Das Wort Lawinen, das vom lateinischen Wort labi (= gleiten) stammt, ist ein romanisches Alpenlehnwort, das vermutlich schon vor 1000 ins Deutsche übernommen worden ist. Es bezeichnet eine am Hang rasch abgleitende Schneemasse. Lawinen haben die Bewohner der Alpen seit jeher bedroht (Naturkatastrophen). Ihre erste urkundliche Erwähnung in der Schweiz datiert von 1302, als der Konstanzer Bischof Heinrich von Klingenberg die zur Pfarrei Schwyz gehörende Kapelle in Morschach zur selbstständigen Pfarrkirche erhob, da die Wege nach Schwyz oft durch Lawinen verheert worden seien. Auch spätmittelalterliche Bannbriefe von Wäldern (Bannwald) zeigen die Ernsthaftigkeit des Lawinenproblems auf und beweisen, dass die Schutzwirkung des Waldes bekannt war. Bilderchroniken, Ratsprotokolle und Landbücher übermitteln dann vom Spätmittelalter an Lawinenereignisse direkt. So beschrieb Florian Sprecher als Landschreiber von Davos einen Lawinenniedergang in Davos-Dorf, der 1440 zwei Häuser zerstörte und elf Personen tötete, wobei der spätere Landammann Niggo Schlegel nach 24 Stunden lebend geborgen werden konnte. Solche Ereignisse fanden offensichtlich Erwähnung, wenn sie aussergewöhnliche Personen, Lawinen oder Umstände betrafen. So zeigt die erste bildliche Darstellung von Lawinen, wie sich Kaiser Maximilian I. 1517 auf einer Reise vor drei kugelförmigen Lawinen rettete. Die Vorstellung von Lawinen als grossen Schneekugeln behauptete sich bis ins 19. Jahrhundert. Sie rührt wohl daher, dass die aus kugeligen Ablagerungsformen bestehenden, nassen Frühjahrslawinen eine einfachere Erklärung des Lawinen-Phänomens bieten als die trockenen hochwinterlichen Staublawinen, deren Ablagerung im Gelände oft nicht mehr auszumachen ist.
1716-1718 veröffentlichte Johann Jakob Scheuchzer eine Naturgeschichte der Schweiz. Darin sind erstmals sinnvolle Erklärungen über die Entstehung und den Abgang von Lawinen sowie Schutzmassnahmen enthalten. Scheuchzer erwähnt den Lawinenspaltkeil der Kirche Frauenkirch-Davos, der noch immer besteht. Er berichtet auch von Lawinenverschüttungen aus dem Zeitraum 1478-1699, bei denen neben Dorfbewohnern vor allem Söldner und Bauern auf dem Weg zu abgelegenen Ställen ums Leben gekommen waren.
Auswahl historischer Lawinenabgänge in den Schweizer Alpen
Winter | Ort | Todesopfer |
---|---|---|
1440 | Davos | 11 |
1459 | Disentis | 16 |
1519 | Leukerbad | 61 |
1609 | Davos | 16/26 |
1636 | Randa | 36 |
1667 | Anzonico | 33 |
1687 | Meiental (Wassen), Gurtnellen | 23 |
1689 | Saas im Prättigau, St. Antönien, Davos | 80 |
1695 | Bosco/Gurin | 34 |
1719 | Leukerbad | 55 |
1720 | Ftan, Obergesteln, Randa | 131/132 |
1749 | Bosco/Gurin, Rueras (Tujetsch), Ossasco (Bedretto) | 118 |
1808 | Gersau, Selva (Tujetsch), Obermad (Gadmen) | 55/56 |
1827 | Biel, Selkingen | 52 |
1851 | Ghirone | 23 |
1863 | Villa (Bedretto) | 32 |
1950/51 | Vals, Andermatt, Airolo, etc. | 98 |
1970 | Reckingen | 30 |
1999 | Evolène | 12 |
Ende des 19. Jahrhunderts begann die Erforschung der Lawinen. Der damalige eidgenössische Oberforstinspektor Johann Wilhelm Fortunat Coaz lieferte 1881 in seinem Werk Die Lauinen der Schweizeralpen bahnbrechende Erkenntnisse über die Entstehung, Verbreitung und Schäden (Lawinenstatistik) wie auch über Lawinenschutzmassnahmen. 1931 wurde mit der Gründung der Schweizerischen Lawinenkommission (später Schnee- und Lawinenkommission) der Grundstein zur wissenschaftlich begründeten Analyse und Konzeption von neuen Schutzmassnahmen gegen Lawinen gelegt: nach erster Feldforschung vor Ort ab 1935 entstand 1943 das Eidgenössische Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos. Dieses weltweit erste Lawinenforschungsinstitut trug wesentlich dazu bei, dass die Lawinen langsam an Unberechenbarkeit verloren, da durch intensive Forschung, Praxisberatung und die 1945 begonnene nationale Lawinenwarnung wirksame bauliche und operationelle Schutzmassnahmen an die Hand genommen werden konnten.
Der Katastrophenwinter 1950-1951 (98 Todesopfer, 1300 Schadenlawinen) bestätigte die Dringlichkeit dieses Vorgehens. Durch Lawinenverbauungen (am Hang 1951 20 km, 1999 400 km und 2010 mehr als 500 km Gesamtlänge), künstliche Lawinenauslösung, Sperrung von Verkehrswegen und Gefahrenzonenplanung wurde die Bedrohung durch Lawinen seither stark vermindert, obwohl sich durch die intensivierte Überbauung der Alpentäler und durch den wachsenden Wintertourismus neue Problemfelder eröffnet haben. Dies zeigte sich eindrücklich im Katastrophenwinter 1998-1999 (17 Todesopfer, rund 700 Schadenlawinen), wobei durch die Sperrung von Strassen und Blockierung von Touristen in Urlaubsorten und im Alpenvorland indirekte Schadenssummen entstanden, die den direkten Schäden durch die Lawinen gleichgestellt werden müssen.