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Medizin

Die Medizin (lateinisch ars medicina, wörtlich Heilkunst) bezeichnet die Wissenschaft der menschlichen und tierischen Gesundheit (Tiermedizin) und befasst sich mit der Vorbeugung, Erkennung und Behandlung von Krankheiten (Krankheit) und Verletzungen. In der Praxis werden die Ursachen und Erscheinungsformen von Krankheiten (Pathologie), deren Erkennung (Diagnostik) und Behandlung (Therapie) sowie deren Verhütung (Prophylaxe) unterschieden.

Antike und Mittelalter

Als Wissenschaft und wissenschaftlich begründete Praxis ist die Medizin griechischen Ursprungs. Hippokrates von Kos und seine Schüler erkannten in den Krankheiten gesetzmässig verlaufende Naturvorgänge, die sich durch genaue Beobachtung und vernünftige Überlegung verstehen und in den Griff bekommen liessen. Auch im Römischen Reich waren die wissenschaftlich denkenden Ärzte Griechen; Galenos von Pergamon prägte durch sein gewaltiges literarisches Werk die Medizin bis in die frühe Neuzeit. Daneben gab es Praktiker, die ihre Kenntnisse nur empirisch erworben hatten. Die Geburtshilfe lag in den Händen der Hebammen.

Abgesehen von keltischen Trepanationen (Schädelöffnungen), deren Zweck bis heute nicht vollständig geklärt ist, stammen die ältesten Spuren ärztlicher Tätigkeit in der Schweiz aus der römischen Zeit: die Überreste eines Militärspitals in Vindonissa, chirurgische Instrumente aus Bronze, Arzneikästchen aus Elfenbein und steinerne Augensalbenstempel. Diese wurden auf Augenheilmittel teigiger Konsistenz (collyria) aufgedrückt, die man dann trocknen liess, um später die jeweils benötigten Mengen davon abzuschaben. Ihre Eigentümer waren wohl Augenbehandler (ocularii) mit bescheidenem Wissen, die aber möglicherweise zur Behandlung des grauen Stars auch den Starstich ausführten. Eine Inschrift aus Aventicum berechtigt zur Annahme, dass hier eine Kultgemeinschaft der Ärzte und Lehrer, medici et professores, bestand. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, dass es in Aventicum eine Medizinschule gab.

Ein Mönch trägt eine Salbe auf, um einen Schüler des Klosters St. Gallen zu kurieren. Miniatur aus der 1452 verfassten und illustrierten Gallus-Vita (Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. Sang. 602, S. 146; e-codices).
Ein Mönch trägt eine Salbe auf, um einen Schüler des Klosters St. Gallen zu kurieren. Miniatur aus der 1452 verfassten und illustrierten Gallus-Vita (Stiftsbibliothek St. Gallen, Cod. Sang. 602, S. 146; e-codices).

Nach dem Zerfall des Weströmischen Reichs übernahmen die christlichen Klöster die Pflege der wissenschaftlichen Bildung. Auch medizinische Texte wurden gelesen und abgeschrieben sowie Auszüge aus ihnen gemacht und neu zusammengestellt. Aus der Verbindung der Gelehrsamkeit mit der christlichen Barmherzigkeit ergab sich eine praktische Klostermedizin. Otmar, der Gründer des Klosters St. Gallen, errichtete hier ein kleines Spital für Aussätzige (Aussatz). Der karolingische St. Galler Klosterplan enthält eine Krankenabteilung für die Mönche und einen Heilkräutergarten (Heilkräuter). Herausragender Vertreter der St. Galler Klostermedizin war Notker der Arzt, von dem Behandlungsberichte überliefert sind.

Mit der Entwicklung von Medizinschulen und medizinischen Fakultäten an den Universitäten – Salerno um 1000, Montpellier im 12., Padua im 13. Jahrhundert – wurde die medizinische Wissenschaft nach und nach wieder weltlich, blieb jedoch eine Büchergelehrsamkeit, so noch an der 1460 gegründeten Universität Basel. Daneben bestand die handwerkliche Heilkunde der Bader und Scherer (Barbierchirurgen, Wundärzte). Die ärztliche Versorgung der Bevölkerung in Stadt und Land lag vor allem bei den Handwerkschirurgen, die auch Zähne zogen (Zahnmedizin). Das mittelalterliche Auseinanderfallen von medizinischer Wissenschaft und Praxis war für beide Bereiche nachteilig. Verbunden waren Theorie und Praxis im Beruf des Apothekers.

Eine Schöpfung des Mittelalters ist das Spital; es bot bedürftigen Kranken Unterkunft und Pflege, doch noch kaum ärztliche Behandlung. Eine besondere Form des Spitals waren die Siechenhäuser zur Absonderung und Pflege der Aussätzigen.

Grössere Verbreitung fand medizinisches Wissen im Spätmittelalter in Form von Kompendien und Hausbüchern in der Landessprache. Gesundheits- und Behandlungsregeln waren in ihnen unter astrologischen Gesichtspunkten (Tierkreis, Planetenstand) aufgeführt (Astrologie).

Frühe Neuzeit

Titelseite des ersten Bandes der von Théophile Bonet in lateinischer Sprache verfassten Abhandlung über praktische Anatomie, Genf 1679 (Universitätsbibliothek Basel, Ld I 13).
Titelseite des ersten Bandes der von Théophile Bonet in lateinischer Sprache verfassten Abhandlung über praktische Anatomie, Genf 1679 (Universitätsbibliothek Basel, Ld I 13). […]

Der mittelalterliche Glaube an die immerwährende Gültigkeit der antiken und von den Arabern neu geprägten medizinischen Überlieferung wich im 16. Jahrhundert dem Willen zum eigenen Sehen und Urteilen. Am radikalsten stellte sich Paracelsus gegen die herkömmliche Schulmedizin, an deren Stelle er sein eigenes, schwer durchschaubares Lehrgebäude setzte. Als fruchtbarer erwies sich die nüchterne Beobachtung und Untersuchung des menschlichen Organismus und seiner Leiden. Das grundlegende Werk der neuen Anatomie, "De humani corporis fabrica" (Über die Struktur des menschlichen Körpers) von Andreas Vesalius erschien 1543 in Basel als das wohl bedeutendste medizinische Buch, das je in der Schweiz publiziert wurde. Mit Krankheitsbeschreibungen und einer Peststatistik trat zu Beginn des 17. Jahrhunderts Felix Platter hervor. Im 16. Jahrhundert erwachte auch das Bewusstsein, dass die Medizin in all ihren Zweigen ein zusammenhängendes Ganzes sei. Konrad Gessner betonte das in seiner 1555 gedruckten "Chirurgia". Damit rückte auch die Geburtshilfe in den Gesichtskreis der Ärzte (Geburt). Zeugnis dafür ist das "Trostbüchle" des Zürcher Stadtschnittarztes Jakob Ruf von 1554.

Medizinische Probleme betrafen nicht nur den Einzelnen, sondern auch das Gemeinwesen. In den Städten entwickelten sich Ansätze eines öffentlichen Gesundheitswesens. Dabei ging es um die ärztliche Versorgung der Armen (Armut), die Spitäler, die Gerichtsmedizin (Rechtsmedizin), die Kontrolle der Apotheken und der Hebammen sowie, als besondere Herausforderung, um den Kampf gegen die Pest, die bis 1670 die Schweiz immer wieder heimsuchte (Epidemien). Mit solchen Aufgaben wurden meist ein oder mehrere nebenamtliche Stadtärzte betraut, mit der Betreuung von Spitalpatienten oder Pestkranken auch Scherer (z.B. Stadtschnittarzt, Pestchirurg). Für die Schaffung staatlicher Sanitätsbehörden war bis ins 18. Jahrhundert hinein die Angst vor der Pest das treibende Motiv.

Für die Aufklärer des 18. Jahrhunderts wurde die Volksgesundheit zu einem grossen Anliegen. In seinem "Avis au peuple sur sa santé" von 1761 warb der Waadtländer Arzt Auguste Tissot für eine erleuchtete, auf Vernunft gegründete Medizin; diese sollte den Aberglauben und die Scharlatanerie überwinden, die vor allem auf dem Lande Unheil stifteten. Jean-André Venel gründete in Yverdon die erste Hebammenschule und in Orbe das erste orthopädische Institut zur Behandlung und Erziehung verkrüppelter Kinder. Die Pocken wurden von der Mitte des 18. Jahrhunderts an durch präventive Inokulation eingedämmt. Als Forscher, Gelehrter und Gesundheitspolitiker ragte der Berner Albrecht von Haller heraus.

19. und 20. Jahrhundert

Naturwissenschaft und experimentelle Forschung bildeten ab dem 19. Jahrhundert die Grundlage der Medizin. Das Universitätsstudium ist seither der einzige Zugang zum Arztberuf. Medizinische Fakultäten entstanden 1833 in Zürich, 1834 in Bern, 1876 in Genf sowie 1890 in Lausanne. Für die klinische Ausbildung sind sie mit den öffentlichen Spitälern verbunden (in Basel seit 1865). An der Universität Freiburg werden nur die medizinischen Grundlagenfächer – Anatomie, Physiologie und Biochemie – gelehrt. Seit 1880 sind die Medizinalprüfungen nicht mehr Sache der Kantone, sondern des Bundes; das eidgenössische Arztdiplom gibt Schweizerbürgern das Recht, in der ganzen Schweiz zu praktizieren. Seit 1998 besteht an den medizinischen Fakultäten Basel, Bern, Freiburg und Zürich ein Numerus clausus. Für die Zulassung zum Studium muss ein Eignungstest bestanden werden. Die gesetzlichen Grundlagen sind kantonal geregelt. Das 2007 in Kraft getretene Bundesgesetz über die universitären Medizinalberufe (MedBG), das die Aus-, Weiter- und Fortbildung für Ärzte, Zahnärzte, Chiropraktoren, Pharmazeuten und Tierärzte regelt, ersetzte das Gesetz über die Freizügigkeit des Medizinalpersonals von 1877. Die Gestaltung der Ausbildung obliegt den Universitäten, welche die Curricula neu in Bachelor- und Masterstudium gliedern. Das Gesetz schreibt eine eidgenössische Prüfung am Ausbildungsende und eine periodische Akkreditierung der Aus- und Weiterbildungsgänge vor. Als erste Frau promovierte 1867 die Russin Nadeschda Suslowa an der Universität Zürich; dort bestand auch 1873 als erste Schweizerin Marie Heim-Vögtlin das Staatsexamen. Zu den ersten medizinischen Fakultäten in Europa, an denen Frauen studierten, zählten auch Genf und Bern (hier 1871-1914 1624 Frauen, davon 92% Russinnen).

Ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts führte die Entwicklung von Spezialfächern zu einer Aufsplitterung der Gesamtmedizin. So wurde der Chirurg zum medizinischen Spezialisten, jetzt allerdings auf dem Boden einer umfassenden wissenschaftlichen Ausbildung. Ab der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelten sich auch innerhalb grösserer Fächer – Chirurgie, innere Medizin – zahlreiche Subdisziplinen. Die Ausbildung und Diplomierung der Spezialärzte liegt in den Händen der seit 1901 bestehenden Verbindung der Schweizer Ärztinnen und Ärzte (Foederatio Medicorum Helveticorum, FMH). Diese bleibt auch im Rahmen des MedBG für die Regelung und Durchführung der ärztlichen Fortbildung zuständig. Desgleichen regelt das Gesetz die Anerkennung ausländischer Weiterbildungstitel. Ergänzt durch das Abkommen über den freien Personenverkehr mit der EU von 2002, werden die Arztdiplome und Weiterbildungstitel der EU unmittelbar anerkannt. Für die Eröffnung von Arztpraxen gelten seit 2002 vom Bund erlassene Lenkungsmassnahmen ("Zulassungsstop"). Das Krankenversicherungsgesetz von 1994 führte zur Schaffung eines einheitlichen Tarifs für die ambulanten ärztlichen Leistungen im Spital und in der freien Praxis und zur Revision des Spitalleistungskatalogs. Der Tarmed gilt seit 2004.

Zum hohen Niveau der schweizerischen Universitätsmedizin trugen, vor allem bis zum Ersten Weltkrieg, ausländische Professoren, namentlich Deutsche, wesentlich bei. Führend war die Schweiz während längerer Zeitabschnitte in der Augenheilkunde (Friedrich Horner, Jules Gonin, Hans Goldmann), in der Chirurgie (mit dem Nobelpreisträger Theodor Kocher) sowie in der Psychiatrie (Auguste Forel, Eugen Bleuler) und der Psychologie (Carl Gustav Jung, Jean Piaget). Pioniere waren im 19. Jahrhundert der Genfer Arzt Marc-Jacob D'Espine für die medizinische Statistik, der Glarner Fridolin Schuler für Fabrikhygiene (Hygiene) und Arbeiterschutz (Arbeitsmedizin). Aufgrund der geografischen Lage entstanden in der Schweiz ab dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zahlreiche Sanatorien zur Tuberkulosebehandlung; solche prägten das Dorfleben in Davos, Arosa, Crans-Montana und Leysin. Nach dem Zweiten Weltkrieg machten die neuen Möglichkeiten der antibiotischen Therapie zusammen mit dem Rückgang der Neuinfektionen die Lungensanatorien überflüssig, von denen einige in Rehabilitationskliniken umgewandelt wurden. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts haben neue Fachgebiete wie Immunologie und psychosomatische Medizin grosse Bedeutung erlangt; der in Zürich wirkende Immunologe Rolf Martin Zinkernagel erhielt für seine Forschungen 1996 den Nobelpreis.

Magnetresonanztomograf des Universitätsspitals Lausanne, Juni 2007 © KEYSTONE / Alain Herzog.
Magnetresonanztomograf des Universitätsspitals Lausanne, Juni 2007 © KEYSTONE / Alain Herzog. […]

Fachzeitschriften sorgten für die Verbreitung und Diskussion von wissenschaftlichen Erkenntnissen. Erwähnenswert sind die "Schweizerische medizinische Wochenschrift" ab 1871, 2001 fortgesetzt als "Swiss Medical Weekly", die "Revue médicale de la Suisse romande" ab 1881 und die "Schweizerische Rundschau für Medizin Praxis" ab 1912. Überzeugt von der Wichtigkeit koordinierter Forschung und vom unbegrenzten Gedankenaustausch ergriffen Alfred Gigon und Alexander von Muralt während der kriegsbedingten Isolation der Schweiz 1943 die Initiative zur Gründung der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW). Grosse Verdienste erwarb sich die SAMW ab 1969 mit der Ausarbeitung medizinisch-ethischer Richtlinien für das ärztliche Handeln in problematischen Bereichen wie künstliche Befruchtung, Organtransplantation, Forschung am Menschen und Sterbehilfe. Die Transplantation von Organen, Geweben und Zellen wird von einem 2007 in Kraft gesetzten Bundesgesetz geregelt. Für die Forschung am Menschen ist ein Artikel in der Bundesverfassung in Vorbereitung. Um die Koordination der Spitzenmedizin bemüht sich die Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektoren.

Fazit

Bis zum 18. Jahrhundert konnte der Arzt kaum mehr tun, als die Heilkraft der Natur zu unterstützen; die operative Chirurgie war auf eine kleine Zahl elementarer Eingriffe beschränkt. Im 19. Jahrhundert erweiterte sich der Handlungsspielraum des Chirurgen gewaltig dank Anästhesie (1846) und Verhütung der Wundinfektion (Antisepsis und Asepsis, 1867). Mit dem Aufkommen der naturwissenschaftlich begründeten medikamentösen Therapie im 20. Jahrhundert wurden zusätzliche Krankheiten behandelbar. Dadurch wuchsen aber auch die Kosten für die Medizin. Ihre Deckung ist am Anfang des 21. Jahrhunderts zum brennendsten Problem des Gesundheitswesens geworden. Daneben ist in der Bevölkerung auch ein gewisses Unbehagen gegenüber so viel "seelenloser" Technik (Apparatemedizin) zu spüren. Das Misstrauen gegenüber der wissenschaftlichen Schulmedizin, die natürlich auch immer wieder an ihre Grenzen stösst, äussert sich in einem rational nicht begründbaren Zutrauen zu zahlreichen alternativen Heilmethoden (Naturheilkunde).

Quellen und Literatur

  • G.A.Wehrli, Die Krankenanstalten und die öffentlich angestellten Ärzte und Wundärzte im alten Zürich, 1934
  • E. Olivier, Médecine et santé dans le Pays de Vaud, 4 Bde., 1962-63
  • H. Rohner, Die ersten 30 Jahre des medizin. Frauenstud. an der Univ. Zürich 1867-1897, 1972
  • P. Köpp, Vademecum eines frühma. Arztes, 1980
  • H.M. Koelbing, «Town and State Physicians in Switzerland (16th-18th centuries)», in The Town and State Physician in Europe from the Middle Ages to the Enlightenment, hg. von A.W. Russell, 1981, 141-155
  • M. Leisibach, Das Medizin.-chirurg. Inst. in Zürich, 1782-1833, 1982
  • R.O. Hardegger, Die Helvet. Gesellschaft correspondierender Ärzte und Wundärzte 1788/91-1807, 1987
  • L. Welker, Das "Iatromathemat. Corpus", 1988
  • A. Bielman, P. Mudry, «Les médecins et professeurs d'Avenches», in Röm. Inschr., hg. von R. Frei-Stolba, M.A. Speidel, 1995, 259-273
  • La médecine des Lumières, hg. von V. Barras, M. Louis-Courvoisier, 2001
  • L. Gautier, La médecine à Genève jusqu'à la fin du XVIIIe  siècle, 2001 (erweiterter Neudr. der Ausgabe von 1906)
  • M. Lengwiler, V. Rothenbühler, Macht und Ohnmacht der Ärzteschaft, 2004
Weblinks

Zitiervorschlag

Huldrych M. F. Koelbing: "Medizin", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 06.03.2017. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008275/2017-03-06/, konsultiert am 14.09.2024.