten Landeskirche und dem Réveil (Erweckungsbewegungen) prägten in der Waadt das ganze 19. Jahrhundert. Als im Januar 1824 der Staatsrat Versammlungen der Bewegung verbot, versuchte diese mittels Presseerzeugnissen und der Herausgabe von Schriften ihren Einfluss auf die Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Nach der radikalen Revolution 1845 kam es zur Abspaltung von der Landeskirche. Nachdem sich eine Reihe von Pfarrern geweigert hatte, von der Kanzel eine Erklärung zur Legitimation der neuen Regierung zu verlesen, riefen diese 1847 die Eglise libre des Kantons Waadt ins Leben. Sie besass eine eigene theologische Fakultät und übte grossen Einfluss auf das gesellschaftliche und intellektuelle Leben des Kantons aus. Schon bald gestand sie den Frauen die gleichen Rechte und Pflichten wie den Männern zu. 1926 führte sie die Frauenordination ein. Die Wiedervereinigung mit der Landeskirche erfolgte 1965 im Zug einer weltweiten ökumenischen Bewegung und eines Pfarrermangels.
Die Ausübung des katholischen Glaubens wurde 1810 erlaubt, doch erst 1878 wurde das Verbot von Kirchtürmen und anderen sichtbaren Zeichen aufgehoben. In der Nachkriegszeit wuchs die Zahl der Katholiken auf mehr als das Doppelte an. Die Verfassung von 2003 räumt beiden Konfessionen die gleichen Rechte ein. Gemeinschaften wie die Darbysten, Adventisten, Anglikaner, Griechisch- und Russisch-Orthodoxen sowie Muslime haben ebenfalls einen Sitz in der Waadt. Eine jüdische Gemeinde entstand zwischen 1826 und 1827 in Avenches. Mussten die Juden auf eidgenössischer Ebene bis 1866 auf ihre rechtliche Gleichstellung warten, gewährte ihnen die Waadt auf kantonaler Ebene die Gleichstellung früher. Gleichwohl herrschte in den 1930er Jahren im Kanton ein starker Antisemitismus, der durch lokale politische und kirchliche Kreise gefördert wurde und 1942 in der Ermordung eines jüdischen Viehhändlers in Payerne durch Sympathisanten des Nationalsozialismus gipfelte.
Der Kanton Waadt verfügte lange weder über die industrielle Dynamik der Deutschschweiz noch über die internationale und kulturelle Ausstrahlung seines Nachbarn und Rivalen Genf. Seit einigen Jahren bietet er sich jedoch als attraktiver Wirtschaftsstandort mit Bevölkerungswachstum und dynamischer Hochschullandschaft an. Davon zeugen bedeutende Bauprojekte wie die Errichtung der Lausanner Metro oder die Umgestaltung des Stadtviertels Le Flon, die dem Kantonshauptort ein neues Gesicht geben. Parallel dazu tat sich eine immer tiefer werdende Kluft zwischen der von Versoix bis Villeneuve reichenden Grossagglomeration im Genfer Seebecken und dem Rest des Kantons auf. Einen Zusammenschluss mit Genf lehnte die Stimmbevölkerung 2002 ab. Damit bleibt die Frage offen, in welche Richtung sich die Waadt innerhalb der Schweiz und eines Europas der Regionen entwickeln soll.
Quellen und Literatur
- Archives cantonales vaudoises, Chavannes-près-Renens
- Archives de la Ville de Lausanne, Lausanne
- Bibliothèque cantonale et universitaire, Lausanne
- Musée cantonal d'archéologie et d'histoire, Lausanne
- Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen VD, 5 Bde., 1972-2010
- Guide des Archives cantonales vaudoises, 21993
Historiografie- Als 1536 der Bischof die Stadt Lausanne verlassen musste, beruhte das historische Gedächtnis der Diözese nur auf den im 13. Jahrhundert entstandenen Chroniken des Cono von Stäffis sowie auf einigen lückenhaften Überlieferungen. Zudem kannte ausserhalb der geistlichen Welt niemand diese Schriften. Mitte des 16. Jahrhunderts verfasste ein anonymer Waadtländer Autor die Chronique du Pays de Vaud, eine sehr freie Kompilation älterer Bücher. Den bescheidenen historischen Kenntnisstand des ausgehenden Mittelalters vermochte die Geschichtsschreibung der frühen Neuzeit nicht zu erweitern. Dies hatte einerseits mit dem Status der Waadt als Untertanengebiet zu tun, andererseits mit der anhaltenden Furcht der Berner Obrigkeit, historische Darstellungen könnten ihren Herrschaftsanspruch infrage stellen. Zwischen 1656 und 1798 legten nur die Pfarrherren und Gelehrten Jean-Baptiste Plantin und Abraham Ruchat historische Arbeiten vor. 1837 regten die gleichzeitig erfolgte Gründung der Société d'histoire de la Suisse romande und die Ernennung des ersten Kantonsarchivars die Forschungstätigkeit an, vor allem die Veröffentlichung von Quellen und Studien über das Mittelalter. Die Schriften von Frédéric de Gingins-La Sarraz, Juste Olivier und Auguste Verdeil weckten das Interesse an der Waadt unter savoyischer Herrschaft. Die Schwärmerei für diese Epoche fusste nicht zuletzt auf der Publikation umfangreicher, aber oft fehlerhafter Quellensammlungen, die auf der einen Seite insbesondere von Mitgliedern der Ligue vaudoise wie Marcel Regamey und Richard Paquier, auf der anderen Seite von Charles Gilliard zur Untermauerung ihrer widersprechenden und wechselnden Thesen herangezogen wurden. Neue Studien auf der Grundlage der reichhaltigen Turiner Archive präzisierten die territorialen Umrisse der Waadt, die sich vom Mittelalter an als eine unter der autoritären und zentralistischen Herrschaft Savoyens herausgebildete Einheit verstand. Mit Henri Drueys Kritik am übertriebenen Interesse an der savoyischen Epoche setzte 1852 die radikale Geschichtsschreibung ein, die vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg bestimmend blieb. Drueys Sicht fand Niederschlag im einflussreichen Werk Paul Maillefers, vor allem in dessen Hauptwerk Histoire du Canton de Vaud dès les origines (1903). Die als vierter Band der Reihe Encyclopédie illustrée du Pays de Vaud 1973 erschienene L'Histoire vaudoise brach mit dieser Tradition. Allerdings begnügte sich der Herausgeber in Ermangelung einer neuen These mit einer Chronologie der Jahre 1848-1973 und das Kapitel über das Ancien Régime schrieb der Berner Professor Ulrich Im Hof. Denn nach der 100-Jahr-Feier zur Kantonsgründung 1903, Höhepunkt der Selbstdarstellung, fächerte sich das historische Wissen infolge fortschreitender Spezialisierung und Professionalisierung der Historiker auf. Auch wenn neue Überblickswerke fehlen, erschienen unter dem Einfluss des Rechtshistorikers Jean-François Poudret und des Mediävisten Agostino Paravicini Bagliani eine Vielzahl von Studien über das Mittelalter, vor allem in Form von Dissertationen und Beiträgen in den Cahiers lausannois d'histoire médiévale. Dank der Schaffung eines Lehrstuhls für frühe Neuzeit 1970, auf den Alain Dubois berufen wurde, richtete sich der Fokus auch auf das Ancien Régime. Paul-Louis Pelet und François Jequier widmeten sich der Wirtschaftsgeschichte, André Lasserre der Sozialgeschichte und Marcel Grandjean der Denkmalgeschichte. Praktisch sämtliche Dissertationen zur Geschichte der Waadt erschienen in der 1940 gegründeten Reihe Bibliothèque historique vaudoise.
Reihen, Bibliografien- Revue historique vaudoise, 1893-
- Cahiers d'archéologie romande, 1974-
- Encyclopédie illustrée du Pays de Vaud 12, 1987
- Cahiers lausannois d'histoire médiévale, 1989-
- Mémoire vive, 1992-
- Vaud à livres ouverts: bibliographie du canton de Vaud 1987-1995, 1996
- Panorama des archives communales vaudoises, 1401-2003, hg. von G. Coutaz et al., 2003
- G. Coutaz, «Entre mémoire cantonale historique et mémoire documentaire», in Créer un nouveau canton à l'ère des révolutions, hg. von F. Panzera et al., 2004, 319-331
Allgemeines- Dictionnaire historique, géographique et statistique du canton de Vaud, 2 Bde., 1914-1921 (Nachdruck 1982, mit Register)
- D.L. Galbreath, Armorial vaudois, 2 Bde., 1934-1936
- Les monuments d'art et d'histoire du canton den Vaud, 1-, 1944-
- Encyclopédie illustrée du Pays de Vaud, 12 Bde., 1970-1987, v.a. Bde. 3-5
- Helvetia Sacra I/4, 1988, 64-83
- L. Hubler, Histoire du Pays de Vaud, 1991
- Revue historique vaudoise, 2003 (Themenheft Identités vaudoises)
Von der Urgeschichte bis zur Römerzeit- M.-A. Kaeser, A la recherche du passé vaudois, 2000
- Des Alpes au Léman, hg. von A. Gallay, 2006 (22008)
- Archéologie en terre vaudoise, Ausstellungskatalog Lausanne-Vidy, 2009
- Archäologie der Schweiz 34, 2011, Nr. 2 (Bibliografie 73-74)
Frühmittelalter- V. Durussel, J.-D. Morerod, Le Pays de Vaud aux sources de son histoire, 1990
- Archéologie du Moyen Age, Ausstellungskatalog Lausanne, 1993
- Les pays romands au Moyen Age, hg. von A. Paravicini Bagliani et al., 1997
Politische Geschichte vom Mittelalter bis 1798- D. Tappy, Les Etats de Vaud, 1988
- La maison de Savoie et le Pays de Vaud, hg. von A. Paravicini Bagliani, J.-F. Poudret, 1989
- La maison de Savoie en Pays de Vaud, Ausstellungskatalog Lausanne, 1990
- G. Castelnuovo, L'aristocrazia del Vaud fino alla conquista sabauda, 1990
- P.-R. Monbaron, «La propriété féodale sous l'Ancien Régime bernois», in Revue historique vaudoise, 1991, 101-110
- De l'ours à la cocarde, hg. von F. Flouck et al., 1998
- J.-F. Poudret, Coutumes et coutumiers, 6 Bde., 1998-2006
- J.-D. Morerod, Genèse d'une principauté épiscopale, 2000
- B. Andenmatten, La maison de Savoie et la noblesse vaudoise (XIIIe-XIVe s.), 2005
- Berns mächtige Zeit, hg. von A. Holenstein, 2006
- Berns goldene Zeit, hg. von A. Holenstein, 2008
- B. Andenmatten, «Fondations urbaines et noblesse seigneuriale dans le pays de Vaud savoyard», in Stadtgründung und Stadtplanung – Freiburg im Mittelalter, hg. von H.-J. Schmidt, 2010, 269-287
- R. Matzinger-Pfister, «L'organisation politique, judiciaire et administrative des bailliages vaudois sous l'Ancien Régime (1536-1798)», in Revue historique vaudoise, 2010, 49-64
Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur vom Mittelalter bis 1798- H. Vuilleumier, Histoire de l'Eglise réformée du Pays de Vaud sous le régime bernois, 4 Bde., 1927-1933
- E. Olivier, Médecine et santé dans le Pays de Vaud, 4 Bde., 1939-1962
- G.-A. Chevallaz, Aspects de l'agriculture vaudoise à la fin de l'Ancien Régime, 1949
- G. Panchaud, Les écoles vaudoises à la fin du régime bernois, 1952
- M. von der Mühll, Maléfices et cour impériale, 1960
- J.-J. Bouquet, «Quelques remarques sur la population du comté de Savoie au XIVe siècle d'après les comptes de subsides», in Revue historique vaudoise, 1963, 49-80
- N. Morard, «Un document inédit sur la seigneurie foncière au Pays de Vaud», in Revue historique vaudoise, 1974, 27-63
- P.-L. Pelet, Fer, charbon, acier dans le Pays de Vaud 2, 1978; 3, 1983
- M.-J. Ducommun, D. Quadroni, Le refuge protestant dans le Pays de Vaud (fin XVIIe-début XVIIIe s.), 1991
- M. Stubenvoll, «Niveaux et répartition des fortunes dans les pays de Vaud, Gex, Ternier-Gaillard et Thonon en 1550», in Revue historique vaudoise, 1994, 43-87
- L. Hubler, «Emigration civile et émigration militaire à travers le recensement bernois de 1764», in Gente ferocissima, hg. von N. Furrer et al., 1997, 233-252
- M.W. Bruening, Calvinism's First Battleground, 2005
- B. Andenmatten et al., «Les écoles et l'enseignement à Lausanne et dans le pays de Vaud au Moyen Age», in Revue historique vaudoise, 2009, 14-36
- Revue historique vaudoise, 2011, 11-225 (Themenheft Réformes religieuses en Pays de Vaud, hg. von K. Crousaz, Y. Dahhaoui)
- N. Furrer, Vade-mecum monétaire vaudois, XVIe-XVIIIe siècles, 2011
- J.-P. Bastian, Une immigration alpine à Lavaux aux XVe et XVIe siècles, 2012
Politische Geschichte von 1798 bis zur Gegenwart- 150 ans d'histoire vaudoise, 1803-1953, 1953
- R. Ruffieux et al., Les élections au Grand Conseil vaudois de 1913 à 1966, 1974
- G. Arlettaz, Libéralisme et société dans le canton de Vaud, 1814-1845, 1980
- A. Lasserre, Finances publiques et développement, 1981
- P. Jeanneret, Histoire du Parti socialiste vaudois, 1890-1950, 1982
- C. Lafontant, La résistance à la révolution de 1798 dans le Jura vaudois, 1989
- 1798: à nous la liberté, hg. von C. Chuard, 1998
- S. Corsini, D. Tosato-Rigo, Bon peuple vaudois, écoute tes vrais amis!, 1999
- Vaud sous l'Acte de Médiation, 1803-1813, hg. von C. Chuard et al., 2002
- P. Jeanneret, Popistes, 2002
- Les Constitutions vaudoises, 1803-2003, hg. von O. Meuwly, 2003
- F. Jequier, Le canton de Vaud de la tutelle à l'indépendance (1798-1815), 2003
- O. Meuwly, La politique vaudoise au 20e siècle, 2003
- D. Tosato-Rigo, «La continuité par la révolution? L'exemple du canton du Léman», in Umbruch und Beständigkeit, hg. von D. Schläppi, 2009, 25-47
- G. Coutaz, Histoire illustrée de l'administration cantonale vaudoise, 2010
Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur von 1798 bis zur Gegenwart- R. Jaccard, La révolution industrielle dans le canton de Vaud, 1959
- M. Jaccard, «La grève généralisée de mars 1907», in Revue historique vaudoise, 1971, 115-181
- A. Lasserre, La classe ouvrière dans la société vaudoise, 1845 à 1914, 1973
- G. Heller, "Propre en ordre", 1979
- H. Rieben et al., Portraits de 250 entreprises vaudoises, 1980
- A.-M. Amoos, «Le recensement vaudois de mai 1798», in Revue historique vaudoise, 1981, 57-97
- O. Blanc, «La natalité vaudoise», in Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 31, 1981, 144-173
- E. Buxcel, Aspects de la structure économique vaudoise, 1803-1850, 1981
- F. Jequier, De la forge à la manufacture horlogère (XVIIIe-XXe siècles), 1983
- M. Denisart, J. Surchat, Le cigare et les fourmis, 1987
- A. Radeff, Du café dans le chaudron, 1996
- F. Vallotton, L'édition romande et ses acteurs, 1850-1920, 2001
- C. Humair, «La force motrice hydraulique au service du développement économique helvétique», in Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 56, 2006, 127-151
Zitiervorschlag
Gilbert Coutaz; Gilbert Kaenel; Laurent Flutsch; Bernard Andenmatten; Danièle Tosato-Rigo; Olivier Meuwly; François Vallotton; Malik Mazbouri: "Waadt", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 30.05.2017, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007395/2017-05-30/, konsultiert am 18.01.2025.