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Voreheliche Empfängnis

Das Phänomen der vorehelichen Empfängnis widerspiegelt die Art der Eheanbahnung (Ehe): Vom Mittelalter bis ins 16. Jahrhundert wurde in den Unterschichten der Beischlaf direkt nach der Verlobung oder dem Eheversprechen vollzogen und somit vor der kirchlichen Trauung einige Wochen später. Der bindende Charakter der Verlobung bestand in reformierten Gebieten bis ins 19. Jahrhundert, vor allem in solchen zwinglianischer Prägung. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren zum Beispiel auf der Berner Landschaft fast die Hälfte aller Bräute schwanger. In den katholischen Pfarreien der Zentralschweiz lag dieser Anteil mit weniger als 15% deutlich tiefer, da die tridentinische Reform alte Bräuche wie die Stubeten oder den Kiltgang bekämpfte.

Im 18. Jahrhundert nahm die voreheliche Empfängnis in ganz Europa zu, oft parallel zur Illegitimität. Diese Zunahme war in der Schweiz in protoindustrialisierten Dörfern ausgeprägter und fand dort früher statt, war aber ein allgemeines und oft markantes Phänomen: In der Nordostschweiz stieg die voreheliche Empfängnis von 11% auf 39%, in der Zentralschweiz erreichte sie bis zu 20%. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde der Anteil für einige Orte in Glarus sowie im Neuenburger und im Waadtländer Jura auf fast 50% berechnet. Diese Spitzenwerte wurde abwechselnd mit der wachsenden Zahl von Lohnempfängern, als Indiz eines grundlegenden Mentalitätswandels oder als Symptom für den Sitten- und Wertezerfall erklärt. Dieselben Erklärungsmuster wurden auch für die sich verkürzenden Fristen zwischen Eheschliessung und erster Niederkunft herangezogen; die Eheschliessung verlieh der vorehelichen Empfängnis die Legitimität. Industrialisierung und Fabrikarbeit führten zu einem erneuten Anstieg der vorehelichen Empfängnis, oft bis über 50%. Noch in den 1940er Jahren erfolgten bis zu einem Drittel der Geburten aufgrund einer vorehelichen Empfängnis, obwohl die Sexualität ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in immer engere Bahnen gelenkt wurde.

Quellen und Literatur

  • B. Sorgesa Miéville, De la société traditionnelle à l'ère industrielle, 1992, 235-240
Weblinks

Zitiervorschlag

Beatrice Sorgesa Miéville: "Voreheliche Empfängnis", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 10.08.2005, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007979/2005-08-10/, konsultiert am 12.01.2025.