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Sopraceneri

Als Sopraceneri wird das nördlich des Monte Ceneri gelegene Gebiet des Kantons Tessin bezeichnet, das sich vom Langensee auf 193 m bis zum 3402 m hohen Rheinwaldhorn erstreckt und geografisch zum Alpenraum gehört. Verwaltungspolitisch zählen seit dem 16. Jahrhundert auch die südlich des Monte Ceneri gelegenen Medeglia und Isone dazu. Das Sopraceneri umfasst die Bezirke Bellinzona, Riviera, Blenio, Leventina, Locarno und Vallemaggia. Mit 2379 km2 nimmt es rund 85% der Kantonsfläche ein, seine 142'627 Einwohner (2008) machen aber nur 43% der Tessiner Bevölkerung aus. Die Bevölkerungsdichte des Sopraceneri war auch früher schon gering: 1808 wohnten in den Bezirken Vallemaggia, Riviera, Blenio und Leventina durchschnittlich 10-20 Einwohner pro km2.

Die Unterteilung des Kantons in das Sopraceneri und das Sottoceneri ist in erster Linie eine geografische und war vor dem 19. Jahrhundert bedeutungslos. Ausser in römischen Zeit teilte der Monte Ceneri das heutige Kantonsgebiet nie in zwei Gerichtsbezirke, weder im Mittelalter unter der Herrschaft von Como und Mailand noch in der frühen Neuzeit. Auch auf kirchlicher Ebene ist keine solche Aufteilung nachweisbar: Die Gerichtsbarkeit der Diözesen Mailand und Como erstreckte sich auf beide Seiten des Monte Ceneri, und die 1884 bzw. 1888 geschaffene apostolische Administratur (ab 1971 Diözese) umfasste den ganzen Kanton Tessin. Selbst die Grenzen der helvetischen Kantone Lugano und Bellinzona (1798-1803) folgten nicht jenen des Sopraceneri und Sottoceneri, weil das Locarnese nicht zum Kanton Bellinzona gehörte. Erst nach der Gründung des Kantons Tessin 1803 setzte sich der Gebrauch der beiden Bezeichnungen allmählich durch.

Als ennetbirgische Vogteien unterstanden Vallemaggia und Locarno den zwölf eidgenössischen Orten, während Bellinzona, Blenio und Riviera von Uri, Schwyz und Nidwalden und die Leventina von Uri verwaltet wurden. Daher war das Sopraceneri generell nach Norden ausgerichtet und stand im 19. Jahrhundert in oft schwieriger Beziehung zum Sottoceneri. Spannungen lösten immer wieder die strukturellen Unterschiede in der demografischen und wirtschaftlichen Entwicklung aus. So gab es im Sopraceneri zwar mehr Landbesitzer, die jedoch häufig über kleine und verschuldete Güter verfügten, während im Sottoceneri die Halbpacht verbreitet war. Die politische Spaltung des Kantons kam darin zum Ausdruck, dass die Konservativen die Nordtessiner Täler gegen die Ansprüche des Sottoceneri und der mehrheitlich liberalen Städte verteidigten. 1814 forderte die Gemeindeversammlung von Bellinzona schliesslich die Zweiteilung des Kantons, und dies nicht nur aus geografischen und politischen Gründen, sondern auch in Anbetracht der unterschiedlichen Geschichte und Traditionen. Mit dem Konflikt um die Wahl des Kantonshauptorts, der auch den schwierigen Prozess der Kantonsgründung widerspiegelte, erreichte der Nord-Süd-Gegensatz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts seinen Höhepunkt. Obwohl im 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Spannungen zwischen dem Sopraceneri und dem Sottoceneri teilweise nachliessen, bestehen vor allem die ökonomischen Unterschiede fort. Zudem folgte die kantonale Verwaltung in der Organisation einiger Bereiche, wie zum Beispiel der Sonderschulen, sozialpsychiatrischen Einrichtungen und Versicherungsgesellschaften, der alten Teilung.

Quellen und Literatur

  • La quistione della separazione nel Cantone Ticino, 1870
  • Ceschi, Ticino
Weblinks
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GND

Zitiervorschlag

Marco Schnyder: "Sopraceneri", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 14.03.2017, übersetzt aus dem Italienischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008550/2017-03-14/, konsultiert am 13.09.2024.