Beinahe zwei Drittel des schweizerischen Territoriums zählen zum Alpenraum, und die Alpen haben die gesamte Geschichte der Schweiz stark geprägt. Es ist somit angebracht, in einem Artikel zusammengefasst die historische Entwicklung der schweizerischen Alpenregionen in einer knappen, grob periodisierenden und nach Themen gegliederten Übersicht zu charakterisieren.
Eine genaue und einheitliche Umschreibung des Begriffs Alpen, wie sie die Geografie aufgrund physischer (Höhenlage), humangeografischer (Besiedlung) oder politischer Kriterien (Gebirgskantone) vorschlägt, kann diesem Artikel nicht zugrunde gelegt werden. Zu unterschiedlich sind die Begriffsinhalte, wenn die historische Entwicklung in den Alpen über alle Zeiten hinweg und unter den verschiedenen Aspekten zur Darstellung gelangen soll. Es bleibt die allgemein verbreitete Vorstellung der Alpen als eines grossen Raumes mit einem ausgeprägten, von Gletschertälern durchfurchten Relief. Zu den Alpen im engeren Sinne hinzuzuzählen sind die Voralpen, deren Geschichte, von regionalen Nuancierungen abgesehen, jener der Alpen in vielem vergleichbar ist. Der Begriff Alpen steht hier vor allem auch als Kontrastbegriff zu Mittelland und Jura, den beiden anderen grossen Naturräumen der Schweiz. Gegenstand ist nur der schweizerische Teil der Alpen (rund 14% des gesamten Alpenbogens), auch wenn viele der hier dargestellten Realitäten auf Teile übertragen werden könnten, die jenseits der im Laufe der Geschichte willkürlich gezogenen politischen Grenzen liegen.
Der Alpenbogen zwischen Marseille und Wien
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Eine umfassende und kohärente Geschichte der Alpen wurde bisher noch nicht vorgelegt. Ein solches Unterfangen steht denn auch erst in den Anfängen, trotz zahlreicher Monografien zu einzelnen Räumen und einiger breiter angelegten Studien zu bestimmten Themen. Deshalb kann der folgende Beitrag selbst für das schweizerische Alpengebiet nicht als Synthese gelten. Er stellt die verschiedenen Fachdisziplinen, Ansätze, Aussagen und Perspektiven der Verfasserinnen und Verfasser zwar zusammen, aber auch nebeneinander. Wiederholungen, Widersprüche und auch Brüche liessen sich so nicht völlig vermeiden. Sie legen Zeugnis ab von der Komplexität des Gegenstandes.
Gebirgsbildung, Gesteinsarten und Oberflächenformen
Autorin/Autor:
Margrit Irniger
Die naturräumliche Gliederung der Schweiz ist weitgehend von der Gebirgsfaltung her bestimmt. Im Tertiär (vor 66-1,5 Mio. Jahren) wurde infolge der Kontinentaldrift der kristalline Untergrund (v.a. Granit, Gneis) zusammen mit den darüber liegenden Sedimenten des sogenannten Tethysmeeres, die sich im Mesozoikum (vor 230-66 Mio. Jahren) am nördlichen Küstensaum (helvetische Decken), im mittleren Tiefseebereich (penninische Decken) und am Südrand (ostalpine Decken) gebildet hatten, in mehreren Schüben von Süden her gehoben, in Falten gelegt und übereinander geschoben. Abtragungsschutt füllte im Lauf der Jahrmillionen das Molassebecken nördlich der Alpen und die Poebene.
Alpen: Geologischer Aufbau und Gesteinsarten in der Schweiz
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Bedingt durch Klimaänderungen stiessen im Pleistozän (vor 1,5 Mio.-10'000 Jahren) die alpinen Gletscher mehrmals bis weit ins Mittelland vor (Eiszeiten). Sie prägten die Morphologie der Alpen besonders stark, bildeten Talstufen aus, überflossen niedrige Pässe und räumten grössere Täler stark aus. Die nacheiszeitlichen Alpenrandseen reichten ursprünglich weit alpeneinwärts, wurden jedoch teilweise aufgefüllt. Bergstürze, Erosion und Ablagerungen der Nacheiszeit veränderten die Oberflächengestaltung vergleichsweise wenig. Zuweilen trennen die auf Bergstürzen entstandenen Waldgebiete Talabschnitte mit unterschiedlicher geschichtlicher Entwicklung (z.B. Pfynwald zwischen Ober- und Unterwallis, Kernwald zwischen Ob- und Nidwalden, Flimser Bergsturz zwischen Surselva und Sutselva). Auch die Schuttkegel, auf denen viele Dörfer (oberhalb der bis ins 19. und frühe 20. Jahrhundert oft überschwemmten Talböden) gebaut wurden, sind grossenteils kurz nach der letzten Eiszeit entstanden.
Klima, Böden, Flora und Fauna
Autorin/Autor:
Margrit Irniger
Zusammen mit den Oberflächenformen und dem Gewässernetz bilden Klima, Böden, Flora und Fauna ein komplexes System von naturräumlichen Voraussetzungen für eine Besiedlung und Bewirtschaftung der Alpen durch den Menschen. Die alpinen Lebensräume weisen demzufolge eine ausgeprägte Vielfalt auf.
Für das Klima der Alpen ist der vertikale Aufbau mit ausschlaggebend. Die Temperaturen nehmen mit der Höhe ab, die Niederschläge dagegen meist zu. Im gesamten Alpenraum sind indes die Niederschlagsmengen sehr ungleich verteilt. Atlantische Meeresluft bringen vor allem die Westwinde. Exponierte Gipfelpartien der Berner und Walliser Hochalpen weisen maximale Niederschläge von über 400 cm pro Jahr auf, während inneralpine Walliser und Bündner Täler Trockeninseln sind (Sitten: 51 cm pro Jahr). Nord- und Südwinde bringen jeweils auf der Luvseite der Gebirge infolge Staulage ergiebige Niederschläge und auf der Leeseite vor allem in quer zum Hauptkamm liegenden Tälern warme, trockene Fallwinde (Föhn).
Der Alpenkamm bildet eine Klimagrenze. Entsprechend liegen die Vegetationsstufen kollin, montan, subalpin, alpin und nival nördlich und südlich davon auf unterschiedlicher Höhe: Auf der Alpennordseite ist die klimatische Schneegrenze bei etwa 2400 m, die Waldgrenze bei etwa 1800 m; auf der Alpensüdseite liegen beide Grenzen ca. 400-600 m höher. Zudem hat das Relief zur Folge, dass Sonneneinstrahlung und Tageslänge kleinräumig stark ändern (Mikroklima). So sind die Wärmeunterschiede zwischen Nord- und Südhang in west-östlich verlaufenden Tälern besonders gross, und die klimatischen Höhenstufen ― damit auch Vegetation und landwirtschaftliche Nutzung ― weichen beträchtlich voneinander ab.
Die in den Alpen vorherrschenden Böden lassen sich anhand der chemischen und mineralogischen Zusammensetzung in Silikat- und Karbonatböden einteilen. Auf der silikatreichen Felsunterlage (z.B. Granit, Gneis) der alpinen Höhenstufe bildeten sich oft flachgründige, steinhaltige oder felsige Böden mit geringer Verwitterungsfähigkeit und einer modrigen, sauren Humusdecke, die sich für eine land- oder alpwirtschaftliche Nutzung wenig eignen (ausgesprochene Nadelwaldböden). Dagegen sind tiefgründige alkalische Karbonatböden (z.B. Mergelkalk, Dolomit, Flysch) eine Grundlage für die Alpwirtschaft. Weitere Faktoren der Bodenfruchtbarkeit sind Temperatur- und Nährstoffhaushalt, Durchlüftung und Gründigkeit, welche Wachstum und Wurzelraum der Pflanzen massgeblich beeinflussen. In den südlichen Alpentälern und Terrassenlagen sind warme, sandige oder steinige Böden charakteristisch, die oft von starken Regen durchwaschen werden, in längeren Trockenperioden jedoch tief austrocknen (z.B. Tessin, Puschlav). Die Bodentypen in den inneralpinen, sonnenreichen, warmen Trockentälern sind durch Wasserarmut gekennzeichnet, während die oft überfluteten Talsohlen mineralstoffreichere und fruchtbarere Böden aufweisen (z.B. Rhonetal, Unterengadin). Ein eher regenreiches und kühles Klima prägt die Böden des nordalpinen Hügellandes. Sie sind tiefgründig, lehmig oder sandig, und schwer durchlässige Mergel führen zeitweise zu Wasserstau. Versumpfungen im Flysch (feinkörnige Schiefer, Sandsteine) zeigen sich durch ein Überwiegen von Binsen sowie anderen für die Viehfütterung wenig beliebten Pflanzenarten. In besonderen Lagen haben sich Hochmoore (z.B. Lenzerheide, Saanenland), Flachmoore (z.B. zwischen Hohgant und Pilatus) und Aueböden gebildet (v.a. Talausgänge der grossen Flüsse).
Die Vegetationsstufen sind am Alpennordrand besonders klar ausgebildet: Nach den alpinen Rasen und Matten folgt eine Krummholzstufe (Legföhre, Grünerle), die sukzessive in einen dichter werdenden Fichtenwald übergeht. Diesem folgt auf der montanen Stufe ein Laubmischwald, vorwiegend mit Buchen und Tannen, denen sich auf der kollinen Stufe Eichen beigesellen. An den trockenen Südhängen des Tessins und Wallis dominieren auf diesen Stufen Flaumeichen oder Blumeneschen, und in den inneralpinen Tälern folgt unter der Fichten- eine Kiefernstufe anstelle eines Laubwaldes. Im Norden bildet die Fichte oder Rottanne die Waldgrenze, in inneralpinen Tälern und in den Südalpen sind es die Lärchen und Arven.
Die postglaziale Vegetationsgeschichte der Alpen zeigt, dass die Flora seit dem Neolithikum massgeblich durch den Menschen verändert worden ist. Die Getreide-, Gras- und Unkrautpollen stiegen gegenüber Fichten- und anderen Baumpollen stark an. Rodung, Wald- und Alpweide lichteten den Wald allmählich auf und drängten ihn zurück. Die besten, tiefgründigen Böden in Talsohlen und an Talrändern dienten als Erste der landwirtschaftlichen Nutzung. Als Folge des Ackerbaus trat in steileren Lagen eine Erosion ein, weshalb neue, flachgründige Standorte gesucht wurden. Die von menschlichen Eingriffen geprägten Pflanzengemeinschaften werden als Kulturformationen bezeichnet, so zum Beispiel die seit der Römerzeit bewirtschafteten Edelkastanienwälder auf der kollinen Stufe der Alpensüdseite.
Die Alpen haben auch eine vielfältige Fauna hervorgebracht. Unterschieden werden die fünf zoogeografischen Regionen Nordalpen, Wallis, Südalpen, Graubünden und Engadin, jeweils unterteilt in Gebirgs- und Talzone. Die darin vorkommenden Wildtierarten sind in Bestand und Zusammensetzung durch den Menschen stark verändert worden. Durch Jagd, Sammel- und Landwirtschaft, später durch Siedlungs- und Meliorationstätigkeiten und neu auch durch Tourismus und Sport hat der Mensch die alpine Fauna massiv beeinflusst. Gewisse Tierarten (z.B. Steinbock, Wolf, Bär, Bartgeier, Murmeltier, Gämse, Luchs) wurden bis ins frühe 20. Jahrhundert vollständig oder beinahe ausgerottet und erst im Zeichen des Naturschutzes zum Teil wieder angesiedelt.
Klimageschichte
Autorin/Autor:
Christian Pfister
Die klimatische Entwicklung im schweizerischen Alpenraum seit dem Ende der letzten Eiszeit lässt sich mit gletscher- und vegetationsgeschichtlichen Methoden rekonstruieren (Klimatologie, Glaziologie). Sie nahm nach gegenwärtigem Kenntnisstand ungefähr folgenden Verlauf: Zur Zeit des Wärmeoptimums zwischen ca. 7400-4900 v.Chr. lag die Schneegrenze ca. 200-300 m höher als heute, die Waldgrenze erreichte ihre maximale Höhe. Seither bewirkten menschliche Einwirkungen (v.a. Rodung, Beweidung, Bergbau, Holzausfuhr) eine Depression gegenüber der potenziell-natürlichen Waldgrenze. Zwei Klimarückschläge (ca. 4100-3800 und 3600-3200 v.Chr.) lassen sich in das Neolithikum datieren. Die längere Warmzeit (ca. 2800-1000 v.Chr.) des späteren Neolithikums und der Bronzezeit ermöglichte die Ausdehnung der Siedlungs- und Wirtschaftstätigkeit in höhere Lagen. Zwischen den kühlen Phasen in der Eisenzeit (ca. 1000-300 v.Chr.) und im Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter fiel die Zeit der römischen Herrschaft in eine warme Periode (ca. 250 v.Chr.-400 n.Chr.), die Siedlung, Wirtschaft und Verkehr in den Alpen begünstigte.
Soldaten werden im Gotthardmassiv von einer Lawine überrascht. Kopie einer Abbildung aus Werner SchodelersEidgenössischen Chronik, in der Ausgabe 1572 vonChristoph Silberysen (Aargauer Kantonsbibliothek, Aarau, MsWettF 16: 2, Fol. 251v; e-codices).
Die hochmittelalterlichen Gunstphasen beschränkten sich auf das 10. und das 13. Jahrhundert (um 1100 kleinerer Gletschervorstoss). Mit einer raschen Abkühlung der Winter begann um 1300 die Kleine Eiszeit. In dieser Zeit zogen insbesondere Häufungen von kalt-feuchten Sommern die alpine Landwirtschaft wiederholt in Mitleidenschaft: Die höher gelegenen Weiden blieben ganzjährig schneebedeckt, der Alpnutzen war infolge häufiger Schneefälle gering, die verregnete Heuernte zog grosse Einbussen an winterlicher Milchleistung nach sich, und viele Feldfrüchte kamen nicht zur Reife. Dies führte vor dem späten 19. Jahrhundert immer wieder zu Mangeljahren. Den Blüemlisalp-Sagen liegt womöglich der Gletschervorstoss von 1340-1370 zugrunde, und um 1600 stiessen Talgletscher wie der Untere Grindelwaldgletscher erneut auf Kulturland vor. Feuchte Winter führten 1718-1727 wiederholt zu Lawinen-Katastrophen. Die sommerliche Kaltperiode von 1812-1860 war die ausgeprägteste seit dem Hochmittelalter. Häufige Starkregen im Spätsommer und Herbst lösten 1829-1876 eine Reihe von verheerenden Überschwemmungen aus, die als Folge der Entwaldung gedeutet wurde.
Im 20. Jahrhundert verfrühte sich die Schneeschmelze bis zum sommerlichen Wärmegipfel (1945-1953) und verspätete sich anschliessend wieder bis um 1980, vorwiegend infolge vermehrter Niederschläge im Winter und im Frühjahr. Während die Häufung von Hochwassern und Murgängen in der zweiten Hälfte der Klimaperiode 1961-1990 nicht als Signal einer sich abzeichnenden Klimaänderung gedeutet werden darf, weist eine aussergewöhnliche Serie von milden Wintern seit Ende der 1980er Jahre auf deutlich veränderte klimatische Verhältnisse hin. Über den Anstieg der Permafrostgrenze liegen noch keine gesicherten Angaben vor.
Ur- und Frühgeschichte
Autorin/Autor:
Philippe Della Casa
Die naturräumliche Dynamik prägt in den Alpen die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt. Sie schränkt die Subsistenzgrundlagen stark ein und verlangt ein grosses Mass an Anpassungsfähigkeit. Dass die Alpen trotzdem sehr früh, bereits vor den letzten Vorstössen des Würmglazials, begangen und spätestens vom Neolithikum an auch dauerhaft besiedelt wurden, erklärt sich aus dem spezifischen Potenzial an Aktivitätszonen und Ressourcen, welche der Alpenraum dem prähistorischen Menschen bot: Hochwild und Alpweiden, Erze und andere Mineralien, Transitwege für den Gütertausch und Handel.
Die Naturgewalten wirken sich allerdings auch massgeblich auf den archäologischen Quellenstand aus. Oft führen sie zur Überschüttung, Umlagerung oder Zerstörung von Fundplätzen. Somit ist die Natur, zusammen mit dem Zufall der Auffindung und der vor allem vor 1970 nur selektiven Forschungstätigkeit an topografisch markanten Stellen, entscheidend an der Ausprägung des Fundbildes mitbeteiligt. Erst moderne, grosse bauliche Veränderungen des Untergrunds ermöglichten die Aufdeckung zum Beispiel der neolithischen Strukturen in 5-8 m Bodentiefe in Tec Nev (Mesocco) oder Sous-le-Scex (Sitten).
Die bisher ältesten Spuren menschlicher Aktivität in den Schweizer Alpen finden sich in einigen Höhlen der Ostschweiz (Drachenloch, Wildenmannlisloch, Wildkirchli), des Simmentals und im Unterwallis (bei Vouvry). Es handelt sich dabei um saisonale Lagerplätze wildbeuterischer Gruppen des mittleren und späten Paläolithikums (vor ca. 50'000-10'000 Jahren). Bald nach dem Rückzug der Gletscher, vom 8. Jahrtausend v.Chr. an, stiessen mesolithische Bevölkerungsgruppen in den Alpenraum vor. Die entsprechenden Belege, etwa aus dem Abri in Collombey-Muraz oder Lagerspuren in Château-d'Œx, sind noch nicht sehr zahlreich, doch lassen die auf über 2000 m im italienischen Teil des Splügengebiets entdeckten Jägerlager weitere Funde für die Schweiz erwarten.
Die Situation änderte sich ab dem 5. Jahrtausend v.Chr., als im Zuge der Neolithisierung Europas Ackerbauer- und Viehzüchtergemeinschaften in die Alpen vordrangen. Die archäologischen Belege stammen nun hauptsächlich aus den Tälern; die Standortwahl der Siedlungen scheint sich an der Qualität der Böden und am Klima orientiert zu haben ― die Station Heidnisch-Bühl (Raron) liefert dazu ein gutes Beispiel. Die neue Subsistenzform des Getreideanbaus, später auch grössere Rodungstätigkeiten, finden ihren Niederschlag in den Pollenprofilen aus alpinen Seen und Mooren.
Fundort Rossplatten, Hospental (Fotografie Philippe Della Casa).
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Die Nutzung natürlicher Ressourcen wurde im Laufe des Neolithikums intensiviert und diversifiziert, so auf dem spätneolithischen Fundplatz Petrushügel (Cazis), der das Spurenbild einer auf Hirschjagd spezialisierten Bevölkerungsgruppe zeigt, oder am Fundort Rossplatten (Hospental), wo Geräte aus dem Bergkristall der umliegenden Klüfte gearbeitet wurden. Bereits zu dieser Zeit war der Alpenraum in das Bezugssystem europäischer Kulturgruppen voll integriert. In Petit-Chasseur (Sitten) installierte sich beispielsweise eine neue Bevölkerung mit charakteristischen Glockenbechern in den Grabinventaren.
Die Bronzezeit (2000-800 v.Chr.) brachte die Fortsetzung des expansiven Trends in der Land- und Ressourcennutzung. Siedlungen finden sich nun auch in entlegenen Talschaften, wie auf Crestaulta (Lumbrein) im Lugnez, und Einzelfunde streuen im Bereich von Alpweiden und hochalpinen Passübergängen. Die Suche nach Erzen zur Gewinnung der neuen Werkstoffe ― Kupfer, später auch Eisen ― mag ihren Teil zur intensivierten Besiedlung beigetragen haben. Erzverhüttung und Metallverarbeitung sind insbesondere im Oberhalbstein durch prähistorische Schlackenhalden und Spuren des Metallhandwerks in der Siedlung auf dem Padnal (Savognin) belegt.
Die eisenzeitliche Raumnutzung (800-15 v.Chr.) scheint sich, trotz eines Rückgangs der Quellen, nicht grundsätzlich von der bronzezeitlichen unterschieden zu haben. Vor allem über das Material aus Gräbern, wo sich, wie in Tamins, nord- und südalpine Formen vermischten, wird die Wichtigkeit des die Alpen querenden Verkehrs und Handels greifbar. Davon zeugen auch die auffällig reich mit Metall ausgestatteten Gräber von Castaneda am Ausgang des Calancatals oder die Hortfunde von Erstfeld und Burvagn mit ihren keltischen Edelmetallobjekten und Münzen.
Römerzeit
Autorin/Autor:
François Wiblé
Übersetzung:
Ansgar Wildermann
Die Römer haben sich lange Zeit kaum um die Alpen gekümmert. Deren Bewohner ― ob Kelten oder Räter ― galten als feindselige Barbaren, und die Gefahren bei der Überschreitung der Alpenpässe wurden in den schrecklichsten Farben ausgemalt. Man wusste jedoch, dass die Alpen überwindbar waren, denn keltische Völkerschaften hatten sie durchquert und Norditalien (Gallia cisalpina) besetzt. Nachdem die Römer dieses im 2. Jahrhundert v.Chr. erobert hatten, schützten sie sich gegen erneute Einfälle durch die Gründung oder den Ausbau befestigter Städte, wie etwa Eporedia (Ivrea) eingangs des Grossen und Kleinen St. Bernhards oder Comum (Como) am Weg zu Splügen-, Septimer- und Julierpass.
Alpenvölker in römischer Zeit
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Um die Alpenübergänge frei zu halten, schlossen die Römer zunächst mit den lokalen Notabeln oder Herrschern Verträge. Ein erster Versuch Caesars, den Grossen St. Bernhard zu besetzen, scheiterte 57-56 v.Chr. vor Octodurus (De bello gallico III, 1-6). Erst 15 v.Chr. ― nach dem Feldzug von Drusus und Tiberius gegen die Räter und Vindeliker, durch welchen die Grenzen des Römischen Reichs bis an Rhein und Donau vorgeschoben wurden ― fiel der schweizerische Alpenraum unter römische Herrschaft. Das Südtessin und das Bergell kamen zur alten Provinz Gallia Cisalpina, die übrigen eroberten Alpentäler zum grossen Verwaltungsbezirk, der Räter, Vindeliker und das Wallis umfasste, und dessen Hauptstadt Augusta Vindelicum (Augsburg) war. Das Wallis wurde später, wahrscheinlich unter Kaiser Claudius (41-54 n.Chr.), abgetrennt und bildete die neue Provinz Vallis Poenina, die längere Zeit (oder immer?) mit der Provinz Alpes Graiae vereint war und vom selben kaiserlichen Statthalter verwaltet wurde. Dieser hatte seinen Sitz zeitweise in Axima (Aime-en-Tarentaise), zeitweise in Octodurus, die beide um 41-47 n.Chr. gegründet worden waren. Man kann diese Neuordnung der Provinzen mit dem Ausbau des Übergangs über den Grossen St. Bernhard zur auf ihrer ganzen Länge befahrbaren Reichsstrasse in Verbindung bringen, denn dieser Pass war die kürzeste Verbindung zwischen Italien und Grossbritannien, das Claudius zu Beginn seiner Herrschaft zu erobern sich anschickte. In dieser Zeit erhielten wahrscheinlich die Stämme des Wallis und die Ceutrones am Fusse des Kleinen St. Bernhards in der Tarentaise das latinische Recht.
Bei der Eroberung des Alpenraums ging es den Römern nicht darum, neue Territorien zu gewinnen, sondern um Beherrschung, Ausbau und Unterhalt der Transitwege. Sie errichteten Zollstationen, die manchmal ältere Zahlstellen ersetzten, und erhoben die Quadragesima Galliarum, eine Gebühr von 2,5%, auf alle Waren, welche die Alpen in beiden Richtungen überquerten. Mit Ausnahme einiger Verbände, welche die Strassen sicherten oder zum Stab der Provinzstatthalter gehörten, wurden in der frühen Kaiserzeit keine Truppen im Gebiet der heutigen Schweizer Alpen stationiert und auch keine Siedlungen befestigt.
Einkünfte boten den Alpenbewohnern der Waren- und Personentransport, der Strassenunterhalt und der Militärdienst, Getreidebau, Imkerei und Viehwirtschaft (Schafe, Ziegen, Schweine, Rinder) sowie die Ausbeutung der Wälder und Bodenschätze (Silber, Kupfer, Eisen, Marmor, Kalk- und Speckstein, Bergkristalle). Holz wurde bis nach Rom ausgeführt, wo auch der Alpenkäse hoch geschätzt war.
Die Romanisierung zeigte vor allem entlang oder nahe der grossen Transitwege Wirkung, sichtbar etwa zwischen Martigny und Massongex, in Chur, in den Villen von Sargans und Nendeln (Eschen) sowie in Bellinzona, weiter an Warenumschlagplätzen, Ausgangspunkten auch zweitrangiger Pässe (z.B. Locarno-Muralto), in regionalen Zentren und Gutshöfen lokaler Notabeln (z.B. Fully, Ardon, Conthey, Sitten, Siders auf der Sonnenseite des Walliser Rhonetals) sowie an den Umspannstellen (mutationes) und Rasthäusern (mansiones), wie zum Beispiel in Riom, schliesslich auch an den Heiligtümern entlang der grossen Durchgangsstrassen. Andernorts war der römische Einfluss sehr viel weniger ausgeprägt, trotz der weiten Verbreitung zahlreicher Importwaren (Geschirr, Schmucknadeln, Gewänder), der Zirkulation römischer Münzen und der Ausbreitung des Lateins als Verkehrssprache. So lebten etwa die Einwohner von Gamsen am Fusse des Simplonpasses, der zwar nur von regionaler Bedeutung war, weiterhin in Hütten wie ihre Vorfahren zur Eisenzeit und hatten keinen Anteil an den Annehmlichkeiten, derer sich viele andere Bewohner des Alpenraums erfreuten. Ein Grund für die offensichtlich schwächere Romanisierung Graubündens war die um 50 n.Chr. eröffnete Via Claudia Augusta, die den Hauptverkehr zwischen Italien und der Region Augsburg östlich an Graubünden vorbei über den Reschen- und den Fernpass führte, bevor sie selbst durch die noch weiter östlich liegende Brennerstrasse abgelöst wurde.
Die Provinz Raetia wurde je nach den Truppen, die dort stationiert waren, durch einen Legaten senatorischen Rangs oder einen Statthalter ritterlichen Standes verwaltet. In der späten Kaiserzeit wurden im rätischen Alpenraum befestigte Höhensiedlungen angelegt, so in Schaan-Krüppel, Castiel-Carschlingg, Tiefencastel und Chur. Das Wallis scheint in jenen unsicheren Zeiten dank der Abwehr am Felsriegel von Saint-Maurice nicht unter den Zügen der Völkerwanderungszeit gelitten zu haben. Spätestens 381 war Martigny Bischofssitz, während für Chur, damals Hauptstadt der Provinz Raetia Prima, erstmals Mitte des 5. Jahrhunderts ein Bischof belegt ist.
Sozialgeschichte
Siedlung, Herrschaftsbildung und Sozialstruktur im Mittelalter
Siedlung und Bevölkerung
Autorin/Autor:
Florian Hitz
Vom 4. Jahrhundert an bildete der nördliche Alpenrand einen Fluchtraum für die gallorömische Bevölkerung, die vor dem Druck der Alemannen zurückwich. In diesem Rückzugsgebiet hielten sich romanische Elemente noch lange. In die südalpinen Täler drangen schon vom späten 6. Jahrhundert an Langobarden ein, die in der Folge aber romanisiert wurden. In den Zentralalpen begann die Landnahme alemannischer Siedler im 7. Jahrhundert. In Rätien setzte die Germanisierung erst im 11. Jahrhundert ein. Die alemannische Besiedlung erreichte in der Trockenzone des Wallis Höhenlagen bis 1500 m. Von hier aus setzte sich die Siedlungsbewegung vom 12. Jahrhundert an fort: Walser zogen zurück ins Berner Oberland, über den Alpenkamm in die angrenzenden südalpinen Hochtäler und ostwärts in die Ausbaugebiete Graubündens. Diese Wanderungen gehörten bereits zum hochmittelalterlichen Landesausbau.
Im Zug der Binnenkolonisation wurden nun auch weniger günstige Siedlungsräume erschlossen: höhere und schattenseitige Hanglagen, Seitentäler, Talhintergründe. Die Besiedlung solcher Gebiete erfolgte vorwiegend durch Einzelhöfe mit Graswirtschaft. Auf Talböden und in Hangfusszonen mit Mischwirtschaft verdichteten sich Hofgruppen und Weiler zu Dörfern. Dieser Prozess setzte sich bis in die frühe Neuzeit fort. In den Haupttälern lagen rechtlich privilegierte Siedlungen bzw. solche mit Zentrumsfunktion: die Bischofsstädte Chur und Sitten sowie einige Klein- bzw. Burgstädtchen. Die wichtigste Form des alpinen Marktorts war jedoch der offene Flecken.
Die demografische Entwicklung im schweizerischen Alpenraum lässt sich für das Mittelalter nur in groben Umrissen nachzeichnen. Die Quellen liefern selten verlässliche Zahlenangaben, am ehesten noch zur Sterbeziffer. Eine sehr summarische Schätzung ergibt für die Nordabdachung der Schweizer Alpen um 1300 eine Einwohnerzahl von 150'000-180'000 bzw. 7-10 Einwohner/km². Anhaltspunkte für Trends sind leichter zu gewinnen: Ein allgemeines Wachstum, das noch im 9./10. Jahrhundert einsetzte, wurde zweimal gebremst. Der erste Rückschlag fiel in das frühe 11. Jahrhundert; er war mit einer Verödung von Kulturland und Siedlungen verbunden (Wüstungen). Die zweite Krise begann mit klimatischer Ungunst im frühen 14. Jahrhundert und verschärfte sich dramatisch mit der Pest von 1349 und den folgenden Seuchenzügen. Auch in diesem Zusammenhang sind wieder Wüstungen zu beobachten. Allerdings scheinen die Seuchen in manchen alpinen Regionen weniger heftig gewütet zu haben als im Flachland. So äusserte sich auch die mit der Epidemie verbundene sogenannte Krise des Spätmittelalters im Alpenraum weniger deutlich. Die Forschung diskutiert gar eine relative Übervölkerung als Push-Faktor für die vom Hochmittelalter an auftretenden Wanderungsbewegungen sowie für die Reisläuferei des Spätmittelalters.
Herrschaftsbildung und -strukturen
Autorin/Autor:
Florian Hitz
Die stabilsten Herrschaftsgebilde im schweizerischen Alpenraum waren im Früh- und Hochmittelalter die Bistümer Chur und Sitten. Beide unterstanden vom 6. Jahrhundert an dem Frankenreich; doch dessen Herrschaftsanspruch setzte sich nur allmählich durch, in Churrätien nicht vor dem 8. Jahrhundert.
Ausgangspunkte für die politische und wirtschaftliche Erschliessung des Alpenraums waren Klöster. Das älteste alpine Kloster war Saint-Maurice im Unterwallis, gestiftet im frühen 6. Jahrhundert durch Sigismund als Hauskloster der altburgundischen Könige (Burgunder). Es bildete auch für das Königreich Burgund ein ideelles Zentrum. Im Zug der karolingischen Erschliessungspolitik erfolgten die wichtigsten Klostergründungen in Rätien: Pfäfers, Disentis und Müstair. Insbesondere Disentis wurde im Rahmen der ottonischen Reichskirchenpolitik und der staufischen Passpolitik weiter gefördert. Eine ganze Reihe von Klöstern und Stiften unterstützte die herrschaftliche Durchdringung der Zentralalpen: Säckingen (Glarus), Schänis (Glarus und Schwyz), Einsiedeln (Schwyz), Fraumünster Zürich und Wettingen (Uri), Luzern-Murbach, Beromünster, Muri und Engelberg (Unterwalden), Interlaken (oberer Aareraum) und das Domkapitel Mailand (Blenio und Leventina, samt Bedretto und Riviera).
Vom 12. Jahrhundert an wurden die Alpentäler in die Herrschaftsbildung des Hochadels einbezogen. Vom Genfersee her drangen die Grafen von Savoyen ins Unterwallis vor, in ständiger Auseinandersetzung mit dem Bischof von Sitten. Aus dem Mittelland erfolgte ein kolonisatorischer bzw. territorialpolitischer Zugriff durch die Grafen von Lenzburg (auf Glarus, Schwyz, Obwalden, Leventina und Blenio) und die Herzöge von Zähringen (auf das Berner Oberland). Neben diesen Dynastenhäusern etablierten sich weitere Hochadlige als Grundherren und Vögte geistlicher Institutionen: die Herren von Rapperswil (Schwyz, Uri), Attinghausen (Uri), Brienz-Ringgenberg-Raron (Uri, Obwalden, Berner Oberland, Oberwallis), Strättligen und Weissenburg (Berner Oberland), vom Turn (Berner Oberland, Oberwallis) sowie die Grafen von Greyerz (am Oberlauf der Saane). Vögte des Bischofs von Chur waren die Herren von Vaz (in der Umgebung von Chur und am Hinterrhein) und von Matsch (Unterengadin, Münstertal, Poschiavo).
Bis in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts gelangten die wichtigsten Herrschaften und Vogteirechte zwischen dem Oberrhein und dem Alpenkamm an das Haus Habsburg. In den Alpentälern konnte sich dessen Territorialherrschaft aber nicht durchsetzen. Die Talschaften von Uri und Schwyz beriefen sich auf ihre unter den Staufern erworbene Reichsfreiheit, einen Status, der in der Folge auch auf Unterwalden ausgedehnt wurde. Um die Mitte des 14. Jahrhunderts entzogen die drei Waldstätte auch das Land Glarus der österreichischen Herrschaft. Bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts kam das Berner Oberland unter die Kontrolle der Stadt Bern, in den Burgunderkriegen 1475 das Gebiet von Aigle.
In Graubünden hielten sich bis zur Mitte des 15. Jahrhunderts die eigenständigen Herrschaften des Hochadels (Toggenburger und Nachfolger, Matsch, Werdenberg-Sargans, Werdenberg-Heiligenberg, Rhäzüns, Sax-Misox) neben der Abtei Disentis. Einige dieser Herren waren führend beteiligt am Oberen Bund (Grauer Bund) um 1400. Dieser und der Gotteshausbund vereinigten sich in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mit dem Zehngerichtenbund, dem vormaligen toggenburgischen Herrschaftsverband, zu den Drei Bünden. In deren Führungsschicht behaupteten sich Vertreter der bischöflichen Ministerialität (Planta, Marmels, Schauenstein, Lumbrein) neben Aufsteigern aus bäuerlichen Schichten (Capaul, Sprecher).
An politischer Bedeutung gewannen im Spätmittelalter die Talschaften, Gerichtsgemeinden und Zenden. Sie erscheinen als typische alpine Vergesellschaftungsform: gross als Gemeinde, klein als protostaatliches Gebilde. Im Wallis wie in Churrätien nahmen die Zenden bzw. Gerichtsgemeinden Einfluss auf die Territorialverwaltung. Der Landrat der Oberwalliser Zenden beanspruchte noch weiter gehende Rechte als der Gotteshausbund, vor allem hinsichtlich der Bischofswahlen. Die Machtstellung der Freiherren von Raron und vom Turn wurde von den Landleuten gebrochen. Der savoyische Adel wurde aus dem Sittener Domkapitel verdrängt, und in den Burgunderkriegen eroberten die Oberwalliser das Unterwallis.
Nach 1400 verstärkten sich die politischen Kontakte zwischen den Talgemeinden der verschiedenen Regionen. Die Waldstätte (ohne Schwyz) verbündeten sich mit den Oberwalliser Zenden. Beide Teile stiessen in der Folge militärisch ins Eschental vor. Nach wiederholten Anläufen gewannen die Innerschweizer bis 1500 die Kontrolle über Leventina und Blenio. Der Obere Bund verbündete sich mit Glarus und nahm im späten 15. Jahrhundert das Misox auf.
Sozialstruktur und Lebensweisen
Autorin/Autor:
Florian Hitz
Weite Teile des Alpengebiets wurden von der Feudalisierung nicht so stark erfasst wie die tiefer liegenden Regionen. Hörigkeit bzw. Leibeigenschaft dürften hier weniger verbreitet gewesen sein. Zudem bot der Landesausbau die Chance der Kolonisationsfreiheit. Eine verbreitete Erscheinung der spätmittelalterlichen Agrarverfassung war der Niedergang der grundherrlichen Eigenwirtschaft. In mehreren alpinen Regionen wurden zudem Feudallasten abgelöst, insbesondere in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, so im Berner Oberland, in Uri und Obwalden. Nicht der Fronhof, sondern die Nachbarschaft (im Oberwallis auch Bauernzunft), ein Lokalverband von bäuerlichen Produzenten, bildete den Mittelpunkt der Wirtschaftsverfassung und der sozialen Organisation. Sie regelte die Nutzung von Flur und Allmende (Einteilung, Abgrenzung, Bewässerung usw.). Die Praxis der genossenschaftlichen Selbstverwaltung (Genossenschaft) führte häufig zur institutionellen Verfestigung: Der Siedlungsverband wurde zur Dorfgemeinde. Die dörflich-bäuerliche Gesellschaft war indessen nicht homogen. Die Schwäche der grundherrlichen Gewalt ermöglichte eine zunehmende Individualisierung der Besitzverhältnisse, wenigstens soweit die nachbarschaftliche Kontrolle dies zuliess. Güter wurden vermehrt geteilt, veräussert und mit Schuldzinsen belastet. Eine so entstandene Oberschicht besetzte die wichtigen Ämter; Niedergelassene ohne Bürgerrecht (Beisassen, Hintersassen) waren benachteiligt. In der Innerschweiz ging damit ein Wandel der Führungsgruppen einher: Geschlechter, deren Macht auf der Grundherrschaft beruhte (Attinghausen, Meier von Silenen, Wolfenschiessen, Hunwil), wichen einer neuen, viehbäuerlichen Führungsgruppe (Beroldingen, Reding, Wirz, Zelger).
Der zentrale Lebensbereich der Alpenbewohner wurde von der Familie bestimmt. Diese bildete auch im Mittelalter die soziale Primärgruppe: eine in Koresidenz lebende Produktions- und Konsumtionsgemeinschaft. Der gemeinsame Haushalt konnte allerdings unterschiedliche Strukturen aufweisen. Zumindest im Spätmittelalter war die Kernfamilie (Eltern und Kinder) der häufigste Typus. Das Zusammenleben von Grossfamilien oder Sippen war seltener als von der älteren Forschung angenommen. Erweiterte Familien (unter Einbezug zusätzlicher Verwandter) traten zwar auf, doch zeigten die entsprechenden Haushalte eine polynukleare Struktur: Sie zerfielen in mehrere Kernbereiche mit jeweils eigenen Feuerstätten.
Die Familienstruktur stand in Wechselbeziehung zur Besitz- und Betriebsstruktur. Während der saisonalen Wanderungen zwischen Tal, Maiensäss und Alp verteilten sich die Familienmitglieder auf die verschiedenen Stufen. Im Allgemeinen besorgten die Frauen den inneren Bereich (Erntearbeiten), die Männer den äusseren (Viehhut und Milchverarbeitung). Diese Geschlechterrollen – die innerhalb der Alpen manche Ausnahme kannten – waren für nicht-alpine Beobachter ganz ungewohnt und im 15. Jahrhundert Ansatzpunkt für anti-eidgenössische Stereotype.
Wandmalerei in der Kirche St. Georg in Rhäzüns, um 1400 (Denkmalpflege Graubünden, Chur; FotografieWolfgang Roelli).[…]
Nicht spezifisch alpin, sondern kennzeichnend für jede mittelalterliche Gesellschaft ländlich-agrarischer Prägung waren lebensweltliche Aspekte wie verbreitete Gewalttätigkeit und anarchisches Kriegertum, öffentlich bekundete Religiosität (mit vielleicht heidnischen Traditionen innerhalb der Volkskultur) oder exzessive, mit der Alltagsarbeit scharf kontrastierende Festfreude. Die Festanlässe waren meist kirchlicher Natur, gefeiert wurde aber mit Vorliebe auf weltliche Weise, und Fasnacht wie auch Kirchweih bildeten den Rahmen für karnevalistische Ausbrüche.
Siedlung, politische und soziale Strukturen in der frühen Neuzeit
Siedlung und Bevölkerung
Autorin/Autor:
Hans Stadler
Die im ausgehenden Spätmittelalter bestehende Siedlungsstruktur im Alpenraum blieb in der frühen Neuzeit weitgehend unverändert. Die Bevölkerung jedoch verdichtete sich, und damit auch das Siedlungsbild. Um 1800 herrschten unter den Siedlungsformen zwei Typen vor: im Wallis, im Tessin und in Graubünden die geschlossene und dichte Dorfsiedlung, in den nordalpinen Tälern neben den Dörfern und Weilern die über Ebenen, Täler und Hänge zerstreuten Einzelhöfe.
Der Anteil der Bevölkerung des Alpenraums an der schweizerischen Gesamtbevölkerung sank 1500-1800 von 50% auf 28%, wobei die Wachstumsrate regional sehr unterschiedlich war. Am langsamsten wuchs die Bevölkerung in den inneralpinen Tälern (Wallis, Graubünden, Berner Oberland), wo sie um 1800 eine Dichte von 9 (Unterengadin) bis 19 Einwohnern (Oberhasli) pro km² erreichte. Ein mittelmässiges Wachstum bis zu einer Dichte von 19 (Bleniotal) bis 32 Einwohnern (Schwyz) pro km² wiesen die Zentralalpen und das nördliche Tessin auf. Markant schneller wuchsen Glarus und Appenzell Ausserrhoden, die um 1800 34 bzw. rund 200 Einwohner pro km² zählten.
Bevölkerung des schweizerischen Alpenraums 1500-1800a
Jahr
1500
1600
1700
1800
Bevölkerungszahl
289 000
390 000
408 000
466 000
Jährliche Wachstumsrate
3‰
0,5‰
1,3‰
Anteil an der Schweizer Bevölkerung
50%
43%
34%
28%
a Berechnungsgrundlage (in % der Gesamtflächen der Kt.): UR, SZ, OW/NW, ZG, GL, AI/AR: 100%; TI: 90%; GR, VS: 80%; BE: 20%; VD: 10%.
Bevölkerung des schweizerischen Alpenraums 1500-1800 - Mattmüller, Markus: «Agricoltura e popolazione nelle Alpi centrali», in: Martinengo, Edoardo (Hg.): Le alpi per l'Europa, 1988, S. 65
Das geringere bevölkerungsmässige Wachstum in den Alpen der frühen Neuzeit erklärt sich kaum aus Epidemien, vor allem nicht mit der Pest, die bis 1668 die Bevölkerung in der gesamten Schweiz immer wieder heimsuchte. Denn die Seuche drang meist von Basel oder Genf her ein, und manche abgeschiedenen Täler blieben bisweilen verschont. Die Zentralschweiz und das Tessin waren dank der strengen sanitätspolizeilichen Massnahmen der oberitalienischen Städte weniger stark betroffen. Hingegen führten Lebensmittelteuerungen im Alpenraum, wo der Getreidebau vielerorts fehlte, zu häufigen Subsistenzkrisen mit Hungersnöten und erhöhter Sterblichkeit. Gleiche Folgen zeitigten die Revolutionsjahre 1798-1803 infolge der Besatzungstruppen und der Alpenfeldzüge fremder Armeen.
Das Wanderungsverhalten schaffte einen Ausgleich zwischen Ernährungsbasis und Bevölkerungsgrösse. Der Bevölkerungsanteil, welcher den Geburtsort dauerhaft verliess, schwankte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in einigen untersuchten Gegenden von 39% (Einsiedeln) über 64% (Appenzell Ausserrhoden) bis zu 75% (Kerns). Die Wanderung erfolgte vor allem von Gemeinde zu Gemeinde, von Randgebieten in Zonen mit aufkommender Heimindustrie, seltener in andere Kantone oder ins Ausland. Die im 18. Jahrhundert Auswandernden bevorzugten die europäischen Länder inklusive Russland; die überseeische Auswanderung spielte erst eine geringe Rolle. Besondere Formen waren die hauptsächlich vom Tessin und von Graubünden aus praktizierte saisonale Berufswanderung (Saisonarbeit) nach Norditalien und in andere Länder sowie die «Schwabengängerei» von Bündner Jugendlichen nach Süddeutschland, welche bis weit ins 19. Jahrhundert anhielt. Der Solddienst spielte für die Alpenregionen eine nur geringfügig grössere Rolle als für das Mittelland. Während nach vorsichtigen Schätzungen gesamtschweizerisch jedes Jahr etwa 1,4% des Rekrutierungsreservoirs für den Solddienst angeworben wurden, waren es zum Beispiel für Uri im 18. Jahrhundert um die 1,5%. Von den Söldnern kehrten rund 50% wieder in die Heimat zurück. Die bevölkerungsgeschichtliche Bedeutung des Solddienstes darf also nicht zu stark veranschlagt werden. Er bot vor allem in Notzeiten eine gewisse Entlastung.
Politische Strukturen
Autorin/Autor:
Hans Stadler
Der Alpenraum wies in der frühen Neuzeit verschiedene Staatsformen auf, die nicht ohne Einfluss auf die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse waren. In den Zentral- und Ostalpen lagen die eidgenössischen Länderorte mit Landsgemeindeverfassungen und ohne Untertanenverhältnisse im Innern. Sie besassen verschiedene Untertanengebiete, vor allem im Tessin. Im Osten lag der Freistaat der Drei Bünde, der sich aus einem halben Hundert unterschiedlich verfasster Gerichtsgemeinden zusammensetzte. Die Landschaft Wallis bestand aus sieben Zenden und dem Unterwallis als Untertanengebiet. Das Berner Oberland war in die Landvogteien Oberhasli, Interlaken, Frutigen, Nieder- und Obersimmental sowie Saanen (mit dem Pays-d'Enhaut) eingeteilt und wurde von Bern regiert, wobei sich das ehemals reichsfreie Oberhasli besonderer Freiheiten im Innern erfreute. Das Greyerzerland wurde von freiburgischen Landvögten regiert. Im ganzen Alpenraum verdichtete sich die lokale politische wie kirchliche Gemeindeorganisation, verbunden mit einem Gewinn an politischer Selbstbestimmung. In den Seitentälern wurden neue Kirchen gestiftet, und Filialkirchen lösten sich von den Mutterpfarreien. Grund- und territorialherrliche Feudalrechte wurden abgelöst, und die lokalen Selbstverwaltungsstrukturen verdichteten sich. All dies zeigt ein gesteigertes politisches Selbstbewusstsein der wachsenden Bevölkerung an.
Sozialstruktur und Lebensweisen
Autorin/Autor:
Hans Stadler
Das Wachstum der marktorientierten Vieh- und Milchwirtschaft war begleitet vom Aufkommen kapitalintensiver Grossbetriebe und förderte eine Oberschicht von reichen Bauern, Vieh- und Käsehändlern, zum Beispiel im Glarner-, Greyerzer- und Saanenland. Magistraten und Aristokraten legten ihr Geld zum Teil in der lukrativen Alpwirtschaft an. Die kollektiven Ressourcen standen im Besitz der alteingesessenen Familien, Zuzüger waren davon ausgeschlossen oder hatten ein kleineres Nutzungsrecht. Durch Beschränkungen wurde auch ein Gleichgewicht zwischen Ressourcen und Bevölkerung angestrebt.
Die Ernährungsweise der Bevölkerung der Alpen war je nach Agrarzone unterschiedlich. In den inneralpinen Zonen mit ausreichendem Ackerbau waren Brot und Mehlspeisen dominant. In den Gebieten der Viehwirtschaft herrschten Milchprodukte (Milch, Käse, Butter, Ziger) vor. Hinzu kamen Gemüse (Kohl, Bohnen, Mangold), gedörrtes Obst und vom 18. Jahrhundert an Kartoffeln. Fleisch kam seltener als im Spätmittelalter auf den Tisch. Brot war keine alltägliche Speise und vor allem den Kranken vorbehalten. Jagd und Sammelwirtschaft (Beeren, Waldfrüchte) konnten die Ernährung bereichern. In normalen Zeiten reichte die Ernährungsgrundlage aus für einen mittelgrossen Haushalt (vielleicht sechs Personen, fünf bis sechs Kühe, ca. 300 m² Pflanzland), der in Krisenzeiten (Missernten, Viehseuchen, Teuerung) jedoch bald an die Hungerschwelle geriet. Die Ernährung insbesondere durch Milchprodukte war durch ein Übermass an Eiweissen und Fetten sowie durch geringe Mengen an wichtigen B-Vitaminen und Eisen gekennzeichnet.
Ansicht von Leukerbad, 1786. Aquarell vonAbraham Samuel Fischer (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Sammlung Gugelmann).
[…]
Vorherrschende Lebensgemeinschaft war die Kernfamilie mit einer durchschnittlichen Grösse von 3,5-5 Personen. Festes Gesinde fand sich nur bei der begüterten Oberschicht. Häufiger waren Taglöhner oder Störhandwerker für gewisse Arbeiten. Vielerorts war die Kooperation von Verwandten und Nachbarn ein festes Element der Arbeitsorganisation (z.B. Hausbau, in den Urner Bergen Wildheutransport, im Unterengadin Pflügen oder Milchverarbeitung im Winter). Überall waren genossenschaftliche oder kommunale Wirtschaftsformen (Alpgenossenschaften, Transportorganisationen) und Ressourcen (Allmenden) für den Familienbetrieb notwendige Ergänzungen. Eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung war insofern nur teilweise vorhanden, als wegen der Stufenbetriebe (Tal, Berg/Maiensäss, Alp) die Mitglieder der Familie im Laufe eines Landwirtschaftsjahres oft längere Zeit (Männer und Frauen im Bergell z.B. rund acht Monate) voneinander getrennt lebten und so jeweils zwar spezifisch landwirtschaftliche (z.B. Käseherstellung, Emden), daneben aber auch alle hauswirtschaftlichen Arbeiten verrichteten. Insgesamt bestanden nebeneinander vielfältige soziale Strukturen, welche sich aus den unterschiedlichen naturräumlichen und historischen Voraussetzungen der verschiedenen Alpenregionen herleiten lassen.
Siedlung, politische und soziale Strukturen im 19. und 20. Jahrhundert
Siedlung und Bevölkerung
Autorin/Autor:
Hans Stadler
Im 19.-20. Jahrhundert erfuhr die Siedlungsstruktur im schweizerischen Alpengebiet zum Teil tief greifende Veränderungen, gefördert vor allem durch die verkehrsmässige und touristische Erschliessung sowie lokal durch die Industrialisierung. Die Konzentration zunächst des Bahn-, später des Strassenverkehrs auf bestimmte Hauptachsen und -täler (zum Beispiel Gotthardroute, Churer Rheintal, Rhonetal) führte (zum Teil nur vorübergehend) zum starken Ausbau verkehrsgünstig gelegener Siedlungen. Die Industrialisierung und die damit verbundene Binnenwanderung förderte die Bildung kleiner Agglomerationen um die städtischen Zentren (z.B. Chur, Sitten, Siders, Brig-Glis). Der Fremdenverkehr liess Touristenorte (z.B. Verbier, Montana, Lenzerheide) praktisch neu entstehen, wobei im 20. Jahrhundert vor allem der Zweitwohnungsbau die Siedlungsbilder stark prägte. Zugleich verfielen entvölkerte Siedlungen in den peripheren Tälern (z.B. Safiental, Seitentäler des Vallemaggia).
Die grossen Flusskorrektionen an Linth, Reuss, Rhein, Rhone und Aare (Gewässerkorrektionen), zahlreiche grossflächige Meliorationen sowie viele Wildbach- und Lawinenverbauungen weiteten das Kulturland aus und dämmten die Naturgefahren ein. Durch diese gewaltigen und vielfältigen Anstrengungen wurde das Leben in den Alpen erleichtert, die landwirtschaftliche Nutzfläche mindestens stabilisiert, teils gar vergrössert und es wurden viele neue Möglichkeiten für den Bau von Gehöften und Siedlungen geschaffen.
Lawinenverbauungen in Fusio. Fotografie von Dany Gignoux (Bibliothèque de Genève).
Trotz konstantem Wachstum der Gebirgsbevölkerung nahm ihr Anteil an der gesamtschweizerischen Bevölkerung stetig ab, da sich diese im Mittelland im gleichen Zeitraum fast vervierfachte. Das Bevölkerungswachstum in den Alpen beruhte auf einer überdurchschnittlichen Natalität, welche sich allerdings seit etwa 1960 rasch dem schweizerischen Durchschnitt anglich. Der Wanderungssaldo der Gebirgskantone war indes konstant negativ, wobei der Solddienst im 19. Jahrhundert schon vor dem Verbot (1859) keine grosse Bedeutung mehr hatte. Auswanderungsziel war vielmehr das zunehmend industrialisierte schweizerische Mittelland. Die Auswanderung ins Ausland, mit besonders starken Wellen 1816-1817, 1850-1855 und 1880-1885, richtete sich hauptsächlich nach Übersee, wo sowohl in Nord- wie Südamerika besondere Schweizer Kolonien entstanden (z.B. New Glarus in den USA, San Jeronimo Norte in Argentinien). Die europäischen Länder behielten ihre Attraktivität für die saisonale Berufswanderung bei, welche insbesondere von Graubünden und vom Tessin aus gepflegt wurde. Russland war Auswanderungsziel für viele Berner Oberländer Käser, während Freiburger Sennen Frankreich bevorzugten. Die Auswanderung, vor allem von jungen Berufsleuten, aus den Alpen hielt auch in den Jahrzehnten der Hochkonjunktur nach 1960 an, oft mangels qualifizierter Arbeitsplätze.
Bevölkerung des schweizerischen Alpenraums 1800-1990a
Jahr
1800
1850
1900
1950
1990
Bevölkerungszahl
375 641
483 829
587 492
732 746
1 003 898
Index
100
128,8
156,4
195,1
267,3
Anteil an der Schweizer Bevölkerung
22,6%
20,2%
17,7%
15,5%
14,6%
a Gebirgskt. UR, SZ, OW/NW, GL, AI/AR, GR, VS; Berner Oberländer Amtsbez. Oberhasli, Interlaken, Frutigen, Nieder-, Obersimmental und Saanen, TI ohne Bez. Lugano und Mendrisio, Waadtländer Gebirgsbez. Pays-d'Enhaut und Aigle.
Bevölkerung des schweizerischen Alpenraums 1800-1990 - Bundesamt für Statistik
Das Ausmass des negativen Wanderungssaldos wurde in Grenzen gehalten durch die Zuwanderung aus dem Ausland, aber auch – im Zuge der Ausbreitung der modernen Verkehrsinfrastruktur, des Tourismus, der Elektrizitätswirtschaft und von Industrieunternehmen – von Fachkräften aus anderen Schweizer Kantonen. Das Bevölkerungswachstum in den Alpen war von Region zu Region unterschiedlich. Die kantonalen und regionalen Zentren (z.B. Sitten, Brig, Chur) und die von der Industrialisierung sowie vom Tourismus bevorzugten Gegenden (z.B. Glarner Unterland, Reussebene, Matter- und Saasertal, Bezirk Interlaken, Schanfigg und Prättigau) wiesen ein kontinuierliches Wachstum auf. Die auf die traditionelle Berglandwirtschaft, die Heimarbeit und das Transportgewerbe angewiesenen Täler und Regionen stagnierten oder wiesen sogar, vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und erneut nach 1950, einen Bevölkerungsverlust auf. Die Gründe sind unterschiedlicher Art: Die beschwerliche bergbäuerliche Lebensweise wurde aufgegeben zugunsten besserer Lebensbedingungen in wirtschaftlich aufblühenden Regionen. Die angestammte Landwirtschaft wurde eingestellt oder extensiviert (z.B. im Blenio- und Verzascatal). Ausgelöst werden konnte die Auswanderung auch durch Strukturveränderungen in der Heimindustrie und im Transportwesen (z.B. im Appenzellerland, am Hinterrhein und im urnerischen Meiental). Wiederkehrende Elementarschäden durch Hochwasser, Lawinen oder Bergstürze, verbunden mit Absatzschwierigkeiten der Landwirtschaftsprodukte und daraus folgender Verschuldung zwangen zum Teil zur Aufgabe der Landwirtschaft (z.B. Elm).
Politische Strukturen
Autorin/Autor:
Hans Stadler
Die Helvetik und die Mediation verursachten auch in den Verfassungen der Gebirgsgegenden wesentliche Änderungen. Alle alten Untertanenverhältnisse wurden 1798 aufgehoben. Das Tessin, Graubünden und die Waadt kamen 1803, das Wallis 1815 als Kantone zur Eidgenossenschaft. In den Kantonen der Alten Eidgenossenschaft kamen zwar nach der Helvetik die Oligarchien des Ancien Régime grösstenteils wieder an die Macht, doch änderten sich ihre Stellung und ihr Einfluss wegen des Verlustes der traditionellen wirtschaftlichen Basis: des Solddienstes und der Landvogteien. Die Regenerationsbewegung drang nur zum Teil in den Alpenraum ein (Tessin 1830, Glarus 1836). Erst die Bundesverfassung von 1848 schuf auch in den Alpen einheitliche verfassungsmässige Voraussetzungen für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Weiterentwicklung. Die Gemeingüter (Allmenden, Wälder, Alpweiden usw.) wurden jedoch von den nutzungsberechtigten Bürgern vielerorts als Korporationen konstituiert, zum Beispiel in den Kantonen Uri, Schwyz und Tessin, und damit dem uneingeschränkten Zugriff der Kantone und Gemeinden sowie der gleichberechtigten Nutzung durch Niedergelassene und Fremde entzogen.
Seit den 1920er Jahren beschäftigt sich die eidgenössische Politik vermehrt mit wirtschaftlichen und sozialen Problemen im Alpenraum. Sie führt Erhebungen durch und leitet Massnahmen ein, welche schwergewichtig auf die Verbesserung der Infrastrukturen, die Hebung der Volkswirtschaft und die Förderung der Ausbildung abzielen: Die Motion des Nationalrats Georg Baumberger löste 1926 eine Verbesserung der Landwirtschaftsgesetzgebung aus. 1943 entstanden die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für die Berggebiete (SAB) und die Schweizer Berghilfe (SBH). 1971 erschien der bundesrätliche Bericht über die gesamtwirtschaftliche Entwicklung für das Berggebiet, aus welchem 1974 das Bundesgesetz über die Investitionshilfe für Berggebiete hervorging. In jüngster Zeit wirkten die vier wasserreichen Gebirgskantone Graubünden, Wallis, Uri und Tessin in Fragen der Wasserwirtschaft zusammen und verteidigten gemeinsam ihre Interessen gegenüber dem Bund und der Elektrizitätswirtschaft.
Sozialstruktur und Lebensweisen
Autorin/Autor:
Hans Stadler
Die soziale und wirtschaftliche Stagnation oder gar Schrumpfung führte in verschiedenen Gebirgstälern (u.a. der Innerschweiz und des Tessins) zu chronisch einseitiger Ernährung mit Mangelerscheinungen (Vitamine, Eisen), vereinzelt zu übermässigem Alkoholkonsum und zu verminderter Volksgesundheit. Die wirtschafts- und sozialpolitischen Massnahmen des Bundes verbesserten die Lage. Durch die unterschiedliche verkehrsmässige Erschliessung der Gebirgstäler und das steigende Wirtschafts- und Zivilisationsgefälle zwischen alpinen Rand- und Zentrumsregionen änderte sich die Sozialstruktur: Wegen der Abwanderung, vor allem vieler junger Frauen, stieg der männliche Ledigenanteil in der bergbäuerlichen Bevölkerung. Die landwirtschaftlichen Betriebe wurden grösser (1990 durchschnittlich 10 ha), wobei einer starken Abnahme der Haupterwerbsbetriebe eine Zunahme der Nebenerwerbsbetriebe (in Uri 1993 40%) gegenübersteht. Nebenerwerbsmöglichkeiten boten die Forstwirtschaft, das Baugewerbe und, je nach Lage, der Tourismus und die Industrie. Letztere führte vor allem im Wallis und in Uri zur Ausbildung des Typus des Arbeiterbauern mit oft langen Pendlerwegen. Die bergbäuerliche Mentalität war meist konservativ, wobei manchenorts eher die männliche (Schächental), andernorts eher die weibliche Bevölkerung (Lötschental) die Traditionen aufrechterhielt. Die Lebensweise der ausschliesslich im 2. und 3. Sektor tätigen Bevölkerung, welche grösstenteils in den industriellen und touristischen Zentren wohnte, weist hingegen kaum noch alpine Besonderheiten auf.
Wirtschaftsgeschichte
Landwirtschaft im Mittelalter
Autorin/Autor:
Florian Hitz
Bis ins Hochmittelalter war die Landwirtschaft des schweizerischen Alpenraums im Wesentlichen eine Subsistenzökonomie. An der Schwelle zum Spätmittelalter – in den westlichen und zentralen Schweizer Alpen um 1300, in den östlichen Alpen etwas später – vollzog sich eine Umstellung: Es entstanden Austauschbeziehungen zum Alpenvorland, vor allem zu den lombardischen Städten. Die nordalpinen Täler konzentrierten ihre Produktion auf die Viehwirtschaft. Sie belieferten im Rahmen des sogenannten Welschlandhandels (Viehhandel) über spezialisierte Viehmärkte, zum Beispiel Arona, Bellinzona, Como und Varese im Süden, Villeneuve (VD) im Westen sowie zahlreiche kleinere Märkte von regionaler Bedeutung im Norden die Städte mit Schlacht- oder Zuchtvieh, Pferden und Milchprodukten und bezogen dafür Getreide.
Diese Marktorientierung galt in deutlich geringerem Ausmass für die inneralpinen Täler. Deren trockenes Klima begünstigte den Ackerbau auch in höheren Lagen, und so blieb ihre Produktionsweise weiterhin gemischt. Etwas Viehhaltung benötigten diese Gegenden nur schon, um über Dünger für die Ackerböden und Zugtiere für die Pflüge zu verfügen, wobei allerdings in den unwegsamen Gegenden der Hackbau vorherrschte. Die Graswirtschaft war manchenorts so weit erschwert, dass eine Bewässerung der Wiesen erforderlich war. Besonders aufwendig waren die Wasserleitungssysteme (Bisses, Suonen) des mittleren Wallis.
Die Wirtschaftsweise widerspiegelte sich in der Flurorganisation. Wo Graswirtschaft vorherrschte, war die Flur vergleichsweise grossflächig parzelliert; Einzelhöfe verfügten über eigene, arrondierte Fluren. In Gebieten mit Mischwirtschaft war der Parzellierungsgrad höher, und die Gemengelage der Äcker bedingte eine Koordination des Anbaus. Hatte die hochmittelalterliche Kolonisationsbewegung eine Ausdehnung der Ackerflur gebracht, so führte die Konzentration auf Viehwirtschaft im Spätmittelalter zur Umwandlung von Äckern in Heuwiesen. Eine besondere Ausprägung erfuhr dieser Wandel der Nutzungsweise in der sogenannten Wechselwirtschaft (Feldgraswirtschaft, Egartenwirtschaft), die in den nordalpinen Gebieten vorherrschte: Man liess Äcker, die während zwei bis fünf Jahren ohne Unterbruch bebaut worden waren, zu Wiesen grün fallen, um sie nach drei bis zehn Jahren wieder zu Äckern umzubrechen. Damit wurde ohne Brache eine Regeneration der Böden erzielt. In anderen, inneralpinen Gebieten, etwa im Wallis, in Südbünden und im Tessin, war der Dauerfeldbau verbreitet, d.h. die Getreidefelder wurden Jahr für Jahr ohne Unterbruch angesät, im Südtessin sogar noch eine Nachfrucht gepflanzt. Wo Dauerfeldbau und Wechselwirtschaft nebeneinander existierten, scheint Ersterer in einem siedlungsnahen Bereich (infield), Letztere in den flexibler genutzten Randzonen (outfield) betrieben worden zu sein. Aufgrund des erhöhten Regelungsbedarfs im intensiv genutzten «Innenfeld» dürfte die Fruchtfolge hier innerhalb der Nachbarschaft abgestimmt worden sein. Eine Dreizelgenbrachwirtschaft ist nur am Rande des schweizerischen Alpenraums nachgewiesen. Aus dem Wallis sind aber immerhin verzelgte Ackerfluren bekannt, so vom 13. Jahrhundert an ein Zelgenbrachsystem (zwei Zelgen) in der Gegend von Sitten.
Als sich die nordalpine Landwirtschaft auf Viehwirtschaft verlagerte, entsprach dies zunächst einer Extensivierung: Die Krise des Spätmittelalters verminderte die Zahl der Arbeitskräfte, und Viehhaltung war weniger arbeitsintensiv als Feldbau. Dafür war sie kapitalintensiver und versprach grössere Erlöse. Hier bot sich eine Investitionsmöglichkeit für Stadtbürger und Klöster, und zwar durch die Verpachtung von Vieh (Viehverstellung). Grosse Viehhalter konnten sich entlasten, indem sie Teile ihrer Bestände zur Sömmerung an kleine Betriebe verliehen. Bei den Gemeinden und den Alpgenossenschaften waren solche Praktiken allerdings nicht gern gesehen: Oft war es verboten, Vieh von Verbandsfremden in die Alp zu stellen, und Alpgenossen durften nur das mit eigenem Heu gewinterte Vieh sömmern.
Verkündigung an die Hirten. Wandmalerei in der Kirche St. Georg in Rhäzüns, um 1400(Denkmalpflege Graubünden, Chur).[…]
Entscheidend für den Aufschwung der Viehwirtschaft war die spätmittelalterliche Verlagerung von Klein- auf Grossvieh. In geringerem Umfang war Grossvieh allerdings bereits zuvor gehalten worden; die Klöster hatten seine Zucht gefördert. Führend war zum Beispiel das Land Schwyz, das auf Traditionen der Einsiedler Klosterökonomie aufbauen konnte. Auch in diesem Bereich erfolgten die Umstellungen komplementär zur Entwicklung der städtischen Wirtschaft. Das zeigt sich am Beispiel von Freiburg: Hier verlagerte sich die zugleich intensivierte Schafhaltung im 14. Jahrhundert aus den Alpen in die Nähe der Stadt, um das aufblühende Textilgewerbe zu beliefern. Mit dessen Rückgang im Laufe des 15. Jahrhunderts sank sie zur Bedeutungslosigkeit herab und wich einer auf Milch- und Käsewirtschaft ausgerichteten Grossviehhaltung. Anders verhielt es sich etwa in Südbünden, wo das Kleinvieh bis in das ausgehende Spätmittelalter dominierte.
Die zunehmende Rinderhaltung bedingte eine grössere Produktion von Rauhfutter, das meist in mehreren Ställen (Gadenstätten) pro Betrieb ausgefüttert wurde, und damit eine Ausdehnung der Alpwirtschaft. Die Dezentralisierung der Betriebe, d.h. die Verteilung ihrer Güter auf mehrere Höhenstufen, war im schweizerischen Alpenraum des Spätmittelalters eine weit verbreitete Erscheinung. Am ausgeprägtesten zeigte sie sich im mittleren Wallis, wo manche Betriebe Weinbau an den untersten Hängen des Rhonetals und Alpwirtschaft bis in Lagen um 2500 m in sich vereinigten. Je höher die Stufen lagen, desto ausschliesslicher dienten sie einer extensiven Weidewirtschaft. Die Erschliessung der obersten Stufe für die Alpwirtschaft erfolgte hauptsächlich vom Hochmittelalter an. Daraufhin entstanden in der Zwischenstufe als eigentliche Rodungsinseln Maiensässe: Nebenbetriebe mit Sennerei (Senn), privaten Wiesen und Allmendrechten.
Jahreswanderung eines viehwirtschaftlichen Dreistufenbetriebs
[…]
Die Besitz- und Betriebsformen in der Alpwirtschaft waren unterschiedlich. Idealtypisch ist eine Entwicklung von der familienwirtschaftlichen Einzelalpung zur Integration in grössere Verbände, parallel zur Siedlungsverdichtung. Oft wurden Alpweiden von Grundherren an Hofgenossenschaften oder Nachbarschaften verliehen, die sich dann als Korporationen verselbständigten. Daneben gab es Gemeindealpen, insbesondere in Graubünden und Glarus. Alpen, die in Gemeindebesitz standen, wurden oft auch genossenschaftlich betrieben. Allgemein überwog die Genossenschaftssennerei im inneralpinen Gebiet, die Individualsennerei dagegen im nordalpinen Bereich. Der Betrieb als solcher wurde immer eingehender geregelt (Alprechte). Das älteste Beispiel einer schriftlichen Alpordnung ist in den Acta Murensia aus der Mitte des 12. Jahrhunderts überliefert, worin die Abtei Muri für ihren stark gestreuten Innerschweizer Alpbesitz unter anderem Nutzungsbestimmungen, Abgabenforderungen und Herstellungsanleitungen für Milchprodukte festhielt.
Da die Alpweiden von den Siedlungskernen her gesehen in einer Rand- bzw. Grenzzone lagen, entstand hier bei zunehmender Nutzungsintensität jeweils Konkurrenzdruck. Streitigkeiten um Alpungsrechte hatten oft territorialpolitische Bedeutung, so zum Beispiel im Zuge der Expansion der Schwyzer und Urner gegenüber den Klöstern Einsiedeln (Marchenstreit) bzw. Engelberg, aber auch gegenüber den Glarnern. Die Auseinandersetzungen um Alpweiden waren immer auch Nutzungskonflikte: vor allem um Weidegrenzen, um befristete Weiderechte auf fremdem Boden und um Wegrechte. Die Gefahr der Übernutzung bestand aber auch innerhalb der einzelnen Alpgenossenschaften. Daher wurden die Nutzungsrechte beschränkt, entweder durch die Zuteilung von einzelnen «Stössen» bzw. sogenannten Kuhrechten oder nach der Winterungsregel (d.h. nach der Anzahl Kühe, die ein Alpgenosse mit dem Heuertrag seiner eigenen Güter durch den Winter brachte).
Mit der Sömmerung wachsender Viehbestände auf den Hochweiden musste auch die Allmend im Tal zur Produktion des Winterfutters herbeigezogen werden. Deshalb wurden Allmendstücke zur Sondernutzung als Wiesen ausgegeben, d.h. von der Nachbarschaft an einzelne Genossen verlost, verpachtet oder verkauft. Auf derart privatisierten und eingehegten Gütern (Einschlagsbewegung) lasteten jedoch weiterhin bestimmte kollektive Nutzungsrechte, besonders der allgemeine Weidgang im Frühling und Herbst (Gemeinatzung, Etzweide).
Neben Äckern und Wiesen bestanden Sonderkulturen. Deren wichtigste, der Weinbau, war in den unteren Bereichen der südalpinen Täler sowie im mittleren und unteren Wallis verbreitet, in etwas geringerem Ausmass im Churer Rheintal und am Vierwaldstättersee. Im Gartenbau wurden überdies Obst, Gemüse und Faserpflanzen gezogen. Einzelne Obstbäume konnten aber auch als Sondereigentum in der Allmende gepflanzt werden.
Das ländliche Handwerk und Gewerbe war zunächst noch vielfach in die grundherrliche Organisation eingebunden, unterstand also dem grundherrlichen Bann. Das gilt nicht zuletzt für die Verarbeitung von Nahrungsmitteln, für Einrichtungen wie Mühlen, Backhäuser, Trotten und Fleischbänke, aber auch für Gaststätten. Im Spätmittelalter waren Getreidemühlen, zum Teil verbunden mit Sägewerken, Hanfreiben, Gersten- und Knochenstampfen sowie Tuchwalken, im Alpenraum eine allgemeine Erscheinung. Verbreitet waren auch Schmieden. Die übrigen ländlichen Nebengewerbe befassten sich mit der Gewinnung von Rohstoffen und Energieträgern oder mit dem Warenverkehr. Harzgewinnung und Köhlerei betrieb man eher als Kleingewerbe. Bergbau und Säumerei wurden im Spätmittelalter zunehmend professionalisiert (siehe Kapitel Bergbau bzw. Verkehr).
Landwirtschaft in der frühen Neuzeit
Autorin/Autor:
Hans Stadler
Die alpine Wirtschaft blieb in der frühen Neuzeit von der Landwirtschaft geprägt, die vom 17. Jahrhundert an zunehmend durch Heimarbeit ergänzt wurde. Bis um 1800 hatten sich drei recht deutlich unterscheidbare Agrarzonen herausgebildet: die inneralpine Zone, das sogenannte Hirtenland und – im Übergangsgebiet zu den Voralpen – die Feldgraszone. Die vielfältige landwirtschaftliche Produktion der inneralpinen Zone diente nach wie vor hauptsächlich der Selbstversorgung. Das nördlich des Alpenhauptkamms gelegene «Hirtenland» hatte sich weiter in Richtung einer marktorientierten Vieh- und Milchwirtschaft spezialisiert. In der Feldgraszone des hügeligen Alpenvorlands wurde neben Vieh- und Milchwirtschaft weiterhin Ackerbau betrieben.
Für die Entwicklung der Alpwirtschaft von oft entscheidender Bedeutung waren die Eigentumsverhältnisse. Wo das Privateigentum vorherrschte – wie zum Beispiel in Glarus, im Appenzellerland, in Schwyz, Bern und Freiburg –, waren Kapitalinvestitionen oder Grosspachten reicher Grossbauern, Küher (Küherwesen) oder auch frühindustrieller Unternehmer und damit verbundene Innovationen möglich. Wo hingegen das Korporations- oder Gemeindeeigentum vorherrschte – vor allem in Graubünden, im Wallis oder in Uri –, blieb die Alpwirtschaft den traditionellen Formen verhaftet und die Landwirtschaft eher erneuerungsfeindlich.
Der im Mittelalter entstandene und im 16. Jahrhundert schon fest verankerte Welschlandhandel nahm während des Dreissigjährigen Kriegs bedeutende Dimensionen an, welche danach trotz mancherlei Einbrüchen (Viehseuchen, politische Spannungen) anhielten. Er griff über den engeren Alpenraum hinaus in die Gebiete von Luzern, Zug, Zürich und St. Gallen, ins Bernbiet, in die Freiämter und in die voralpinen Gegenden Freiburgs und der Waadt über. Im 18. Jahrhundert wurden jährlich schätzungsweise 6000-10'000 Stück Grossvieh allein auf den Tessiner Märkten verkauft.
Vom 17. Jahrhundert an gewannen Milchwirtschaft und neue Sorten von Käse (Greyerzer, Sbrinz) an Bedeutung. Diese Labhartkäse waren gut lagerbar und eigneten sich für den weitreichenden Export. Führend in der neuartigen Käseproduktion waren das Greyerzerland, das Pays-d'Enhaut und das Saanenland, wo während des 17. und 18. Jahrhunderts Äcker und Wiesen zugunsten von Weiden stark zurückgedrängt wurden. Auch in Unterwalden nahm die Käseproduktion zu. Bekannt wurde auch der fette Ursner Käse. Absatzmärkte waren wiederum das schweizerische Mittelland, Norditalien und, über den Genfersee und die Rhone erreichbar, auch Marseille (Schiffsbesatzungen). 1720-1730 wurden pro Jahr durchschnittlich 742 t Käse allein über den Gotthard geführt, 1790-1797 waren es 1085 t. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zeichnete sich die aufkommende Konkurrenz der mittelländischen Landwirtschaft ab, die ihre bis dahin untergeordnete Vieh- und Milchwirtschaft ausweitete.
Besondere Bedeutung kam der Einführung der Kartoffel im Alpenraum zu. Der Anbau dieser Frucht, welche im feuchten und eher kühlen Klima am Alpennordhang gut gedeiht, setzte im frühen 18. Jahrhundert zuerst in den Tälern der Vieh- und Milchwirtschaftszone ein. Weil hier kein Flurzwang bestand und die Naturalzehnten schon lange aufgehoben waren, standen dieser Neuerung weniger Hemmnisse als im Mittelland im Wege. Die Kartoffel breitete sich rasch aus und war für die Einwohner des «Hirtenlandes» willkommener Ersatz für fehlendes Getreide. Sie war hier gegen 1800 überall verbreitet, während sie in den inneralpinen Zonen erst später heimisch wurde.
Ausgehend von St. Gallen und Zürich, breitete sich im Voralpen- und Alpenraum der Ost- und Zentralschweiz im 17. und vor allem im 18. Jahrhundert die textile Heimarbeit aus (Wolle, Seide, Baumwolle). Am intensivsten erfolgte die Entwicklung in Appenzell Ausserrhoden und Glarus. Die Landwirtschaft verlor hier ihren Vorrang und passte sich den Bedürfnissen der wachsenden Heimarbeiterbevölkerung an. Der arbeitsintensive Ackerbau verschwand weitgehend. Die alpwirtschaftlichen Produkte dienten hauptsächlich der Ernährung der einheimischen Bevölkerung. Die Landwirtschaftsbetriebe wurden zu Nebenerwerben mit kleinem Viehbestand, in Glarus auch mit beachtlichem Obstbau.
Landwirtschaft im 19. und 20. Jahrhundert
Autorin/Autor:
Hans Stadler
Die Beschäftigungsstruktur in den Gebirgskantonen verschob sich im 19. und 20. Jahrhundert, gleich wie in der ganzen Schweiz, kontinuierlich vom 1. zum 2. und etwa seit den 1960er Jahren in besonderem Masse zum 3. Sektor.
Der Wandel der Wirtschaftsstruktur in den Alpen veränderte die Berglandwirtschaft grundlegend. Der Anteil der landwirtschaftlichen Bevölkerung in den acht Gebirgskantonen schwankte um 1870 zwischen 74% (Wallis) und 19% (Glarus), 1980 aber nur noch zwischen 21,6% (Appenzell Innerrhoden) und 1,6% (Tessin) der Gesamtbevölkerung. Die Bauernsame erlitt auch in absoluten Zahlen einen starken Rückgang. 1870-1910 stieg die Quote nur in Appenzell Innerrhoden um 14,7% und im Wallis um 4,5%. In allen anderen Gebirgskantonen ging sie um 1,1% (Nidwalden) bis 17,9% (Tessin) zurück. Im 20. Jahrhundert war der Rückgang noch dramatischer. Um 1980 war der landwirtschaftliche Bevölkerungsanteil auf zwischen 8% (Tessin) und 55% (Appenzell Innerrhoden), im Durchschnitt aller Gebirgskantone auf 26% (rund 43'000) des Bestandes von 1910 (rund 160'000) geschrumpft; die Bergbauern stellten 15% der landwirtschaftlichen Bevölkerung der Schweiz.
Feldarbeit im Val Müstair um 1920 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Eidgenössisches Archiv für Denkmalpflege, Sammlung Wehrli).
[…]
Die alpinen Wirtschaftsräume verloren allmählich ihre noch um 1800 charakteristischen Eigenarten. Betrieben in den inneralpinen Tälern des Wallis, des Tessins und Graubündens noch um 1905 50% bis über 70% aller bäuerlichen Güter Getreidebau, so reduzierte sich die Ackerfläche in diesen Kantonen bis 1980 um mehr als 46% von 15'805 ha auf 8488 ha. Ihr Anteil am gesamten landwirtschaftlichen Areal war mit durchschnittlich 7,9% aber immer noch beachtlich, wodurch sich die inneralpine Landwirtschaft auch heute noch erheblich von derjenigen der nordalpinen Gegenden unterscheidet, wo überall weniger als 1% des gesamten Landwirtschaftsareals zur offenen Ackerfläche zählt. Von einer besonderen inneralpinen Zone kann jedoch nicht mehr gesprochen werden, da die dafür charakteristische Selbstversorgung heute nirgends mehr anzutreffen ist. Die Industrialisierung verwischte auch die Grenzen zwischen «Hirtenland» und Heimarbeitsgebieten.
Die Gesamtfläche des landwirtschaftlichen Bodens (landwirtschaftliche Nutzfläche, Sömmerungsweiden) in den schweizerischen Alpen ist seit 1800 weitgehend konstant geblieben, da Verluste an die Siedlungsfläche durch Meliorationsgewinne zum Teil aufgefangen werden konnten. Einzig im Tessin ging sie im 20. Jahrhundert drastisch zurück (1905-1980 um über 35%). Der Viehbestand in den Gebirgskantonen nahm 1866-1978 zwar von 339'482 auf 368'562 Grossvieheinheiten zu, sein Anteil am gesamten Schweizer Vieh sank aber von 28% auf 14%. Diese Entwicklung wies indes grosse regionale Unterschiede auf: Die meisten Gebirgskantone verzeichneten Wachstumsraten, am stärksten Nidwalden, Appenzell Innerrhoden und Obwalden. Hingegen hatten Graubünden, Wallis und Tessin rückläufige Viehbestände.
Der Export von Vieh und Milchprodukten aus den Alpen in die Lombardei wuchs bis um 1850. Ein Grossteil davon nahm den Weg über den Gotthardpass. Durch den Ausbau der Bahnlinien nach 1882 wurde der Markt grossflächiger. Zudem entwickelte sich der Viehbestand in den nichtalpinen Gebieten der Schweiz nach der Liberalisierung der Agrarverfassung, der Aufteilung des Gemeinbesitzes und aufgrund der intensivierten Bodenbewirtschaftung viel dynamischer als in den Alpen. Er wuchs 1866-1978 um 112% auf rund 1'791'179 Grossvieheinheiten (86% des Schweizer Viehs). Daraus wird ersichtlich, dass die traditionelle Arbeitsteilung zwischen dem mittelländischen «Kornland» und dem alpinen Viehwirtschaftsgebiet in neuerer Zeit nur mehr beschränkte Gültigkeit beanspruchen darf.
Schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts zeichnete sich eine Konkurrenz zwischen Alp- und Talkäsereien ab. Diese Entwicklung verschärfte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts rasch. Zudem entstand, ausgehend von der Westschweiz, im Mittelland ein dichtes Netz von genossenschaftlichen Käsereien, welches nach 1850 auch den Alpenraum zu erfassen begann und im 20. Jahrhundert verbandsmässig straff organisiert wurde. Dem Beispiel der Milchwirtschaft folgend, entstanden zahlreiche, für die Berglandwirtschaft wichtige Zusammenschlüsse: Der 1863 gegründete Schweizerische Alpwirtschaftliche Verein bemühte sich um die Förderung der Alpwirtschaft. 1844 wurde der Bauernverein Graubünden gegründet, dessen Beispiel bis 1908 alle Gebirgskantone folgten. Die Kantonalvereine schlossen sich alle dem seit 1863 bestehenden Schweizerischen Landwirtschaftlichen Verein an. Im 20. Jahrhundert sind viele weitere Organisationen entstanden, welche die Berggebietsförderung zum Zweck haben. 1896 gründete Graubünden als erster Gebirgskanton eine landwirtschaftliche Fachschule. 1915 folgte das Tessin, 1918 Glarus, 1920 Wallis, 1925 Schwyz, 1938 Uri und 1957 Obwalden. Seit 1924 sind auch fünf Bäuerinnenschulen entstanden.
Seit dem «Bundesbeschluss betreffend die Förderung der Landwirtschaft durch den Bund» von 1884 hat sich die Eidgenossenschaft in wachsendem Masse für die Belange der Landwirtschaft in den Alpen engagiert (Agrarpolitik). Aus Sorge über die zunehmende Entvölkerung vieler Bergtäler sah das 1929 revidierte Landwirtschaftsgesetz vor, dass die Berggegenden und die kleinbäuerlichen Betriebe besonders unterstützt werden sollten. Daraus entwickelte sich ein vielfältiges Netz von Hilfsmassnahmen, welches laufend ausgeweitet und verbessert wurde: Förderung des Viehabsatzes, Entschuldungs- und Investitionskredite, Familien- und Kinderzulagen, Maschinensubventionen für die seit den 1950er Jahren stark zunehmende Mechanisierung, Kostenbeiträge an Rindviehhalter, Kuhalpungsbeiträge, Flächenbeiträge, Verbesserung der Wohnverhältnisse usw. Diese Massnahmen, verbunden mit einer verbesserten Erschliessung durch Strassen und Seilbahnen, technisierten die bergbäuerliche Arbeit, vergrösserten die Betriebsstrukturen der Berglandwirtschaft und beeinflussten insgesamt die bäuerliche Lebensweise und Mentalität.
Die Agrarpolitik des Bundes erfolgt koordiniert mit den Kantonen und abgestützt auf sie, doch werden das Engagement und dadurch auch der Einfluss des Bundes immer grösser. Trotz der umfangreichen Stützungsbemühungen erreichten die Bergbetriebe 1960-1980 nur 50-70% des paritätischen Lohnanspruchs, während die Talbetriebe in der gleichen Periode 80-110% erwirtschaften konnten. Am Ende des 20. Jahrhunderts tendiert die Landwirtschaftspolitik der Schweiz dahin, den Bergbauern durch produktionsunabhängige, an ökologische Vorschriften gebundene Direktzahlungen ein Grundeinkommen zu verschaffen und sie damit für gemeinwirtschaftliche Leistungen, zum Beispiel für die Erhaltung der Kulturlandschaft, zu entschädigen. Förderliche Bestrebungen in der alpinen Land- und Forstwirtschaft werden zunehmend auch auf internationaler Ebene unternommen, so im Rahmen der 1972 gegründeten Arbeitsgemeinschaft Alpenländer (Arge Alp), die sich mit grenzübergreifenden Themen des zentralen und östlichen Alpenraums befasst und der neben deutschen und österreichischen Bundesländern, italienischen Regionen und autonomen Provinzen auch die drei Kantone Graubünden, St. Gallen und Tessin angehören. In einer vergleichbaren internationalen Gemeinschaft des westlichen Alpenraums, der 1982 gegründeten Communauté de travail des Alpes occidentales (Cotrao), sind neben französischen und italienischen Regionen die Kantone Genf, Waadt und Wallis vertreten. Die Alpenkonvention von 1991 (Österreich, Schweiz, Italien, Frankreich, Deutschland, Slowenien, Liechtenstein, Monaco) verpflichtet die Mitgliedsländer, die Berglandwirtschaft standortgerecht und umweltverträglich zu betreiben sowie die Bauern für ihre gemeinwirtschaftlichen Leistungen zu entgelten.
Waldnutzung
Autorin/Autor:
Anton Schuler
In der Diskussion um die Bedeutung des Waldes im Gebirge stand oft die Schutzwirkung gegen Naturgefahren wie Lawinen, Hochwasser und Steinschlag im Vordergrund. Von diesbezüglichen Erwartungen gingen seit dem Mittelalter wesentliche Impulse für politische Aktivitäten und rechtliche Erlasse zur Walderhaltung und -nutzung aus. Sogenannte Bannbriefe für einzelne Wälder (Bannwald) gehören zu den ältesten Dokumenten der Berggebiete. Sie wurden vom 14. Jahrhundert an zunehmend zum Schutz von Siedlungen und Verkehrswegen, aber auch von landwirtschaftlich genutzten Flächen vor natürlichen Bedrohungen erlassen. Zugleich regelten sie indes die vielfältige Nutzung der Wälder und sicherten insbesondere durch die Beschränkung der Nutzungsrechte die Holzversorgung bestimmter Berechtigter oder der Allgemeinheit. Die konfliktträchtige Kombination von Schutz- und Nutzungsinteressen und ihre rechtliche Sicherstellung führte in gewissen Alpentälern auch zur Entstehung von Privatwald (z.B. Davos). Der von den Bannwäldern ausgehende geheimnisvolle Ruf liess die Vorstellung eines vorausschauenden, durch Naturverbundenheit geprägten, eigentlich nachhaltigen Umgangs mit der Umwelt entstehen. Dass dies mit der Wirklichkeit im Mittelalter und in der frühen Neuzeit nicht übereinstimmte, wurde spätestens aus den Berichten der Forstpioniere am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert klar.
Die Wälder vieler Gebirgstäler spielten eine wichtige Rolle für die Energie- und Rohstoffversorgung für das Gewerbe und die sich entwickelnden Industrien in einem weiteren Umkreis, sofern die Voraussetzungen für den Holztransport auf den grösseren Flüssen günstig waren (Holzwirtschaft). Beispielsweise lag im Gebiet des heutigen Nationalparks im Unterengadin das Schwergewicht der Holznutzung im Hoch- und Spätmittelalter beim Bergbau (Buffalora, Il Fuorn, S-charl). Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts verlagerte es sich auf die Holzausfuhr auf dem Inn zugunsten der Saline Hall im Tirol. Aber nicht nur auf dem Inn, sondern auf beinahe allen Schweizer Flüssen und Bächen wurde teilweise bis Ende des 19. Jahrhunderts Holz getriftet und geflösst (Flösserei). Die wirtschaftliche Bedeutung der Bergwälder für die Binnenversorgung, aber auch für den Holzexport ist eng verknüpft mit der technischen Entwicklung, sowohl hinsichtlich der Erschliessung (Transportsysteme) wie auch der Nachfrage (Industrialisierung, Substituierung durch andere Rohstoffe und Energieträger wie Kohle, Erdöl, Elektrizität).
Riese (im Tessiner Dialekt sovenda). In der Leventina wurden im 18. Jahrhundert solche Rutschen zum Holztransport eingesetzt. Radierung vonJohann Rudolf Schellenbergaus Hans Rudolf Schinz' Beyträge zur nähern Kenntniss des Schweizerlandes, 1784 (Zentralbibliothek Zürich).
Die Versorgung der einheimischen Bevölkerung mit vielfältig verwendetem Holz und anderen Produkten des Waldes (Harz, Streue, Beeren, Pilze usw.) ging von regional sehr unterschiedlichen Voraussetzungen aus. An der oberen Waldgrenze, zum Beispiel im Avers, hatte sich die Bevölkerung damit abzufinden, dass wenig Holz vorhanden war. Sie behandelte dieses denn auch als Kostbarkeit. Im Urserntal andererseits war die Bedeutung der Wiesen und Matten für die Landwirtschaft so gross, dass in Kauf genommen wurde, das Holz auf beschwerliche Weise durch die Schöllenenschlucht heraufzuführen. Ähnliche Verhältnisse werden aus Grindelwald geschildert. In den wichtigsten Ausfuhrgebieten trat die von der finanziell interessierten Obrigkeit geförderte Ausbeutung in Konkurrenz zur einheimischen Holzversorgung bzw. zu den anderen Funktionen der Gebirgswälder.
Die bis ins 19. Jahrhundert anhaltende unkontrollierte Ausbeutung der Gebirgswälder, aber auch der wachsende Arealbedarf der Landwirtschaft führte zu einer Entwaldung, die im 19. Jahrhundert vermehrt als Ursache für viele Überschwemmungen wahrgenommen wurde. Die neuen Erkenntnisse liessen schliesslich nach vielen Berichten und Gutachten (Charles Lardy, Xavier Marchand, Elias Landolt) die Bereitschaft zu einer umfassenden Sicherung des Gebirgswaldareals reifen. Diese fand im Eidgenössischen Forstpolizeigesetz von 1876, das im Übrigen bis 1898 nur für das «Hochgebirge» galt, ihren Abschluss (Forstgesetze). Es schränkte einerseits die Waldweide für Gross- und Kleinvieh ein und postulierte andererseits die Anlage neuer Schutzwälder in hydrologisch empfindlichen Gegenden (z.B. Flyschgebiete der Voralpen). Durch die damit eingeleitete Walderhaltungspolitik und infolge der gleichzeitig abnehmenden wirtschaftlichen Bedeutung des Rohstoffs Holz hat die Waldfläche in den Alpen teilweise erheblich zugenommen, am stärksten auf der Alpensüdseite. Gemäss dem ersten Schweizerischen Landesforstinventar (LFI, Aufnahmen 1982-1986) lagen Ende des 20. Jahrhunderts 32% aller Schweizer Wälder in der Alpenregion. 57% der Alpenwälder waren Hochwälder (im forstlichen Sinne), 13% plenterartige Hochwälder. Der Rest bestand aus aufgelösten Bestockungen und Gebüschwald. Hauptbaumart der LFI-Region Alpen ist die Fichte (über 50%), gefolgt von Lärche, Föhre, Weisstanne und Arve. Hauptbaumarten unter den Laubhölzern sind Buche, Ahorn und Esche. Das in den 1980er Jahren der Öffentlichkeit bewusst gemachte Ausmass der Waldschäden sowie deren Zunahme (Waldsterben) – besonders auch in den Alpen und hier vor allem in den inneralpinen Tälern – hat den Bund 1983 zur Lancierung des Programms Sanasilva veranlasst (jährlicher Waldschadenbericht, Massnahmen zur Erhaltung gesunder Wälder).
Bergbau, Industrie, Energie
Bergbau
Autorin/Autor:
Ulrich Pfister, Thomas Busset
Die Saline von Bévieux im Mandement Bex. Stich aus den Tableaux topographiques, pittoresques, [...] de la Suisse (1780-1788) von Beat Fidel Zurlauben (Privatsammlung).[…]
In ihrem Innern bergen die Alpen zahlreiche Bodenschätze wie Erze (Edelmetalle, Eisen), Kohle, Salz, Mineralien und Kristalle (Bergkristalle). Fundstätten wurden von Zeit zu Zeit, je nach Stand des Wissens, der Technik, der Verwendungsmöglichkeiten und Wirtschaftlichkeit ausgebeutet. Neben der Jagd ist der Bergbau die älteste nicht-agrarische Tätigkeit im Alpenraum. In den schweizerischen Alpen sind die Vorkommen allerdings wenig ergiebig, und ihr Abbau war meistens unrentabel. Relative Blütezeiten sind im späten 15., im frühen 17. und abgeschwächt zum Teil im 18. Jahrhundert zu verzeichnen, wogegen die Ausbeutung im 19. und 20. Jahrhundert praktisch zum Erliegen kam.
Wichtige Bergbaustandorte
Region
Standort
Gefördertes Material
Erstmalige Bezeugung bzw. Dauer der Ausbeutung
Kanton St. Gallen
Gonzen
Eisen
spätestens ab Ende 1. Jh. v.Chr., bis 1966
Graubünden
Val S-charl und das obere Münstertal
Eisen, Silber
frühes 14. Jh.
Val Medel und Trun
Eisen
Mitte 14. Jh.
Davos
Silber, Blei, Zink
Ende 15. Jh.
Albulatal
Eisen, Buntmetalle
16. Jh.
Schams
Eisen, Silber
17. Jh.
Innerschweiz
Melchtal
Eisen
15.-17. Jh.
Maderanertal
Eisen, Silber
15.-18. Jh.
Entlebuch
Waschgold, Eisen
15.-18. Jh.
Wallis
Val de Bagnes
Silber
spätestens ab 15. Jh.
Grund bei Brig
Eisen
2. Hälfte 17. Jh.
Lötschental
Blei
17. Jh.
Gondo
Gold
18. Jh.
Berner Oberland
Oberhasli
Eisen
16.-18. Jh.
oberes Lauterbrunnental
Eisen
17. Jh.
Frutigland
Steinkohle
2. Weltkrieg
Waadt
Aigle und Bex
Salz
2. Hälfte 16. Jh.
Tessin
Valle Morobbia
Eisen
Ende 18. Jh.
Wichtige Bergbaustandorte – Ulrich Pfister, Thomas Busset
Besonders mit dem allerdings nur in den grösseren Zentren eingeführten Blashochofen im 16. Jahrhundert wurde die Erzgewinnung und -verhüttung ein kapitalintensives Unternehmen. Über die entsprechenden Mittel verfügende lokale Unternehmer aus Notabelnfamilien schlossen sich hierzu oft mit auswärtigen Kaufleuten zusammen. Den Kern der Arbeitskraft stellten in der Regel Knappen und Fachkräfte dar, die aus den grossen zentral- und ostalpinen Bergbauzonen (Bresciano, Comasco, Tirol, Steiermark) zugewandert waren und ein eigenständiges Brauchtum pflegten. Die lokale Bevölkerung war hauptsächlich über die Befriedigung des enormen Holzbedarfs und Spanndienste, mittelbar auch über die an Kommunen fliessenden Erträge von Regalien mit dem Bergbau verbunden. Allerdings führte der Kahlschlag der Wälder auch zu Konflikten, so im 16.-17. Jahrhundert im oberen Haslital oder im 18. Jahrhundert in der Herrschaft Aigle. Stets gesucht und vielfältig verwendet wurden diverse Gesteine wie Marmor, Granit, Gneise, Kalke, Schiefer und Speckstein (Steinindustrie).
Wandergewerbe, Protoindustrie
Autorin/Autor:
Ulrich Pfister, Thomas Busset
Parallel zur Extensivierung der alpinen Landwirtschaft im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit entwickelten sich im grössten Teil der schweizerischen Alpen Systeme saisonaler oder lebenszyklischer Wanderarbeit, die neben dem gewerblichen Sektor auch die Landwirtschaft (Gesindewanderung in das benachbarte Flachland, v.a. aus den Voralpen) und die Dienstleistungen (Solddienst, v.a. aus der Innerschweiz und dem Wallis, sowie Hausiererwesen) betraf. Wandergewerbe scheinen insbesondere dort häufig, wo die anderen Sektoren selten vertreten waren. Wichtige Branchen waren erstens das Baugewerbe, das in etlichen italienischsprachigen Tälern (Mendrisiotto, Centovalli, Misox) vertreten war und von Architekten (Bauunternehmern) über Stuckatoren zu einfachen Maurern die ganze Qualifikationspalette dieser Branche umfasste, zweitens Gewerbe, welche die Endverarbeitung neuartiger Konsumgüter betreffen, wie diejenigen des Chocolatiers (v.a. aus dem Bleniotal) und des Zuckerbäckers, Cafetiers bzw. Konditors (v.a. aus dem reformierten Graubünden, insbesondere dem Engadin und Davos), drittens eigentliche Spezialgewerbe am Übergang zu Handel und Dienstleistungen, wie die Schornsteinfegerei (aus dem Verzasca- und dem Calancatal), die in Glarus verbreitete Tischmacherei und das Wattengewerbe. Die Zielgebiete der gewerblichen Wanderung waren weit gestreut und umfassten Städte in Oberitalien, der Donaumonarchie und im Rest des Reichs. In der Regel handelte es sich um neu entstehende nicht zünftische Gewerbe mit stark variierender bzw. weit verstreuter Nachfrage. Die Spezialisierung auf ein Gewerbe vollzog sich hauptsächlich im kleinen Raum einer Talschaft oder Gemeinde. Dies hängt mit der Rekrutierung der Arbeitskraft im Verwandtschafts- und Nachbarschaftsverband zusammen. Der Zusammenhalt zwischen abwesenden Männern und zurückbleibenden, den landwirtschaftlichen Betrieb versorgenden Frauen und Verwandten wurde durch intensiven brieflichen Verkehr sichergestellt, der mit einer relativ frühen und starken Alphabetisierung einherging.
Die Kombination von saisonalem bzw. lebenszyklischem Wandergewerbe mit alpiner Subsistenzlandwirtschaft wurde erst gegen Mitte des 19. Jahrhunderts, insbesondere durch die verstärkte Auswanderung nach Übersee, aufgelöst. Ausgehend von Wandergewerben konnten sich in Ausschöpfung von wahrgenommenen Marktchancen (sesshafte) Protoindustrien entwickeln (Protoindustrialisierung). Wichtigstes Beispiel ist der Kanton Glarus, wo im frühen 18. Jahrhundert die Baumwollspinnerei aus der durch die erwähnten Wandergewerbe geschaffenen Handelsinfrastruktur entstand. Wegen der Stadtferne und der dadurch gegebenen Knappheit an unternehmerischem Know-how sind ansonsten Protoindustrien im Alpenraum rar. Ausnahmen sind das nahe bei St. Gallen gelegene Appenzell Ausserrhoden (Leinen, Baumwolle, Stickerei), das Engelberger Tal (Schappe), wo das Kloster eine unternehmerische Funktion wahrnahm, sowie Gersau, das als wichtiges Zentrum für die Innerschweiz fungierte.
Industrie, Elektrizitätswirtschaft
Autorin/Autor:
Ulrich Pfister, Thomas Busset
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts befanden sich die Gebirgskantone wirtschaftlich in einer eigentlichen Krise. Natürliche Ressourcen wie Wasser, Holz, Kalk oder Lehm sicherten noch immer den Bestand kleiner Produktionseinheiten, die den lokalen oder regionalen Markt belieferten. Die Wasserläufe versorgten Sägereien, Papiermühlen usw. mit Antriebskraft. Das Holz diente den Glashütten in Hergiswil (1818), Monthey (1822) und Domat/Ems (1839) als Brennstoff, den Möbel-, Zündholz- oder Bodenfabrikanten sowie Holzschnitzlern als Rohmaterial. Einige Betriebe überlebten mit knapper Not oder verschwanden, andere wurden mechanisiert (1813 Baumwollspinnerei in Glarus, 1822 Florettseidenproduktion in Brunnen, 1831 Einführung der Papiermaschine im Rotzloch usw.). Insgesamt blieb die Mechanisierung jedoch bescheiden.
Von der Mitte des 19. Jahrhunderts an eroberte städtisches Kapital, zu Beginn häufig ausländischer Provenienz, das Alpengebiet. Die Schweizer Alpen gerieten in zunehmendem Masse in den Einflussbereich der mittelländischen Entscheidungszentren. Dieses Eindringen war verbunden mit dem Aufkommen der Bahn, deren Wirkung auf das lokale Handwerk und Gewerbe, die sich nun einer überregionalen Konkurrenz ausgesetzt sahen, sehr oft verhängnisvoll war. Einige Unternehmen allerdings, wie zum Beispiel die Glashütte Hergiswil, die 1870 auf Kohle umstellte, passten sich dem Ausbau des Bahnnetzes an, andere entstanden neu, wie die Baumwollspinnerei in Churwalden und die Maschinenfabrik in Landquart 1858, oder erlebten eine Blütezeit, wie die Gneis-Steinbrüche in Uri und in der Leventina.
Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zog die auf der Wasserkraftnutzung basierende Elektrifizierung in einigen Alpentälern, zum Beispiel im Wallis, die Gründung chemischer (1897 Visp und Gampel, 1904 Monthey) und metallverarbeitender Industrien nach sich (1905 Chippis). Im Tessin ermöglichte die Konzession zur Nutzung der Wasserkraft des Tessins in der Biaschina-Schlucht, verbunden mit der Verpflichtung, die Energie an Ort und Stelle zu verwenden, die Entwicklung von Bodio zum Industriezentrum (Elektrizitätswirtschaft, chemische Industrie, Stahlwerk usw.). Bereits vor dem Ersten Weltkrieg bot der Transport von elektrischer Energie über grosse Distanzen keine technischen Probleme mehr, und die Nähe zum Elektrizitätswerk stellte keine Vorbedingung bei der Standortwahl von Industrien mehr dar (Industrialisierung). In politischer Hinsicht setzte nun jedoch ein Kampf um die Verbindung der einzelnen Netze ein. Dieser endete in einer Konzentration bei einigen wenigen Elektrizitätsgesellschaften mit Sitz im Mittelland (Elektrizitätswirtschaft). Die betroffenen Berggemeinden kamen in den Genuss der Wasserzinsen.
Der Staudamm von Emosson im Wallis während der Bauarbeiten, fotografiert am 11. Dezember 1972 (Michel Darbellay, Mediathek Wallis, Martigny).
Die verbreitete Verwendung elektrischer Energie in der ganzen Schweiz und die damit verbundene erhöhte Nachfrage führte zum Bau neuer Elektrizitäts- und Stauwerke, deren wichtigste nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden: im Wallis Mauvoisin (1957, erhöht 1990), Grande-Dixence (1961), Mattmark (1967) und Emosson (1974), in Graubünden Zervreila (1957), Valle di Lei (1961) und Punt dal Gall (1969), im Tessin Luzzone (1963, erhöht 1999) und Contra (1965). Einige Projekte wurden in Angriff genommen, ohne vorerst die lokale Bevölkerung einzubeziehen, so in den 1950er Jahren auf der Göscheneralp und in Marmorera.
Verkehr
Inneralpiner Verkehr
Autorin/Autor:
Fritz Glauser
Kaufleute am Fuss der Alpen im 17. Jahrhundert. Scheibenriss vonGottfried Stadler (Bernisches Historisches Museum, Depositum der Eidgenossenschaft;Fotografie Stefan Rebsamen).[…]
Grundsätzlich zu unterscheiden sind der inneralpine Verkehr und der internationale Transit. Der inneralpine Verkehr umfasst über den lokalen Kreis hinaus den Verkehr zwischen Alpentälern, die über Pässe verbunden sind (darunter die für den Längsverkehr wichtige Verbindung Rhonetal-Ursern-Vorderrheintal), und den Verkehr mit dem jeweils benachbarten Unterland, mit dem die Kommunikation vom 12. Jahrhundert an anstieg. Vorwiegend dem Binnenverkehr und nicht oder nur begrenzt dem Transit dienten bis ins 20. Jahrhundert unzählige regional bedeutsame Pässe wie zum Beispiel Albrun-, Bernina-, Ofen-, Grimsel-, Furka-, Oberalp-, Klausen-, Kunkels- oder Flüelapass. Pässe wie der Lötschen-, Theodul- oder der Griespass führten gar über Gletscher; auch sie wurden mit Saumtieren und Viehherden begangen. Die Transportmittel und -erfahrungen der Gebirgsbewohner waren lange Zeit die Voraussetzung für einen leistungsfähigen Transitverkehr. Die Beteiligung daran konnte sich vom Neben- zum Haupterwerb entwickeln (Säumerei). Aus den südlichen Alpentälern erwuchs ein eigener Verkehr über die Alpen hinweg, weil vom Spätmittelalter an die Augstaler (Aostataler) und vom 16. Jahrhundert an Calangger (Calancataler) Krämer sowie jene von den oberitalienischen Seen mit Gebieten nördlich der Alpen Handel trieben. In der Gegenrichtung wurden vom Mittelalter bis zum 20. Jahrhundert vor allem Vieh und Pferde ausgeführt. Erst der Fuhrverkehr des 19. Jahrhunderts, die Eisenbahnen und das Automobil verlagerten das ganze Gewicht des Verkehrs von vielen Pässen weg auf die neuen Schienenstränge und Fahrstrassen in der Tiefe der Haupt- und einzelner Seitentäler. Eine Reihe von Nebenpässen wurden in jüngerer Vergangenheit neu mit Autostrassen für den Tourismus und Binnenverkehr erschlossen.
Transit
Autorin/Autor:
Fritz Glauser
Der internationale Transit durch die Alpen verdankte seine Anziehungskraft von jeher der kirchlich-religiösen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Attraktivität des Mittelmeerraums, vor allem aber Italiens, sowie der Wirtschaftskraft der wachsenden Gewerbe- und später Industrielandschaften nördlich der Alpen und in England. Umgangen wurden die Alpen im Westen auf dem Seeweg um die Iberische Halbinsel herum (vom Ende des 13. Jh. an) und auf der Linie Rhonetal-Mittelmeer, im Osten auf einem breiten Band bis zum Schwarzen Meer. Alle drei Umfahrungsrouten konkurrenzierten den Alpentransit, der vor allem den Luxusgütern vorbehalten war, je nach Konjunktur in unterschiedlichem Ausmass. Der zur Arbeitsbeschaffung stets begehrte Verkehr hat durch die Übergänge vom Saumweg zur Fahrstrasse, zur Eisenbahn und zur Autobahn schon wiederholt starke Umbrüche und Konzentrationen gebracht.
Flüsse und Lawinenhänge waren die Hindernisse, die Reisende während einer Alpenüberquerung im 16. Jahrhundert überwinden mussten. Zeichnung aus der Chronik vonJohann Jakob Wick (Zentralbibliothek Zürich, Handschriftenabteilung, Wickiana, Ms. F 34, Fol. 28r).
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Die Achsen des Alpentransits im 11. Jahrhundert
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Die Achsen des Alpentransits in Spätmittelalter und früher Neuzeit
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Die alpenquerenden Haupttransitachsen strebten im Bogen zwischen Nordwest- und Nordosteuropa über Zentren wie Lyon, das Genferseebecken, Basel und den Bodenseeraum, die sich im Verlauf des Mittelalters entwickelten, auf die Alpen zu, überquerten diese und liefen in Mailand und Venedig zusammen. Im Früh- und Hochmittelalter wurden zwischen dem Brenner im Osten (dem mit 1370 m niedrigsten Alpenpass) und dem Mont-Cenis im Westen im heute schweizerischen Teil der Alpen hauptsächlich zwei Übergänge im Transit benützt, nämlich im Westen der Grosse St. Bernhard und im Osten der Julierpass. Um 1000 zählten die Honorantie civitatis Papie an den Engnissen (cluse) einzelner wichtigerer Talausgänge im Süden unter anderem die Talsperren und Zollorte Bard, Bellinzona und Chiavenna auf. Im 10.-12. Jahrhundert erreichte der Lukmanierpass eine vorübergehende politische und kommerzielle Bedeutung, wurde dann aber vom Gotthardpass verdrängt. Der Grosse St. Bernhard, der im Königreich Burgund, dann lange in der Herrschaft Savoyen lag, verdankte seine hohe Bedeutung im 12.-13. Jahrhundert den Messen in der Champagne, deren Anziehungskraft für den Alpenverkehr allerdings zwischen 1260 und 1320 nachliess und dann verschwand. Sie wurden durch neue Messen abgelöst, insbesondere die Genfer Messen, die im 14.-15. Jahrhundert blühten. Im 13.-14. Jahrhundert zog zusätzlich der von der Kaufmannschaft in Mailand erschlossene Simplonpass Verkehr ab, doch verlor auch dieser vor 1400 sein Transitaufkommen ganz. Wohl nicht ganz zu Recht schreibt man den grossen Abschwung des Verkehrs durch die Westalpen dem Aufkommen des kürzesten Alpenübergangs, des Gotthardpasses, zu. Es ist auch an die Verlagerung zu den Bündner Pässen und zum Brenner zu denken sowie an die um 1300 aufkommende Konkurrenz durch die risikoreichere, zeitraubendere, aber ungleich grössere Transportkapazitäten anbietende Meerschifffahrt. Der Gotthard begann erst im Verlauf der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts als Weg für Reisende und vor allem Pilger ins europäische Bewusstsein einzudringen. Er erreichte als Handelsweg nicht vor Ende des 13. Jahrhunderts eine gewisse Bedeutung, politisch gefördert durch die Verkehrspolitik des Hauses Habsburg-Österreich und wirtschaftlich durch das Aufkommen neuer Messen wie jener in Frankfurt, Brügge, später Antwerpen oder Zurzach. Die grossen Mailänder Speditionshäuser bevorzugten spätestens vom 16. Jahrhundert an den Splügenpass, um via Zürich, Basel und vor allem via den Bodenseeraum, Deutschland zu erreichen. So behielten die Bündner Pässe und insbesondere der Brenner bis 1882 ihre zum Teil überragende Stellung bei, während im Westen der Aufschwung der Lyoner Messen im 16. Jahrhundert eine gewaltige, aber nur vorübergehende Verkehrssteigerung über den Mont-Cenis verursachte. Sodann belebte in den Westalpen die Handels- und Verkehrspolitik Kaspar Stockalpers vom Thurm nach 1650 für einige Jahrzehnte den Gütertransit über den Simplon.
«Und wenn die Transitlastwagen den Zug nehmen würden? Für Europas Verkehrswesen von morgen, am 20. Februar: Ja!» Volksabstimmung über die Alpeninitiative vom 20. Februar 1994. Plakat vonChristina Borer (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Der Gotthard wurde im Verlauf der politischen Entwicklung der Eidgenossenschaft in der allgemeinen Vorstellung mythisch übersteigert. Weil er mehr militärisch-politischen als wirtschaftlichen Zuspruch genoss, übertraf sein Ruf die eher bescheidene Bedeutung des Gütervolumens. Sein Vorteil der kurzen Verbindung reichte nicht aus, um vom europäischen Handel in grösserem Masse benützt zu werden, auch wenn sich der Gotthard dank seiner Vorzüge als einer der wichtigen Alpenübergänge halten konnte. Seine überragende Bedeutung erreichte er jedoch erst mit der 1882 eröffneten Gotthardbahn, die einen radikalen Durchbruch und einen rasanten Aufschwung nach sich zog. Mit der 1980 eingeweihten Gotthardautobahn vergrösserte sich das Verkehrsvolumen ein weiteres Mal massiv. Der seit ihrer Eröffnung sich regende Widerstand führte zur Initiative zum Schutz des Alpengebietes vor dem Transitverkehr (Alpeninitiative), die vom Schweizervolk am 20. Februar 1994 angenommen wurde. Auch das vom Souverän am 27. September 1992 beschlossene, umstrittene Projekt der Neuen Eisenbahn-Alpentransversale (Neat), das die Schweiz in das Netz der europäischen Hochleistungsbahnen integrieren sollte, trug ökologischen Anliegen Rechnung.
Infrastruktur
Autorin/Autor:
Fritz Glauser
Die Transitpässe wurden im Winter ebenso begangen wie im Sommer und bedurften der Infrastrukturen. Die Anwohner stellten feste Anlagen, bewegliche Einrichtungen und Personal bereit. Am Julier und am Grossen St. Bernhard sind Spuren und Reste römischer und frühmittelalterlicher Transportorganisationen erkennbar. Im 13.-14. Jahrhundert bildeten sich innerhalb der Tal- und Nachbarschaften (1237 Osco) Säumergenossenschaften (Porten in Graubünden, Marones/Marronniers am Grossen St. Bernhard) aus, an denen alle Talleute teilnahmeberechtigt waren, die für ihr Gebiet das Transportmonopol beanspruchten, den sicheren Transport im Turnus der Genossen (Teil- oder Rodfuhr) garantierten und für den Wegunterhalt aufkamen. Die Direkt- oder Strackfuhr über die ganze Bergstrecke war gegen Entrichtung der Fürleite (forleitum) als Weggebühr stets zugelassen, professionalisierte sich im 17.-18. Jahrhundert und löste allmählich die Teilsäumer ab. Im Mittelalter kamen die Hospize auf, ab dem 13. Jahrhundert die Susten (von italienisch sosta) als kommunale, gebührenpflichtige Transitlagerhäuser.
Von der Schweizerischen Verkehrszentrale 1935 in Auftrag gegebenes Plakat vonHerbert Matter (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Vom 15. Jahrhundert an wurden Säumerwege ausgebaut, bald auch gepflästert und die Holz- durch Stein-Brücken ersetzt, so 1595 die Teufelsbrücke in der Schöllenen. 1707-1708 wurde mit dem Urnerloch zuoberst in der Schöllenen der erste schweizerische Alpen-Tunnel gebaut. Mit dem Bau von Fahrstrassen über die Alpenpässe, der in der Schweiz erst im 19. Jahrhundert einsetzte (z.B. Simplon 1801-1805, Gotthard 1820-1830), wurden die Säumer durch die Fuhrhalter verdrängt, diese ab 1882 durch die Alpenbahnen. Seit den 1960er Jahren wird die Bahn von den Nationalstrassen mit ihren Alpentunneln (Grosser St. Bernhard 1964, San Bernardino 1967, Gotthard 1980) und den Rohrleitungen (Öl 1963, Gas 1970) stark konkurrenziert. Vermehrt in Erscheinung traten auch die Hochspannungsleitungen zum Transport des elektrischen Stroms.
Verkehrsvolumen
Autorin/Autor:
Fritz Glauser
Quantitative Angaben über das Verkehrsvolumen sind bis 1882 nur für den Gütertransit erschliessbar, nicht aber für den Reiseverkehr. Die folgenden Zahlen sind Schätzungen und Extrapolationen.
Im 9. Jahrhundert wurden in Walenstadt Sklaven und Pferde umgesetzt, um 1000 in Bard, Bellinzona und Chiavenna Pferde, Sklaven, Tuche aus Wolle, Hanf und Flachs sowie Zinn und Schwerter. Rompilger mussten keine Zölle bezahlen. Um 1300 ist in Saint-Maurice ein Transitvolumen von jährlich 400 t und auf allen Schweizer Pässen zusammen ein solches von höchstens 1000-1500 t (Brenner 4000 t) zu verzeichnen. Als Güter bezeugt sind englische Wolle, Tuche, italienische Seide, Grautuche, Spezereien, Öl, Salz, Stahl, Waid, Pferde, insbesondere italienische Streitrosse, Ochsen, Schafe und auch Sensen. Im 15. Jahrhundert ging das Verkehrsvolumen über die Schweizer Pässe wegen der politischen Unruhen und der Verkehrsverlagerungen zurück. Um 1500, als am Gotthard ein jährliches Transitaufkommen von rund 170 t verzeichnet wurde, war es wohl kaum höher als um 1300. An Gütern sind der ab 1478 neu in Oberitalien angebaute Reis, (englische) Wolle, Baumwolle, Tuche (gold- und silberdurchwirkte Seide), Bücklinge, Zucker, Wetzsteine, Farbe, Wachs und Eisen erfassbar. Aufgrund der europäischen Politik, weiträumigen Verkehrsverlagerungen, Seuchen und wirtschaftlichen Konjunkturen nahm der Gotthardverkehr ab 1535 stark zu und erreichte um 1550 ein jährliches Volumen von 1500 t; er fiel dann aber ab 1566 erneut ab, um bis 1620 wieder 1500 t zu erreichen. Da über die Bündner Pässe kaum weniger, sondern eher mehr Verkehr verlief, ist für alle Schweizer Pässe um 1550 mit 3500 t, um 1600 mit 4000 t und um 1650 wiederum mit etwas weniger zu rechnen.
Mit dem Aufkommen der geschlossenen Wirtschaftsräume und der Nationalstaaten lenkten Frankreich und Österreich vom 16. Jahrhundert an die Verkehrsströme auf Kosten des Schweizer Transits durch ihre Territorien. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verringerte sich das Volumen nur dank der Aktivitäten von Stockalper vom Thurm nicht allzu stark. Populäre Lebensmittel wie Wein, Salz, Käse, Reis, ferner Kupfer, Zinn und Eisenwaren wirkten sich in dieser Zeit aus; um 1700 jährlich etwa 5000 t, 1750 und 1800 je 6500 t. 1850 erreichte der Transit um die 11'000 t (Brenner 1700 über 12'000 t, 1850 über 100'000 t). Nach der Eröffnung der Gotthardbahn erweiterte sich das Einzugsgebiet bedeutend. Das Verkehrsvolumen erreichte 1889 459'000 t und zehn Jahre später 728'000 t; dazu kamen etwa 700'000 Reisende. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben die enormen Gütermassen, welche die Europäische Union möglichst ungehindert und direkt verkehren lassen will, einen weiteren Anstieg bewirkt. 1999 überquerten im Binnenverkehr, Import, Export und Transit Güter im Nettogewicht von 26,8 (1970 15; 1994 23,9) Mio. t die Schweizer Alpen, nämlich 8,4 (1970 0,8; 1994 6,2) Mio. t auf der Strasse und 18,4 (1970 14,2; 1994 17,8) Mio. t auf der Schiene. Davon waren 20 (1994 17) Mio. t oder 75% (1994 71%) Transitgüter. 1991-1992 durchquerten im Tagesdurchschnitt an die 83'000 Personen die Schweizer Alpen.
Die heilfördernde Wirkung alpiner Mineral- und Thermalquellen (Bäder) wurde bereits in frühgeschichtlicher Zeit, in der Antike und erneut vom ausgehenden Mittelalter an hoch geschätzt. Im 15. Jahrhundert werden über die Alpen reisende Pilger (Pilgerwesen) fassbarer, für die auch vor- und inneralpine Wallfahrtsorte (Einsiedeln, Beatushöhlen) eine wichtige Rolle spielten. Einige Humanisten – Albrecht von Bonstetten, der die Rigi Regina montium nannte, Glarean, für den die Schweiz das Haupt Europas war, Sebastian Münster, Johannes Stumpf und Josias Simler – stehen für erste emotionale Annäherungen an die Bergwelt; im 16. und 17. Jahrhundert erfolgten in den Voralpen die ersten Bergbesteigungen (Pilatus, Niesen, Stockhorn). Zu den ersten Ausländern, die sich zur Besichtigung der Naturschönheiten in ein Alpental begaben, gehörten der englische Sondergesandte Thomas Coxe und der 19-jährige Markgraf Albrecht Friedrich von Brandenburg, die 1690 bzw. 1691 die Gletscher von Grindelwald besichtigten. Auf der Grand Tour wurde die Schweiz vom 17. Jahrhundert an meist durchquert und gelegentlich auch eingehender besucht. Reisebeschreibungen belegen vom beginnenden 18. Jahrhundert an ein vermehrtes Interesse für die Alpen. Zu den Hauptpropagandisten gehörten zuerst der Zürcher Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733), dann der Berner Albrecht von Haller und schliesslich die Genfer Jean-Jacques Rousseau und Horace Bénédict de Saussure. In ihrem Gefolge wirkten Naturforscher, Autoren von Reisebeschreibungen und Kleinmeister, die die Schönheit der Alpen vermarkteten. Zwischen dem Siebenjährigen Krieg (1756-1763) und der Helvetik war eine Schweizerreise, in deren Programm den Alpen ein bedeutender Teil zukam, bereits ein «Muss» für die gebildete europäische Gesellschaft.
Die Naturattraktionen blieben bis in die Gegenwart Hauptmotiv des alpinen Tourismus. Am meisten interessierten die Gletscher. Die glaziologischen Forschungen von Franz Joseph Hugi, Edouard Desor und Louis Agassiz wurden zu Werbeträgern für Gletscher und Hochgebirge. Begeistert waren die Reisenden auch von Wasserfällen, auf deren vollständige Aufzählung die Reiseführer im 18. und 19. Jahrhundert grössten Wert legten: unter anderen Staubbach, Giessbach, Reichenbach – das Schwergewicht lag eindeutig im Berner Oberland –, Tosafall im italienischen Pomat und Pissevache im Unterwallis. Von Interesse waren auch Schluchten, zum Beispiel die 1889 erschlossene Aareschlucht im Berner Oberland, die 1860 zugänglich gemachten Unterwalliser Gorges du Trient, die Glarner Pantenschlucht, die Taminaschlucht südwestlich von Pfäfers, die Bündner Viamala oder der Tessiner Dazio Grande.
Der Untere Grindelwaldgletscher. Stich aus den Tableaux de la Suisse ou voyage pittoresque fait dans les treize cantons (1780-1788) von Beat Fidel Zurlauben (Bibliothèque cantonale et universitaire Lausanne).
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Zu den kulturellen Interessengebieten gehörten die «demokratischen» Einrichtungen. Die Schweiz als eine der wenigen Republiken im frühneuzeitlichen Europa und insbesondere die alpinen und voralpinen Länderorte erregten die Aufmerksamkeit. Vom Ende des 17. Jahrhunderts an und besonders von Haller in seinem Lehrgedicht Die Alpen (1729) gefördert, spielte die Hirtenbegeisterung eine ausserordentliche Rolle (Hirtenvolk). Äusserst werbewirksam waren 1805 und 1808 die Alphirtenfeste von Unspunnen. Der im 18. Jahrhundert geschaffene Mythos Schweiz wirkt bis in die Gegenwart als Werbeträger. Auch Baudenkmäler und Ingenieurwerke, zum Beispiel die Axenstrasse sowie die neuen Strassen durch Schluchten und über Pässe (Schöllenen, Simplon, Splügen) übten vom 18. Jahrhundert an eine Anziehungskraft aus.
Infrastruktur
Autorin/Autor:
Quirinus Reichen
Bis weit ins 19. Jahrhundert bewegten sich die Touristen im Alpenraum zu Fuss oder zu Pferd. Nur wenige Orte waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts schon per Wagen erreichbar. Insbesondere Damen benutzten gelegentlich Tragsessel. Leicht erreichbar waren das Berner Oberland, die durch Rousseaus Nouvelle Héloïse (1761) berühmt gewordene Gegend von Montreux und Vevey sowie die Zentralschweiz, weil hier der Wasserweg nahe an die Ziele heranführte. In das Wallis und in die Bündner Bergtäler war der Weg länger und beschwerlicher, weshalb sich hier der Fremdenverkehr später entwickelte: Das erste Gasthaus in Zermatt nahm erst 1839 seinen Betrieb auf. Der nach 1815 stark geförderte Strassenbau erleichterte die Zugänglichkeit. Dampfschiffe auf den grösseren Seen beschleunigten und verbilligten ab den 1820er und 1830er Jahren das Reisen (Schifffahrt). Eine erste Demokratisierung des Fremdenverkehrs bewirkten aber erst die Eisenbahn und ihre Integration in das europäische Netz ab ca. 1860. Beim Bauprojekt der Bahnlinie Bern-Thun (1858-1861) wurde der Transport von Touristen in das Berner Oberland als wichtige Aufgabe erwähnt.
Rigi-Kulm, um 1820. Gemälde vonJohann Heinrich Bleuler (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Sammlung Gugelmann).
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Der Unterkunft dienten bis ins beginnende 19. Jahrhundert vor allem kirchliche Institutionen: Klöster (Einsiedeln, Disentis, Saint-Maurice), Kloster- oder Pilgerherbergen (z.B. Interlaken), Hospize (Gotthard, Grosser St. Bernhard, Simplon) und Pfarrhäuser. So wurden die neuen Pfarrhäuser von Lauterbrunnen und Grindelwald um 1770-1780 ausdrücklich für die Aufnahme von Fremden konzipiert, wie sich denn überhaupt im 18. und 19. Jahrhundert Pfarrer als Pioniere und Förderer von Fremdenverkehr, Bädern und Alpinismus hervortaten. Als Unterkünfte, wenn auch mit mangelhaften Strukturen, dienten zudem Susten entlang der Passstrassen und Gasthöfe in den Kirch-, Gerichts- und Marktorten. Wesentliche Impulse für ein gehobenes Beherbergungswesen gingen von den Bädern aus. Ihnen folgten Fremdenpensionen (in Interlaken ab 1805), die sich speziell auf lange Aufenthaltsdauern einstellten. Der spezifisch auf Touristen ausgerichtete Hotelbau in den Schweizer Alpen begann erst ab 1830 mit der Liberalisierung von Handel und Gewerbe und erlebte 1850-1875 einen ersten Schub (Montreux, Interlaken, Rigi, St. Moritz). Seine Blüte fällt in die Zeit zwischen 1890 und 1914 (Waadtländer Riviera, Interlaken, Oberengadin, Zermatt).
Um 1815 begann die Erschliessung touristischer Attraktionen mit der Errichtung von Wegen zu Gletschern oder in Schluchten, Aussichtspavillons usw. Für die englischen Gäste entstanden ab 1840 anglikanische Kapellen, für die Alpinisten wurde ein dichtes Netz von Schutzhütten erstellt (Schweizer Alpen-Club [SAC]). Das Baufieber auf dem Gebiet der Bergbahnen setzte, nach der Errichtung der Rigibahnen (1871-1875) und der Giessbachbahn (1879), 1888 mit besonderer Intensität ein. Die erste Luftseilbahn fuhr ab 1907 am Wetterhorn bei Grindelwald, die erste moderne Luftseilbahn ab 1927 in Engelberg.
Konjunkturen
Autorin/Autor:
Quirinus Reichen
Die relativ ruhige Periode nach dem Ende der Napoleonischen Kriege förderte den Fremdenverkehr in den Alpen. Weitere Frequenzsteigerungen bewirkte die verbesserte Infrastruktur (Dampfschiff, Eisenbahn). Das intensivierte Badewesen, der Alpinismus und Hochgebirgs-Sanatorien erschlossen zusätzliche Besuchersegmente. Den Spitzenalpinisten folgte ein Tross, der den Nervenkitzel der Eroberer miterleben wollte und an prominenten Gebirgsorten Sommerfrische suchte. Ein neues Medium, die Ansichtskarte, wurde vom ausgehenden 19. Jahrhundert an werbewirksam. Die Branche, die sich selbstbewusst als «Fremdenindustrie» bezeichnete, verlieh den wirtschaftlich zurückgebliebenen Alpentälern neue Impulse.
1875-1885 erlebte der Fremdenverkehr die erste Krise seit 1815. Die allgemeine konjunkturelle Erholung Ende der 1880er Jahre brachte jedoch erneut einen ausserordentlichen Aufschwung. Die neuen Bergbahnen erleichterten den Zugang und ermöglichten eine vor allem auch quantitative Steigerung des Tourismus. Eine analoge Entwicklung bezüglich Zahl und Komfort erfuhr die Hotellerie (Gastgewerbe). Gleichzeitig veränderte die stärkere soziale Differenzierung innerhalb des Touristenstroms die Tourismuskultur: So verdrängte der kleine Gasttisch mit individueller Bedienung und Verpflegung die klassische Table d'hôte, und das Zimmer mit Bad löste das Etagenbad ab. Alle wichtigen Fremdenorte gründeten Verkehrsvereine, die Werbung, Unterkunftsvermittlung und Gästebetreuung betrieben (Kursäle, Spazierwege usw.). Um 1912/1913 befand sich der alpine Fremdenverkehr auf einem Niveau, das er quantitativ erst um 1955 wieder, qualitativ in verschiedener Hinsicht wohl gar nicht mehr erreichte. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 setzte der Blüte ein jähes Ende; die meisten Hotels schlossen ihre Pforten.
Tanztee auf der Kleinen Scheidegg um 1935 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Eidgenössisches Archiv für Denkmalpflege, Sammlung Photoglob).
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In der Zwischenkriegszeit erholten sich die touristischen Einrichtungen erst ab der Mitte der 1920er Jahre. Verdienstvoll waren hierbei die Aktivitäten der Schweizerischen Verkehrszentrale (SVZ). Sie kämpfte unter anderem dagegen, dass einige europäische Staaten Reisebeschränkungen eingeführt hatten, die sich negativ auf den schweizerischen Tourismus auswirkten. Die neu erwachte Hoffnung wurde überdies durch die Weltwirtschaftskrise rasch wieder gedämpft. Im Zweiten Weltkrieg entfiel der Tourismus aus dem Ausland zwar erneut; der Ausfall wurde jedoch durch den Inlandtourismus, die Bedürfnisse der Armee (Réduit) und Internierungen teilweise kompensiert. In den ersten Nachkriegsjahren genossen Soldaten der alliierten Besatzungsmächte in Deutschland Ferien in der Schweiz. Die olympischen Winterspiele, die 1948 in St. Moritz zum zweiten Mal nach 1928 ausgetragen wurden, belebten den Wintersport. Dieser war aus zaghaften Anfängen in den 1870er Jahren (Winteralpinismus) hervorgegangen. In den 1890er Jahren begann das alpine Skifahren, und 1906 empfahlen sich bereits rund 60 Kurorte für den Wintertourismus. Zwischen den Weltkriegen setzten die krisengeschüttelten Fremdenverkehrsorte grosse Hoffnungen in die Wintersaison, zum Beispiel Zermatt ab 1927, obwohl in dieser Zeit die meisten Hotels nicht einmal heizbar waren.
Von den 1950er Jahren an erlebte der alpine (Winter-)Tourismus eine explosionsartige Entwicklung: Die gegenüber den Zahnrad- und Standseilbahnen kostengünstigeren Luftseil- und Sesselbahnen wurden rasch populär und erschlossen neue Bergspitzen, Skigebiete und auf der Strasse nicht erreichbare Ortschaften. 1959 zählte man in der Schweiz rund 600 Seilbahnen (über 80% Skilifte, ferner Luftseil-, Gondel-, Sesselbahnen), davon 95% im Alpenraum. 1995 waren 2361 Seilbahnen (davon 60 Standseilbahnen) in Betrieb.
Der wirtschaftliche Aufschwung der Nachkriegszeit erlaubte es vermehrt, Skiferien in der Schweiz zu verbringen. Der arbeits-, aber auch ertragsintensivere Wintertourismus ergänzte in willkommener Weise den sich nur langsam erholenden Sommertourismus und die in anderen Bereichen stagnierende alpine Wirtschaft. Der Wintersport bewirkte in den meisten neuen Kurorten (z.B. Verbier, Laax) einen übermässigen Zuwachs des Wintertourismus (Gornergratbahn: ab 1950 höhere Winter- als Sommerfrequenzen), sodass 1995 die Wintersaison im schweizerischen Alpenraum 85% der Tourismus-Erträge erbrachte.
In den 1960er Jahren setzte in den Wintersportorten ein Boom im Zweitwohnungsbau ein. Diese rückblickend als ungesund erachtete Bautätigkeit belastet seither die lokalen Infrastrukturen in einem Grad, dass selbst in den Orten, die jahrelang von dieser Entwicklung profitiert haben, Skepsis aufgekommen ist. In den Krisenjahren 1991-1997 ging auch der Wintertourismus zurück, bedrängt unter anderem von der Konkurrenz der preisgünstigeren Nachbarländer und der Zunahme des aussereuropäischen Badetourismus. Die wirtschaftlich weniger interessante Parahotellerie stagnierte. Das ertragreichere Hotelwesen war sogar rückläufig und erreichte 1995 mit einem Rekordtief den Wert von 1980.
Die durch klimatische Veränderungen steigende Schneegrenze bedeutet vor allem für die unterhalb von 1200-1500 m gelegenen Wintersportorte eine ernsthafte Bedrohung, der mit der ökologisch fragwürdigen künstlichen Beschneiung nur punktuell begegnet werden kann. Gleichzeitig offenbaren sich die Folgen der übermässigen Bautätigkeit, welche den hauptsächlichen Anreiz des Sommertourismus, die intakte Alpenlandschaft, erheblich angegriffen hat. Der alpine Fremdenverkehr der 1990er Jahre schwankt zwischen Beharrung auf konventionellen Vorstellungen und der Suche nach alternativen Modellen für einen umweltgerechten Tourismus.
Die Christianisierung des schweizerischen Alpenraums nahm ihren durch archäologische Zeugnisse vielfach belegten Anfang in den Städten und in Gegenden mit einem dichten Netz römischer Gutshöfe. In den Hauptorten der Civitates hat man die Spuren grosser Basiliken oder gar ganzer Kirchengruppen gefunden. In Zillis, Schiers und Chur (St. Stephan) kamen die Reste von Kirchen aus dem 4. Jahrhundert zum Vorschein. 451 wurde der erste bekannte Bischof von Chur, Asinio, vom Bischof von Como an einer Synode in Mailand vertreten. Die erste nachweisbare Kathedrale von Chur stammt ebenfalls aus dieser Zeit, desgleichen eine Grabkammer unter der Stephanskirche, die man als Grablege der Bischöfe deutet. Auch im Wallis stand der erste namentlich bekannte Bischof von Octodurus (Martigny), Theodul, in Beziehung zur Kirche von Mailand: 381 unterschrieb er die Dekrete des Konzils von Aquileja, 390 diejenigen des Konzils von Mailand. Er war es auch, der die Reliquien der Thebäischen Legion fand und eine erste Kirche in Saint-Maurice baute. Die Grabungen in Sitten, Martigny, Saint-Maurice und einigen ländlichen Pfarreien des Wallis haben gezeigt, dass sich das Christentum hier im 4. und 5. Jahrhundert zunächst in bereits romanisierten Gegenden verankerte. Der Bischofssitz Genf, der in enger Verbindung zu Lyon und dem Rhonetal stand und dessen Sprengel die Gebiete westlich des Genfersees sowie die Voralpen und Alpen Hochsavoyens umfasste, wurde im dritten Viertel des 4. Jahrhunderts gegründet. Das Bistum Konstanz, welches einen Grossteil der schweizerischen Alpennordseite umfasste, scheint vom Herzogtum Alemannien in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts gegründet worden zu sein, womöglich als Teilnachfolger des zu vermutenden Bistums Vindonissa. Vielleicht umfasste sein Diözesangebiet im Süden und Westen auch Teile der älteren Bistümer Chur und Aventicum bzw. Lausanne. Die erste Kathedrale dürfte um 600 gebaut worden sein. Die heute schweizerischen Gebiete südlich des Alpenhauptkamms wurden Teile der Bistümer Como und Mailand.
Die Pfarreigründungen in den Alpen sind nicht ohne Blick auf die Bevölkerungsentwicklung zu verstehen. Bereits sehr früh, wahrscheinlich zur Frankenzeit, bildete sich in den Alpentälern ein Pfarreinetz heraus, ausgehend von Kirchen christlicher Gemeinschaften in Talzentren oder von Eigenkirchen weltlicher und geistlicher Grundherren.
Reliquienschrein aus der Mitte des 12. Jahrhunderts. Der Schrein enthält die Reliquien des heiligen Sigismund, Königs von Burgund, der das Kloster Saint-Maurice gegründet hatte (Schatz der Abtei Saint-Maurice; Fotografie A. & G. Zimmermann, Genf).
Eine wichtige Rolle für die Erschliessung und Christianisierung der Alpen spielten die Klöster. Unterstützt wurden sie dabei von Dynastien, die sich an den Alpenübergängen Stützpunkte sichern wollten. Die Reliquien des heiligen Mauritius und seiner Gefährten waren zunächst ein Wallfahrtsziel und damit auch ein wichtiges Zentrum der Christianisierung des Wallis. Das Kloster Saint-Maurice, das an diesem Ort entstand, wurde von den Rudolfingern und später durch die Savoyer mit Besitz und Rechten ausgestattet, denn beide Herrscherhäuser wollten die Strasse zum Grossen St. Bernhard beherrschen. Die Abtei Disentis, die ihre Entstehung den Pilgerfahrten zu den Gräbern des Märtyrers Placidus und des fränkischen Einsiedlers Sigisbert verdankt, ist vor allem ein Werk des Bischofs von Chur und Präses von Churrätien, Tello, der das Kloster 765 reich beschenkte, zweifellos um seiner Familie, den Viktoriden, die Herrschaft über die Strasse zu Oberalp- und Lukmanierpass zu sichern. Andere Schenkungen an Klöster auf der Alpensüdseite und in Ursern durch Karolinger, Ottonen und Kaiser Friedrich Barbarossa zeigen die kaiserlichen Interessen an der Beherrschung der Alpenpässe. In diesem Bestreben wurde Pfäfers karolingisches Reichskloster. Als religiöses und kulturelles Zentrum im früh- und hochmittelalterlichen Churrätien beteiligte es sich an der Gründung des Klosters Müstair, das im letzten Viertel des 8. Jahrhunderts auf kaiserlichem Boden errichtet wurde. Dieses wurde von den Karolingern ebenso reich beschenkt und 881 dem Bischof von Chur im Tausch mit Gütern im Elsass überlassen. Das Ziel scheint auch hier die Sicherung eines Übergangs (Ofenpass) gewesen zu sein.
Die unwirtlichen Alpen und die weiten Wälder der Voralpen zogen stets auch Eremiten an. Am Ufer der Steinach, bei der Einsiedelei und dem Grab des heiligen Gallus, der nach der Überlieferung zu jenen irischen Mönchen gehörte, die in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts den Jura und die Alpen missionierten, gründete 719 der Alemanne Otmar ein Kloster, welches der Benediktregel folgte und für die Erschliessung und Christianisierung Alemanniens von grosser Wichtigkeit wurde. Anderthalb Jahrhunderte später zog sich der Reichenauer Mönch Meinrad in den Finstern Wald zurück, wo er in völliger Abgeschiedenheit lebte. 861 wurde er dort von Räubern erschlagen. Bei seiner Einsiedelei gründeten später Benno, der – von seinen Feinden geblendet – auf sein Bistum Metz verzichtet hatte, sowie der Strassburger Dompropst Eberhard die Benediktinerabtei Einsiedeln. Diese wurde von den Ottonen mit Streubesitz bis ins Vorarlberg beschenkt. Sie bewahrte indes stets ihre Unabhängigkeit und wurde schliesslich ein Mittelpunkt der Gorzer Reform, die auch auf die Klöster Muri (1027-1030 gegründet), Hermetschwil (um 1083 gegründet) und Engelberg (kurz vor 1124 gegründet) ausstrahlte.
Zur Christianisierung und Binnenkolonisation der Alpen trugen auch andere Orden bei. In der Westschweiz liessen sich Cluniazenser in mehreren Prioraten nieder und belebten von dort aus das Pfarreileben des Umlands. Zisterzienser gründeten ab der Mitte des 12. Jahrhunderts Abteien in Hauterive (FR), Hautcrêt und anderen voralpinen Orten. Prämonstratenser gründeten 1137 Humilimont, Kartäuser 1295 La Valsainte im Greyerzerland und 1331 Gerunden bei Siders. In abgelegenen Gegenden wie im Ranft (Flüeli), Horbistal (oberhalb von Engelberg), Entlebuch, Obertoggenburg oder in der Gegend von Einsiedeln bildeten sich mystische Männer- und Frauengemeinschaften, deren Ruf bis ins Elsass drang. Zwar war der geheimnisvolle «Gottesfreund vom Oberland», unter dessen Namen um die Mitte des 14. Jahrhunderts mehrere mystische Schriften Verbreitung fanden, eine Erfindung des Strassburger Kaufmanns Rulman Merswin, wie bereits im 19. Jahrhundert nachgewiesen werden konnte. Dennoch sind im 14. und 15. Jahrhundert in der Innerschweiz mystische Kreise bezeugt, die mit ähnlich gesinnten Zirkeln am Oberrhein in Verbindung standen.
Die bis zum 13. Jahrhundert andauernde Bevölkerungszunnahme führte zur weiteren Verdichtung des Pfarreinetzes. Da in den Bergen die Wege zur Pfarrkirche häufig beschwerlich lang und im Winter überdies gefährlich waren, wurden neue Pfarreien gegründet. Das Wachstum der Flecken und Städte führte im 13.-15. Jahrhundert zur Gründung neuer oder zur Lösung bestehender Stadtkirchen von ihren Mutterkirchen; die alten Kirchen der grossen Landpfarreien verloren dadurch an Bedeutung. Die Alpwirtschaftszonen wurden erst im 16. Jahrhundert durch Kapuziner missioniert (z.B. Wildkirchli, Rigi).
Die Reformation fiel in einigen Städten und Flecken des schweizerischen Alpenraums auf fruchtbaren Boden, vor allem in Graubünden, weniger dauerhaft im Wallis. Die Reisen des Mailänder Erzbischofs Karl Borromäus in die Schweiz, das entschlossene Handeln einiger Magistraten der Innerschweiz, die am Konzil von Trient teilgenommen hatten, sowie die Volksmission der Kapuziner stärkten die Gegenreformation. Das Wallis wurde förmlich in die Zange genommen von Kapuzinern aus Savoyen und solchen aus der Innerschweiz, die das Oberwallis mit ihren Predigten überfluteten. Da die Reformierten im Wallis von Bern nur schwach unterstützt wurden, gaben sie zu Beginn des 17. Jahrhunderts ihren Widerstand auf. Sie behaupteten sich jedoch in Graubünden und in den Bergtälern, die unter der Herrschaft der reformierten Orte Bern, St. Gallen und Zürich standen. Zunächst allerdings hatte die einheimische Bevölkerung, namentlich in Les Ormonts und im Berner Oberland, den von den Obrigkeiten ausgesandten reformierten Prädikanten erheblichen Widerstand entgegengesetzt.
In der Innerschweiz und im Wallis war auch die alpine Landschaft, welche die Gläubigen umgab, in die katholische Volksfrömmigkeit einbezogen: Heidnische Symbole, wie etwa Findlinge oder Grotten, wurden durch ein Kreuz oder gar durch die Erscheinung der Gottesmutter «verchristlicht», Quellen sprach man die Kraft zu Wunderheilungen zu, auf Berggipfeln, die mitunter heidnische Kultstätten gewesen waren, baute man von Eremiten betreute Kapellen, oder man schuf «heilige Berge» wie Madonna del Sasso in Locarno und Hergiswald am Pilatus. All diese Äusserungen der Volksfrömmigkeit lassen eher an Aberglauben als an eine besondere alpine Religiosität denken, doch waren diese Bräuche wichtig für den Zusammenhalt der alpinen Gemeinschaften. Betrachtet man die Frömmigkeitspraxis dieser Gegenden, so fallen Hauptthemen auf: das stets gegenwärtige Totengedächtnis, das durch Friedhöfe, Kapellen und Beinhäuser wachgehalten wurde, die weite Verbreitung der Bilder volkstümlicher Heiliger wie Christophorus oder Rochus, schliesslich die enge Verbindung von Religion und Patriotismus, wie sie sich in den Schlachtfeiern und in der Verehrung militärischer Heiliger wie Mauritius oder Georg zeigt.
Die Reformation und die katholische Reform führten auch zu – regional allerdings höchst unterschiedlichen – Veränderungen im alpinen Pfarreinetz: Während vor allem in den nordalpinen Gebieten die Zahl der Pfarreien vor der wirtschaftlich abgestützten Expansionsphase des 18. Jahrhunderts bestenfalls gehalten werden konnte, verdoppelte sich in der frühen Neuzeit die Zahl der Pfarrgemeinden in den von scharfer konfessioneller Konkurrenz geprägten Drei Bünden sowie im Oberwallis. Zudem führten der Einsatz von Reformorden in der Seelsorge (Kapuziner, seltener Jesuiten), Stipendien für den Besuch auswärtiger theologischer Hochschulen sowie in bescheidenem Umfang auch die Errichtung eigener theologischer Schulen (z.B. in Einsiedeln) zu einer verbesserten Versorgung mit Seelsorgegeistlichen. Erst mit der Entvölkerung der Alpen gegen Ende des 20. Jahrhunderts kehrte sich die Situation wieder ins Gegenteil.
Wenn man auch nicht direkt von einer alpinen Kunstlandschaft mit über die Jahrhunderte hinweg gemeinsamen Merkmalen und Traditionen sprechen kann, so steht doch fest, dass dem Alpengebiet in der europäischen Kunstgeografie des Mittelalters eine besondere Bedeutung zukommt: einerseits wegen der zahlreichen klösterlichen Zentren, welche die künstlerische Produktion begünstigten, andererseits als Raum, in dem sich Künstler begegneten und künstlerische Traditionen verschiedenen Ursprungs aufeinander trafen und sich vermischten. Überdies blieben manche Zeugnisse künstlerischen Schaffens hier länger erhalten als anderswo, einmal wegen der oft am Hergebrachten festhaltenden Bevölkerung, zum anderen wegen der abrupten Wechsel der wirtschaftlichen und politischen Bedingungen, die in einigen Fällen fast zur Erstarrung führten. Als Transitraum zwischen Italien und West- sowie Mitteleuropa waren die Alpen für viele Jahrhunderte nicht nur in strategischer und politischer, sondern auch in künstlerischer Hinsicht von grosser Bedeutung.
In den Schweizer Alpen hat sich – vor allem in den hier im Vordergrund stehenden Bereichen der Architektur und der Kunst am Bau – eine beträchtliche Anzahl mittelalterlicher Kunstdenkmäler erhalten, die auf bedeutende alte Bistumssitze wie Chur, Sitten, Genf und Lausanne sowie auf Benediktinerabteien wie Saint-Maurice, Disentis und Müstair zurückzuführen sind. Im 8.-9. Jahrhundert vermehrte das Wirken der fränkischen Herrscher die Zahl der Klöster namentlich an strategisch günstigen Lagen zur Kontrolle des Verkehrs über die Bündner Pässe (St. Gallen, Pfäfers, Disentis, Müstair).
Die karolingische Zeit drückte der künstlerischen Produktion im Alpenraum in besonderem Masse ihren Stempel auf. Bauten wie die Klosterkirchen von Müstair und Mistail sind namhafte Beispiele der dreiapsidigen Saalkirche. In Disentis sind bemerkenswerte Fragmente von Stuckaturen erhalten, in Schänis, Chur und Saint-Maurice bearbeitete Steinplatten von Chorschranken und Ambonen. Einzigartige Fresken befinden sich in Müstair, wo sich der umfangreichste Zyklus karolingischer Wandmalereien erhalten hat. Für ihre Goldschmiedarbeiten sind Saint-Maurice und Chur berühmt, für die illuminierten Handschriften St. Gallen und Pfäfers. In der Architektur wie auch in der Malerei sind die mailändischen und allgemein lombardischen Einflüsse stark. Daneben wurden aber auch andere Formen übernommen. Die Fresken von Naturns, das bis 1820 zur Diözese Chur gehörte, zeigen beispielsweise insulare Einflüsse, die wahrscheinlich über St. Gallen dorthin wirkten. Im Frühmittelalter wurden in Zentren des benachbarten Tieflandes – besonders in Mailand, Verona, Aquileia, Konstanz, Augsburg, Salzburg und in der grossen Abtei Reichenau – künstlerische Formen und Lösungen erarbeitet, die eine nachhaltige Wirkung im Alpenraum entfalteten.
Eine Blütezeit für die Kunst in den Alpen, sowohl was die Zahl der erhaltenen Kunstwerke wie auch deren Bedeutung betrifft, ist das 12. Jahrhundert. Wie in der vorhergehenden Epoche befinden sich die wichtigsten Werke im rätischen Raum. Bedeutend sind die Fresken in der Krypta der Abteikirche Marienberg, die um die Mitte des 12. Jahrhunderts erbaut wurde. Diese Fresken zeigen Formen, die aus dem Norden stammen. Die Künstler dürften aus Süddeutschland gekommen sein, vielleicht aus Ottobeuren, woher die ersten Äbte des Klosters stammten. Auf den Zyklus von Burgeis beziehen sich die romanischen Fresken von Müstair, ebenso die der nahen Kirche von Taufers und einige Fresken der Schlosskapelle von Hocheppan (Appiano). Ebenfalls im alten Rätien hat sich ein eindrückliches Zeugnis mittelalterlicher Malerei erhalten: die um 1160 gemalte Holzdecke der Kirche St. Martin in Zillis. In der Kathedrale von Chur findet sich eine Gruppe von Kapitellen, in denen lombardischer Einfluss sichtbar ist, der entweder direkt oder über die Bauhütte des Zürcher Grossmünsters wirksam wurde. Für die Apostelsäulen aus dem frühen 13. Jahrhundert wurde häufig provenzalischer oder, was wahrscheinlicher ist, norditalienischer Einfluss geltend gemacht. Zahlreich und oft von hoher Qualität sind die Holzschnitzereien des ausgehenden 12. und des 13. Jahrhunderts im Wallis und in Graubünden. Eines der bedeutendsten gotischen Denkmäler in den Schweizer Alpen ist die Kirche von Valeria, die alte Kathedrale von Sitten, die in Etappen im 12. und 13. Jahrhundert erbaut wurde. Hier befindet sich eine Gruppe von einzigartigen Kapitellen, deren Plastik einige Elemente mit den Kapitellen der Kathedrale von Embrun gemeinsam hat.
Im 14. Jahrhundert wurden viele Kirchen und Kapellen in den Alpen mit Wandmalereien ausgestattet, die zum Teil gut erhalten sind. Von der zeitgenössischen profanen Kunst hingegen ist nur wenig überliefert. Tendenzen und Formen verschiedener Herkunft traten nebeneinander, trafen aufeinander oder standen im Gegensatz zueinander: vom lombardischen Giotto-Stil zur höfischen französischen Gotik bis zum oberrheinischen gotischen Expressionismus. Grosse Künstler arbeiteten in dieser Epoche im Alpengebiet: Die Spanne reicht vom süsslichen Stil des Meisters von San Biagio in Ravecchia zum dramatischen des in Graubünden wirkenden Waltensburger Meisters. Im Schloss Chillon finden wir Zeugnisse italienischen Einflusses, vor allem in den Malereien der St. Georgskapelle, unmittelbar neben dem eleganten zeichnerischen Stil nach französischer Manier in der späteren, allzu oft restaurierten Ausschmückung der fürstlichen Camera domini.
Zu Beginn des 15. Jahrhunderts wurde Genf wegen seiner Beziehungen ins Piemont und nach Savoyen ein in jeder Hinsicht wichtiges Zentrum der alpinen Kunstlandschaft. Zuvor waren die künstlerischen Verbindungen fast ausschliesslich auf die Zentren des Rhonetals ausgerichtet gewesen. Im westlichen Alpenraum wirkten Künstler wie der in Genf tätige Turiner Maler Giacomo Jaquerio, Jean Bapteur, Perronet Lamy und Peter Maggenberg (Fresken in Freiburg und Sitten). Charakteristisch für die Kunst des 15. Jahrhunderts in den Westalpen sind die geschnitzten Chorgestühle, wie man sie in Genf, Saint-Claude, Aosta, Saint-Jean-de-Maurienne, Romont (FR), Estavayer-le-Lac, Lausanne und Freiburg findet. Die Bedeutung der Alpen in der europäischen Geschichte des ausgehenden Mittelalters zeigt sich auch darin, dass zwei Fürsten aus der Alpenregion zu den höchsten Würden des Abendlandes aufstiegen: Amadeus VIII. von Savoyen als Papst Felix V. und Friedrich V. von Habsburg als Kaiser Friedrich III.
Baukunst von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart
Autorin/Autor:
Heinz Horat
Der Stockalperpalast in Brig. Fotografie, 1995 (Heinz Dieter Finck).[…]
In der frühen Neuzeit verlor der Alpenraum an politischer und wirtschaftlicher Bedeutung. Das Schwergewicht im Welthandel verlagerte sich vom europäischen Binnenverkehr auf die Übersee-Handelswege; der Transit über die Alpenpässe ging zurück. Durch die Reformation entstanden zudem innerhalb der Alpen konfessionelle Grenzen, die auch kulturell trennend wirkten. In den katholischen Gebieten weckte die tridentinische Reform eine grosse Nachfrage nach neuen Sakralräumen und kirchlichen Ausstattungen. In den alten kulturellen Zentren (Bischofssitze wie Chur, Klöster wie Einsiedeln, Pfäfers, Engelberg, Disentis) entstanden im 17. und 18. Jahrhundert prunkvolle Bauten des Barock. Die neuen Orden der Kapuziner und Jesuiten erstellten ebenfalls Klosteranlagen, Hospize in Graubünden und Kollegien im Barockstil. Auch die Pfarreien beteiligten sich am barocken Bauboom und errichteten Pfarrkirchen und Kapellen mit prächtigen Malereien, Stuckaturen, Skulpturen, Silber- und Goldschmiedarbeiten. Die katholischen Gebiete erhielten so ein deutlich sichtbares barockes Gepräge, wogegen in den reformierten Gegenden die mittelalterliche, zurückhaltender auftretende Bausubstanz besser erhalten blieb. Im profanen Bereich errichteten die eidgenössischen und zugewandten Orte im Zuge der frühneuzeitlichen Herrschaftsverdichtung öffentliche Gebäude wie Rathäuser (Schwyz, Sarnen), Kornhäuser (Schwyz, Altdorf), Zeughäuser (Stans, Zug) oder Landvogteisitze (Lottigna, Bironico). Private Auftraggeber waren in erster Linie die in fremden Diensten reich gewordenen Militärunternehmer, die sich nach ausländischen Vorbildern vornehme Herrenhäuser erbauen liessen (Schwyz, Näfels, Gersau). Der Stockalperpalast in Brig ist eines der wenigen Zeugnisse von privatem Reichtum, der durch Wirtschaftstätigkeit im Alpenraum geschaffen worden ist.
Das Alpenmassiv war auch in der frühen Neuzeit mehr Impuls als Hindernis. Es beeinflusste den Kunstbetrieb durch die topografische Begrenzung, aber auch durch den damit verbundenen Zwang zur Öffnung. Einerseits blieben die einheimischen Traditionen über eine besonders lange Zeitspanne bewahrt, andererseits förderte die lokale Kargheit die Auswanderung. Da alle grossen kulturellen Zentren ausserhalb des Alpenraums lagen und sich die Lebensbedingungen in den Bergen verschlechterten, gewannen die in der Regel saisonalen Wanderungen in die Metropolen eine europaweit registrierte, wirtschaftliche und kulturelle Bedeutung. Handwerkliches Können und soziale Organisationsformen blieben in den traditionellen Auswanderungsgebieten, vor allem in den Südtälern, erhalten. Dank ihren Fähigkeiten und engen verwandtschaftlichen Beziehungen stiegen die Handwerker in der Fremde rasch auf und wurden ihrerseits zu bedeutenden Kulturträgern, deren Können in die Heimat zurückstrahlte. Von dieser grossräumigen Wanderarbeit lebten insbesondere die sogenannten Prismeller aus der Valsesia, die Comasken, die Tessiner des Sottoceneri und die Graubündner oder Misoxer. Die wichtigsten Berufsgattungen waren Baumeister, Steinmetzen, Stuckatoren, Maler, Bildhauer und Schreiner. Einige von ihnen erlangten europäischen Ruhm wie die Tessiner Domenico Fontana, Carlo Maderno und Francesco Borromini, die während eines Jahrhunderts die Bautätigkeit in Rom beeinflussten. Diesen grossräumigen Kulturbeziehungen standen die lokalen und regionalen künstlerischen Tätigkeiten gegenüber, die in der Barockzeit Künstlerdynastien wie die Walliser Familien Sigrist und Ritz hervorbrachten.
Der am Ende des 18. Jahrhunderts einsetzende gesellschaftliche Umbruch drängte die traditionellen Kulturträger (Klöster, Soldunternehmer) in den Hintergrund. In den wenigen proto- und frühindustrialisierten Gebieten des Alpen- und Voralpenraums (z.B. Glarus, Appenzell Ausserrhoden) trat eine neue Schicht von Unternehmern auf, die sich architektonisch mit Fabrikantenvillen manifestierte. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts setzte durch den Aufschwung des Tourismus, des Eisenbahn- und Strassenbaus und der Energiegewinnung ein Bauboom ein, der die Physiognomie des Alpenraums entscheidend veränderte.
Plakat für das Hôtel Belvédère an der Furkastrasse, um 1906 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
[…]
Die mythisch überhöhte Wertschätzung der Alpen in der Geistigen Landesverteidigung gab dem alpinen Kulturgut und Schaffen eine nationale Weihe: Das Chalet tauchte als Inbegriff des Schweizer Hauses auch in den städtischen Agglomerationen des Mittellandes auf. Die städtisch wirkenden Hotelpaläste dagegen wurden im Sinne des Heimatschutzes als Fremdkörper im Alpenraum abgerissen (z.B. Rigi-Kulm). In der Nachkriegszeit griff die zeitgenössische Architektur die physische Kraft der Berge und die extremen Bedingungen des Bauens in den Alpen wieder auf. Architekten und Künstler begegneten dem alpinen Ort und seiner noch heute oft archaischen Tradition mit einfachen und beeindruckenden Bauten. Neue Bergkirchen, wie Sogn Benedetg (Sumvitg) von Peter Zumthor (1988) oder Mario Bottas Kapellen in Mogno (1995) und auf dem Monte Tamaro (1996), sowie mehrere SAC-Hütten sind starke Zeichen in der alpinen Landschaft. Mit den unscheinbaren Interventionen, die Künstler im Umfeld des Hotels Furkablick vornahmen, griff Marc Hostettler in seinem 1983 begonnenen Projekt Furk Art die im Übrigen besonders in der Malerei (siehe Kapitel Wahrnehmung und Ideologie) geleistete Auseinandersetzung mit den Alpen neu auf.
Wahrnehmung und Ideologie
Die «Entdeckung» der Alpen
Autorin/Autor:
François Walter
Übersetzung:
Arno Aeby
Wie haben die allgemeine geschichtliche Entwicklung, natürliche Veränderungen sowie Eingriffe des Menschen in die Umwelt auf das Bild der Alpen gewirkt? Wohl keine andere Naturlandschaft in Europa hat die Vorstellungswelt sowohl ihrer Bewohner wie auch der auswärtigen Betrachter so nachhaltig mitgeprägt wie das Alpengebirge. Die geistige und symbolische Aneignung erfolgte in mehreren Schüben seit dem ausgehenden Mittelalter. Bis dahin hatte das Gebirge als abweisender und gefährlicher Raum gegolten, den man umging oder notfalls auf dem kürzesten Weg hinter sich brachte. So ist es nicht verwunderlich, dass Kelten und Römer nur die bedeutendsten Gebirgsübergänge benannten – zum Beispiel den Mons Jovis/Mons Poeninus (Grosser St. Bernhard). Die Entdeckung der Alpen in der Moderne ist denn auch gekennzeichnet von einer «Besitzergreifung» durch Namengebung.
Ein Wandel bahnte sich im Laufe des Mittelalters an, als die Bevölkerungsdichte zunahm, die Alpentäler erschlossen wurden und sich ein reger Verkehr über die Alpenpässe entwickelte. Zwar blieben die «wilden Gebirge» mit ihren Gefahren noch immer unheimlich und boten zahlreichen abergläubischen Vorstellungen Nahrung. So sind um 1430 aus dem Gebiet zwischen dem Wallis und der Dauphiné erstmals die grundlegenden Elemente des Hexensabbats überliefert, die später verteufelt und zum Vorwand für die grossen Hexenverfolgungen in der gesamten abendländischen Christenheit wurden. Der gleichzeitig geführte Kampf der Kirche gegen den Dämonenglauben bewirkte, dass überall in den Alpen Andachtsstätten und -bilder zu Ehren der Schutzheiligen entstanden, vor allem für St. Niklaus, St. Jakob, St. Bernhard und St. Theodul.
Die erste wirkliche «Entdeckung» der Alpen geht auf die Renaissance zurück. Man begann, das Gebirge an sich wahrzunehmen, in der Wirklichkeit wie auch in der Darstellungsweise. In gewissem Sinne renaissancehaft war schon die Besteigung des Pilatus durch den Luzerner Mönch Niklaus Bruder und fünf Begleiter im Jahr 1387. Sie missachteten dadurch das religiös begründete Verbot, mit dem der mythische Berg aus Angst vor Gefahren belegt war. Im Gemälde Der wunderbare Fischzug schuf Konrad Witz 1444 mit dem Panorama des Mont Blanc über der Genfer Seebucht die erste realistische Landschaftsdarstellung. Ein Gebiet mit einem Gebirge als Horizont abzugrenzen, wurde auch zum Mittel, die objektive Wahrnehmung der Landschaft zu fördern.
«Helvetia: das ist: Schweizerland oder Eidgenossenschaft» verkündet der Titel dieser Abbildung aus der 1552 in Basel publizierten Cosmographia von Sebastian Münster (Bibliothèque de Genève, Archives Nicolas Bouvier).
[…]
Die Entmythisierung der Alpen haben erst die geistigen Eliten von Zürich und Bern wirklich eingeleitet, indem sie sie ganz einfach als nüchterne Betrachter wissenschaftlich zu erforschen begannen. Der St. Galler Humanist Vadian unternahm 1518 erneut eine Besteigung des Pilatus, frei von religiösen Skrupeln oder Nutzungsabsichten. Sein Unternehmen symbolisiert damit den Anfang einer gewandelten Beziehung zum Gebirge. Der Humanist und Naturforscher Konrad Gessner sprach schon 1541 von seiner Bewunderung angesichts der Erhabenheit und Mannigfaltigkeit des Gebirges. Aegidius Tschudi verfasste 1538 als Erster eine geografische Abhandlung über die Bündner Alpen. Der Berner Thomas Schöpf zeichnete 1578 die erste Karte des Berner Oberlands, und Kosmografen, wie 1543 Sebastian Münster, schlossen die Beschreibung der Alpen in ihre Werke ein. Der berühmte Theologe und Geschichtsschreiber Josias Simler veröffentlichte 1574 in Zürich De Alpibus Commentarius, ein Werk, in welchem dem Begriff Alpen Bedeutungen zugeschrieben werden, die zum Teil noch Gültigkeit haben: die Alpen zum einen als Sperrriegel zwischen Italien und dem übrigen Europa, zum andern als Begriff für die offenen Passübergänge durch die Gebirgskette und im erweiterten Sinn auch als nutzbare Weiden an den Berghängen.
Die in der Renaissance aufgekommene Betrachtungsweise fand erst im 18. Jahrhundert allgemeine Verbreitung. Sofern die Alpen im 17. Jahrhundert überhaupt zur Darstellung gelangten, geschah dies vor allem als Hindernis. Kartografen und Topografen stellten das Gebirge in Parallelperspektive dar und unterstrichen so dessen Charakter als Grenze und Wall. Matthäus MeriansTopographia Helvetiae, Rhaetiae et Valesiae (1642) ist ein Beispiel unter vielen für diese Sichtweise.
Ein Bergungeheuer. Stich aus der 1723 in Leiden publizierten Ausgabe der Itinera per Helvetiae alpinas regiones von Johann Jakob Scheuchzer (Privatsammlung).[…]
In engem Zusammenhang mit der Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens entstanden vom ausgehenden 17. Jahrhundert an zahlreiche physikalisch-theologische Betrachtungen über Gebirge. Der Waadtländer Pastor Elie Bertrand veröffentlichte 1754 als einer der Ersten eine allgemeine Abhandlung über das Gebirge. Im Essai sur les usages des montagnes deckte er hinter dem scheinbaren Chaos der Topografie eine göttliche Ordnung zum Nutzen des Menschen auf. Doch schon um die Mitte des 18. Jahrhunderts hatten neue Methoden der Naturforschung das Bild der Alpenwelt grundlegend verändert. Bahnbrechend wirkte in dieser Hinsicht der Zürcher Gelehrte Johann Jakob Scheuchzer, ein unermüdlicher Ouresiphoités (= Berggänger, so auch der Titel seiner Sammlung von Reiseberichten durch die Schweizer Alpen), Verfasser zahlreicher Schriften (1700-1723), die unter dem Sammeltitel Itinera alpina bekannt geworden sind. Gottlieb Sigmund Gruner veröffentlichte 1760 eine ausführliche Beschreibung der Gletscher (Die Eisgebirge des Schweizerlandes).
Gewitter über dem Unteren Grindelwaldgletscher. Öl auf Leinwand vonCaspar Wolf, um 1775 (Aargauer Kunsthaus, Aarau).
[…]
Nach und nach wurden die Gelehrten zu kühnen Alpinisten, die auch höchste Gipfel erklommen: eine entscheidende Etappe der Entmythisierung des Gebirges, die in der Renaissance begonnen hatte. Schwierige Besteigungen folgten einander in Graubünden, im Berner Oberland, im Wallis und im Mont-Blanc-Massiv. Den Pionieren, oft Gelehrten von Ruf, folgten bald begüterte Reisende, darunter viele Engländer. Vor allem von Genf aus ergoss sich eine eigentliche Reisewelle in das «Eisgebirge». Horace Bénédict de Saussure, bekannt durch seine Besteigung des Mont Blanc 1787 (ein Jahr nach der Erstbesteigung), war ein leidenschaftlicher wissenschaftlicher Experimentator, der den Geheimnissen der Erdgeschichte auf die Spur kommen wollte. Auch der Genfer Naturforscher Jean-André Deluc, für den die Alpen ein weitläufiges Laboratorium waren, wurde vom selben enzyklopädischen Wissensdrang getrieben, der für die Aufklärung bezeichnend ist.
Vermessung des Staubbachfalls im Lauterbrunnental. Radierung vonBalthasar Anton Dunker und Joseph Störklinnach einer Skizze vonCaspar Wolfaus Jakob Samuel WyttenbachsMerkwürdige Prospekte aus den Schweizer-Gebürgen und derselben Beschreibung, gedruckt 1777 bei Abraham Wagner in Bern (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv).
[…]
Neu an der Wahrnehmung der Alpen im 18. Jahrhundert ist nicht nur, dass sie zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung geworden waren, sondern auch, dass sie als erhabenes Schauspiel erlebt wurden. Die Erfahrung des Erhabenen geschah in der Begegnung des empfindsamen Menschen mit der grossartigen Gebirgslandschaft. Der Berner Gelehrte und Literat Albrecht von Haller beschrieb das Gebirge als malerischen Ort des Gefühls, harmonisch verwoben mit dem einfachen Leben seiner Bewohner. Seine Dichtung Die Alpen (1732) wurde bald übersetzt und zu Lebzeiten des Autors elfmal aufgelegt. In Salomon GessnersIdyllen (1762) erhielt die gefühlsbetonte Soziologie der glücklichen Alpenbewohner ihre poetische Form: Der Dichter idealisierte sie zu tugendhaften, kraftvollen und gastfreundlichen Hirten. In Jean-Jacques Rousseaus Roman La Nouvelle Héloïse (1761) fanden die Sozialanthropologie und die natürliche Umwelt ihren vollendeten literarischen Ausdruck. Die Alpenlandschaft war von der Literatur entdeckt worden und wurde natürlicherweise bald auch Gegenstand der Malerei und des kolorierten Stichs. Alpenansichten waren beim Publikum so beliebt, dass eigentliche Schulen für Schweizer Landschaftsmalerei entstanden: vorromantisch idealisierend im 18. Jahrhundert diejenige von Caspar Wolf und Johann Ludwig Aberli, in romantischem Geiste und fasziniert vom Schauspiel der Naturkräfte die Genfer Schule der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (François Diday, Alexandre Calame).
In den 1830er Jahren zogen die neuen Kunststrassen über die Alpenpässe den Blick auf sich, kühne Werke der Ingenieurskunst und erste Boten des technischen Fortschritts, der das Verhältnis des Reisenden zum Berg grundlegend veränderte. Die Faszination, die von der Wechselwirkung zwischen Technik und Natur ausging, vermitteln Bilder von Friedrich Wilhelm Delkeskamp, Rudolf Koller oder Johannes Weber. Im Zuge der touristischen Erschliessung der Bergtäler liessen sich Künstler in den Alpen nieder, die ihre Wahrnehmung der alpinen Landschaften und ihrer Bewohner – oft als Fremde, die sie blieben – in vielfältigen Formen zum Ausdruck brachten: in symbolistischer Weise Giovanni Segantini, der ab 1886 als erster europäischer Maler dauernd im Hochgebirge lebte, in befreiter Farbe und von impulsiver Sinnlichkeit der Bergeller Giovanni Giacometti, in expressionistischer Darstellung als Psychogramm der eigenen Individualität Ernst Ludwig Kirchner, als von der Landschaft seelisch sichtbar berührter Betrachter Oskar Kokoschka.
Die Alpen und die schweizerische Identität
Autorin/Autor:
François Walter
Übersetzung:
Arno Aeby
Ganz allgemein in der Geschichte waren Gebirgsgegenden der Identitätsbehauptung ihrer Bewohner förderlich. So verband man schon sehr früh, nämlich bereits in der Renaissance, das Bild der schweizerischen Nation mit den Alpen. Es formte sich ein schweizerisches Modell der Freiheit, vorgelebt von den Gebirgsbewohnern und im Widerspruch zur Gesellschaftsordnung der in Europa vorherrschenden Monarchien stehend. Das 18. Jahrhundert gab diesen Vorstellungen einen neuen Zusammenhalt, indem es sie ausdrücklich mit einem Landschaftsmodell verband: Der echte Schweizer konnte nur ein Bergler sein. So wurde die ganze Geschichte der Eidgenossenschaft aus der Optik besonderer historischer und topografischer Vorstellungen neu gedeutet. Hirtentum und Gebirge wurden zu Wesenselementen schweizerischer Identität, wie sie später beispielhaft in Johanna Spyris Heidi-Erzählungen zum Ausdruck kam.
Die Wiege der Eidgenossenschaft. Entwurf des Genfer Malers Charles Giron zum Wandgemälde, das seit 1901 den Nationalratssaal des Bundeshauses in Bern schmückt (Sammlung des Schweizerischen Roten Kreuzes; FotografieA. & G. Zimmermann, Genf).[…]
Solche Bezüge spielten im 19. Jahrhundert bei der Bildung des neuen Bundesstaats eine wesentliche Rolle. Gegenüber den grossen Nationalstaaten fand die Schweiz ihre Legitimation als Mutter der Ströme (Helvetia mater fluviorum) und Hüterin der Alpenpässe im Herzen Europas. Das politische Bewusstsein der Schweiz äusserte sich in Bezügen auf die Alpen: sei es bei grossen patriotischen Jubelfeiern (z.B. der 600-Jahr-Feier der Eidgenossenschaft 1891), im grossen Wandgemälde, das Charles Giron 1901 für den Nationalratssaal schuf, in einem um die Jahrhundertwende vor allem patriotisch und ideologisch motivierten Naturschutz, der zur Schaffung des Nationalparks führte, oder in den Landesausstellungen. So verwundert es nicht, dass sich Ferdinand Hodler mit seiner Gebirgs- und Historienmalerei trotz seiner malerischen Kühnheit gewissermassen als Maler der offiziellen Schweiz profilierte. Ebenso wenig verwundert es, dass alpine Themen – wie auf Alpweiden grasende Kühe oder das Matterhorn – immer wieder weltweit in der Werbung eingesetzt wurden. Dass diese Bilder am Ende des 20. Jahrhunderts etwas an Symbolkraft eingebüsst haben, passt wiederum zur fortschreitenden Verunsicherung über die Bedeutung von Geschichte und Identität in einer rasch sich wandelnden Gesellschaft.
Die folgende Auswahl beschränkt sich grundsätzlich auf jüngere Publikationen mit Überblickscharakter. Berücksichtigt wurden überdies orts-, regional- und kantonsgeschichtliche Werke, die hinsichtlich der Ansätze und Methoden als beispielhaft gelten können.
Allgemeines
Le Alpi e l'Europa, 5 Bde., 1974-1977
Geschichte der Alpen in neuer Sicht, hg. von J.-F. Bergier, 1979
Histoire et civilisations des Alpes, hg. von P. Guichonnet, 2 Bde., 1980
Umbruch im Berggebiet, hg. von E.A. Brugger et al., 1984
Das Gebirge: Wirtschaft und Gesellschaft, 1985
Wirtschaft und Gesellschaft in Berggebieten, hg. von M. Mattmüller, 1986
Le Alpi per l'Europa, 1988
Wirtschaft des alpinen Raums im 17. Jahrhundert, hg. von L. Carlen, G. Imboden, 1988
Innerschweiz und frühe Eidgenossenschaft, 2 Bde., 1990
Die Entdeckung der Alpen, hg. von J.-F. Bergier, S. Guzzi, 1992
Die Alpenkonvention – eine Zwischenbilanz, hg. von W. Danz, S. Ortner, 1993
Geschichte der Alpen 1-, 1996-
Quand la montagne aussi a une histoire, hg. von M. Körner, F. Walter, 1996
J.-F. Bergier, Pour une histoire des Alpes, 1997
J. Mathieu, Geschichte der Alpen 1500-1900, 1998
Handbuch der Bündner Geschichte, 4 Bde., 2000
Geschichte des Kantons Tessin, hg. von R. Ceschi, 2 Bde., 2003 (italienisch 1998)
Naturgeschichte
M. Pellegrini, Materiali per una storia del clima nelle Alpi lombarde durante gli ultimi cinque secoli, 1974
R. Trümpy, An Outline of the Geology of Switzerland, 1980
W. Bätzing, Die Alpen: Naturbearbeitung und Umweltzerstörung, 41988
C. Pfister, Klimageschichte der Schweiz, 1525-1860, 31988
T.P. Labhart, Geologie der Schweiz, 31995
C. Pfister, Wetternachhersage, 1999
Urgeschichte und Antike
L. Pauli, Die Alpen in Frühzeit und Mittelalter, 21981
A. Gallay, «La place des Alpes dans la néolithisation de l'Europe», in The Neolithisation of the Alpine Region, hg. von P. Biagi, 1990, 23-42
M. Primas et al., Archäologie zwischen Vierwaldstättersee und Gotthard, 1992
Prähistorische Umwelt, Gesellschaft und Wirtschaft in den Alpen, hg. von P. Della Casa, 1999
P. Della Casa, Mesolcina praehistorica, 2000
Bevölkerungs- und Sozialgeschichte
H. Bernhard et al.,Studien zur Gebirgsentvölkerung, 1928
R. McC. Netting, Balancing on an Alp, 1981
M. Bundi, Zur Besiedlungs- und Wirtschaftsgeschichte Graubündens im Mittelalter, 1982
F. Walter, Les campagnes fribourgeoises à l'âge des révolutions (1798-1856), 1983
M. Mattmüller, Bevölkerungsgeschichte der Schweiz, Teil 1, 2 Bde., 1987
L. Zanzi, E. Rizzi, I Walser nella storia delle Alpi, 1988
A. Zurfluh, Une population alpine dans la Confédération, 1988
P.P. Viazzo, Upland Communities, 1989
P. Dubuis, Une économie alpine à la fin du Moyen Age, 2 Bde., 1990
U. Kälin, Die Urner Magistratenfamilien, 1991
Der Weg in die Fremde, hg. von B. Mesmer, 1992
Die Erhaltung der bäuerlichen Kulturlandschaft in den Alpen, 1992
Wirtschaftsgeschichte
H. Walter, «Bergbau und Bergbauversuche in den Fünf Orten», in Der Geschichtsfreund78, 1923, 1-107; 79, 1924, 79-180; 80, 1925, 69-172
H. Grossmann, Flösserei und Holzhandel aus den Schweizer Bergen bis zum Ende des 19. Jahrhunderts, 1972
H.C. Peyer, «Wollgewerbe, Viehzucht, Solddienst und Bevölkerungsentwicklung in Stadt und Landschaft Freiburg i.Ü. vom 14. bis 16. Jahrhundert», in Agrarisches Nebengewerbe und Formen der Reagrarisierung im Spätmittelalter und 19./20. Jahrhundert, hg. von H. Kellenbenz, 1975, 79-95
G. Bloetzer, Die Oberaufsicht über die Forstpolizei nach schweizerischem Bundesstaatsrecht, 1978
F. Glauser, «Von alpiner Landwirtschaft beidseits des St. Gotthards 1000-1350», in Der Geschichtsfreund 141, 1988, 5-173
J. Mathieu, Eine Agrargeschichte der inneren Alpen, 1992
T. Kuonen, Histoire des forêts de la région de Sion du Moyen-Age à nos jours, 1993
J.D. Parolini, Zur Geschichte der Waldnutzung im Gebiet des heutigen Schweizerischen Nationalparks, 1995
R. Sablonier, «Waldschutz, Naturgefahren und Waldnutzung in der mittelalterlichen Innerschweiz», in Schweizerische Zeitschrift für Forstwesen 146, 1995, 581-596
Verkehr
Geschichte des mittelalterlichen Handels und Verkehrs zwischen Deutschland und Italien mit Ausschluss von Venedig, 2 Bde., 1900 (21966)
W. Baumann, Der Güterverkehr über den St. Gotthardpass vor Eröffnung der Gotthardbahn, 1954
M.C. Daviso di Charvensod, I pedaggi delle Alpi occidentali nel medioevo, 1961
F. Glauser, «Der internationale Gotthardtransit im Lichte des Luzerner Zentnerzolles 1493-1505», in Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 18, 1968, 177-245
Handel und Verkehr über die Bündner Pässe im Mittelalter, hg. von W. Schnyder, 2 Bde., 1973-1975
H. Hassinger, «Zur Verkehrsgeschichte der Alpenpässe in der vorindustriellen Zeit», in Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 66, 1979, 441-465
J. Simonett, Verkehrserneuerung und Verkehrsverlagerung in Graubünden, 1986
Kaspar Jodok von Stockalper, Handels- und Rechnungsbücher, hg. von G. Imboden et al., 10 Bde., 1987-1997
S. Brönnimann, «Die schiff- und flössbaren Gewässer in den Alpen von 1500 bis 1800», in Der Geschichtsfreund 150, 1997, 119-178
A. Esch, Alltag der Entscheidung, 1998
L. Tissot, Naissance d'une industrie touristique, 2000
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Jean-François Bergier; Margrit Irniger; Christian Pfister; Philippe Della Casa; François Wiblé; Florian Hitz; Hans Stadler; Anton Schuler; Ulrich Pfister; Thomas Busset; Fritz Glauser; Quirinus Reichen; Catherine Santschi; Enrico Castelnuovo; Heinz Horat; François Walter: "Alpen", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 17.07.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008569/2013-07-17/, konsultiert am 08.10.2024.