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Sprachwissenschaft

Linguistik

Die Sprachwissenschaft, auch als Linguistik bezeichnet, etablierte sich im frühen 19. Jahrhundert als wissenschaftliche Disziplin. Auslöser dafür war die Entdeckung der historischen Dimension der Sprache, das heisst der Sprachverwandtschaft und Sprachgeschichte. Seither hat sich die Sprachwissenschaft – beschleunigt im 20. Jahrhundert – in zahlreiche Unterdisziplinen aufgegliedert. Neben die Teilbereiche Phonologie, Morphologie, Wortschatz, Syntax, Text und Kommunikation traten strukturalistische, typologische, historische (diachrone), pragmatische, psychologische und soziale Betrachtungsweisen sowie neuerdings insbesondere Fragen des Spracherwerbs und der Sprachverarbeitung im Gehirn (Neurolinguistik). Dabei beschäftigen sich einige dieser Bereiche mit jeweils einer einzigen Sprache, andere vergleichen mehrere Sprachen oder Sprachvarietäten miteinander; einige stehen der Literaturwissenschaft oder der Philologie näher, andere ferner.

Die in der Schweiz praktizierte Sprachwissenschaft untersucht sprachliche Phänomene sowohl im eigenen Land als auch anderswo. Bei der landesspezifischen Sprachwissenschaft steht seit Langem die Erforschung der vier Landessprachen Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch sowie ihrer Mundarten im Mittelpunkt. Gerade in der Dialektologie hat die Schweizer Forschung dank günstiger sprachgeografischer Voraussetzungen methodische und praktische Pionierarbeit geleistet, insbesondere bei der präzisen wissenschaftlichen Beschreibung von Dialekten (zuerst Jost Winteler, 1876), der historischen Interpretation ihrer Entstehung und Entwicklung (Isolation versus Kontakt) sowie ihrer Darstellung in monumentalen Wörterbüchern und – besonders eindrücklich – in Sprachatlanten. Eng mit der Dialektologie verbunden ist die Ortsnamenforschung (Orts- und Flurnamen), die mittels historischer Deutung der geografischen Verbreitung von Orts-, Flur- und Gewässernamen zur Siedlungs- und Wirtschaftsgeschichte beiträgt. Zur Zeit steht das Verhältnis der Landessprachen zueinander sowie – vor allem in der Deutschschweiz – die Beziehung zwischen Mundart und Standardsprache im Vordergrund. Auch die Mehrsprachigkeit und die Kontakte zwischen einheimischen und Immigrantensprachen sowie zum Englischen werden untersucht. Meist dienen die entsprechenden Studien, wie auch die Sprachdidaktik im weiteren Sinne, als sogenannte angewandte Sprachwissenschaft der Sprach- und Bildungspolitik. Ein weltweit einzigartiges Unternehmen war die Schaffung und Förderung des Rumantsch Grischun.

Abgesehen von den landeseigenen widmete sich die Sprachwissenschaft in der Schweiz anfänglich vor allem den klassischen Sprachen Latein, Griechisch und Sanskrit sowie ihrer historischer Verwandtschaft (Indogermanistik). Die erste Professur für Sprachwissenschaft bzw. vergleichende Sprachforschung wurde 1856 in Zürich für Heinrich Schweizer eingerichtet. Herausragend auf dem Gebiet der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft waren Jacob Wackernagel, Ferdinand de Saussure (v.a. mit seinem Jugendwerk "Mémoire sur le système primitif des voyelles dans les langues indo-européennes" 1879), Robert von Planta, Eduard Schwyzer und Manu Leumann. Ernst Risch übertrug die Methode der historischen Dialektologie auf das Altgriechische.

Titelseite der ersten Ausgabe des Werks von Ferdinand de Saussure, das postum 1916 herausgegeben wurde (Schweizerische Nationalbibliothek).
Titelseite der ersten Ausgabe des Werks von Ferdinand de Saussure, das postum 1916 herausgegeben wurde (Schweizerische Nationalbibliothek).

Weniger historisch als typologisch vergleichend und von sprachpsychologischen und sprachphilosophischen Interessen geleitet arbeitete Franz Misteli. Ein früher Vorläufer der Sprachtypologie war Konrad Gessner mit seinem Werk "Mithridates" (1555). Auch Saussure verlagerte sein Interesse später auf die allgemeine Sprachwissenschaft, welche die Sprache als System und Kommunikationsmittel untersucht. Seine im "Cours de linguistique générale" beschriebene Unterscheidung von "langue" und "parole" und die Lehre vom sprachlichen Zeichen und seiner Willkürlichkeit wurden international wegweisend vor allem für die synchrone (d.h. ahistorische) Richtung der Sprachwissenschaft im 20. Jahrhundert. Saussures "Cours de linguistique générale" war 1916 postum von seinen Schülern Charles Bally und Albert Sechehaye herausgegeben worden und wurde in der Folge von ihnen und ihren Nachfolgern (z.B. Henri Frei), der sogenannten Genfer Schule, kommentiert und weitergeführt.

Im Laufe des 20. Jahrhundert wurden an den Schweizer Universitäten Lehraufträge und Professuren für einzelsprachliche Sprachwissenschaft geschaffen, vor allem für die schweizerischen Nationalsprachen und die Anglistik. Lehrstühle und Institute für allgemeine Sprachwissenschaft sind — die Universität Genf ausgenommen - meist jüngeren Ursprungs; solche für vergleichende Sprachwissenschaft sind seit den 1980er Jahren gefährdet oder bereits aufgehoben worden. Einige Schweizer Sprachwissenschafter haben ausschliesslich oder überwiegend im Ausland gelehrt, etwa der Latinist Eduard Wölfflin (Begründer des "Thesaurus Linguae Latinae" in München), der Romanist Wilhelm Meyer-Lübke und der Keltologe Rudolf Thurneysen.

Quellen und Literatur

  • M. Leumann, Der Anteil der Schweiz am Ausbau der Sprachforschung, 1944
  • Cahiers Ferdinand de Saussure 29, 1974-75, 101-204
  • Les linguistes suisses et la variation linguistique, hg. von J. Wüest, 1997
  • A.-M. Frýba-Reber, «Philologie et linguistique à l'aube du XXe siècle - l'apport de la Suisse», in Cahiers Ferdinand de Saussure 51, 1998, 133-149
  • Sprachwissenschaft in Basel 1874-1999, 2002
  • L. de Saussure, «Geneva School of Linguistics after Saussure», in Encyclopedia of Language and Linguistics 5, hg. von K. Brown, 22006 (1993), 24 f.
Weblinks

Zitiervorschlag

Rudolf Wachter: "Sprachwissenschaft", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 22.02.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008273/2012-02-22/, konsultiert am 18.06.2025.