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Römisches Recht

Das römische Recht, das sich von den ersten Jahrhunderten der Republik bis zur späten Kaiserzeit entwickelt hatte, wurde im Auftrag des Kaisers Justinian in einem Sammelwerk zusammengetragen. Die 528-534 erstellte Kompilation setzt sich aus einem Anfängerlehrbuch (Institutiones oder Institutionen), einer Sammlung rechtswissenschaftlicher Texte (Digesta oder Digesten, auch Pandekten genannt) sowie den kaiserlichen Gesetzen (Novellae constitutiones oder Novellen, auch als Codex bezeichnet) zusammen; vermehrt um anderweitig überlieferte, zusätzliche Novellen, die Justininan bis zu seinem Tod erliess, bildet sie das «Corpus Iuris Civilis» (diese Bezeichnung kam allerdings erst im Mittelalter auf). Dieses stellt das wichtigste Sammelwerk des römischen Rechts und das vollständigste Corpus juristischer Texte, das aus der Antike erhalten ist, dar. Namentlich über die grossen europäischen Kodifikationen des 19. und 20. Jahrhunderts beeinflusste es die meisten der heutigen Rechtsordnungen sowohl in Kontinentaleuropa als auch in Lateinamerika und teilweise sogar in Asien. Es hinterliess auch einige Spuren im angelsächsischen Recht.

Auch nach der Völkerwanderung und dem Untergang des Römischen Reichs verschwand das römische Recht nicht abrupt. Auszüge davon finden sich namentlich in der «Lex Romana Burgundionum» (Burgunderrechte) und in der «Lex Romana Curiensis». Es verblasste jedoch weitgehend vor dem Gewohnheitsrecht und wurde erst einige Jahrhunderte später wiederentdeckt.

Titelseite einer Ausgabe der Kompilation von Justinian, beim Verleger Jean Vignon in Genf erschienen, 1614 (Stiftsbibliothek St. Gallen; Fotografie Carsten Seltrecht).
Titelseite einer Ausgabe der Kompilation von Justinian, beim Verleger Jean Vignon in Genf erschienen, 1614 (Stiftsbibliothek St. Gallen; Fotografie Carsten Seltrecht).

Im Gebiet der heutigen Schweiz wie überall in Europa übte das römische Recht seinen Einfluss hauptsächlich über vier Wege aus: die universitäre Ausbildung, die gelehrte Doktrin, die Gesetzgebung und die Rechtswissenschaft. Nach der Wiederentdeckung des «Corpus Iuris Civilis» in Italien gegen Ende des 11. Jahrhunderts strömten Studenten aus ganz Kontinentaleuropa in die ab Anfang des 12. Jahrhunderts gegründeten norditalienischen Rechtsschulen (unter anderem Bologna, Pavia, Padua, Siena und Perugia), an denen römisches und kanonisches Recht gelehrt wurde. Zurück in ihrer Heimat, verbanden diese jungen Juristen ihre Kenntnisse des römischen Rechts mit dem örtlichen Recht, oft einem Gewohnheitsrecht, so dass das römische Recht im 13. und 14. Jahrhundert als subsidiäres Recht galt, welches das örtliche Recht ergänzte. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts wurde das römische Recht sogar als subsidiäres ius commune betrachtet, gemeinsam für jene Länder, die in der romanistischen Tradition standen. Vor allem durch die Rechtswissenschaft und die Rechtslehre floss das römische Recht unmerklich ins regionale Regelwerk ein.

Trotz des Westfälischen Friedens (1648), der die Eidgenossen vom Reich trennte und den Weg für eine unabhängige Entwicklung des Rechts frei machte, blieben Spuren des römischen Rechts in der Gesetzgebung der eidgenössischen und der zugewandten Orte bestehen. Namentlich in Bern und in Basel, aber auch in Genf galt das römische Recht weiterhin bis ins 18. Jahrhundert als subsidiäres Recht, auch wenn sein Einfluss geringer war als im Reich, das über ein Appellationsgericht und Juristen mit solider Ausbildung in römischem Recht verfügte.

Die Rechtslehre entwickelte sich in den höheren Schulen der Schweiz vor allem ab dem 16. Jahrhundert. Bedeutende hugenottische Juristen gelangten als Glaubensflüchtlinge in die Schweiz. Von der Genfer Akademie strahlte das römische Recht dank François Hotman, Denys Godefroy und dessen Sohn Jacques auf ganz Europa aus. Die Humanisten der Rechtsfakultät in Basel trugen ebenfalls zu dieser neuen Rezeptionswelle bei (Bonifacius Amerbach, Samuel Grynaeus, Ulrich Zasius, Basilius Amerbach und Hotman). Sie forderten eine Rückkehr zum klassischen römischen Recht, das mit den vom Humanismus entdeckten philologischen Methoden aus der justinianischen Kompilation herauszuarbeiten sei (Rechtsquellen).

Ab dem 17. Jahrhundert besetzten die Theoretiker des Naturrechts das Thema des materiellen römischen Rechts, dem sie eine neue Form zu geben suchten. Diese mächtige Strömung prägte im kontinentalen Westeuropa die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts und das 18. Jahrhundert und legte die Basis für die grossen Kodifikationen des 18. und des 19. Jahrhunderts. Jean Barbeyracs Übersetzungen der wichtigsten Werke von Hugo Grotius und Samuel Pufendorf bewirkten eine grosse Verbreitung der ins Naturrecht aufgenommenen römischen Rechtssätze und verschafften der Akademie Lausanne, an der Barbeyrac 1711-1717 lehrte, zeitweilig europaweites Renommee. Der Genfer Jean-Jacques Burlamaqui und der Neuenburger Emer de Vattel trugen ebenfalls zur Verbreitung des materiellen römischen Rechts in der Schweiz, in Frankreich, Spanien, Italien, England und Amerika bei.

Trotz der hohen Qualität der Arbeit an den Akademien sank der Ausbildungsstandard der Rechtspraktiker nach der Trennung vom Reich. Obwohl das Studium des Naturrechts den Unterricht dominierte und die Institutionen und Digesten Justinians in den Rechtsschulen von ihrer Gründung an praktisch ohne Unterbrechung gelehrt wurden (Basel 1460, Genf 1566, Bern 1679, Lausanne 1708, Freiburg 1763), verlor das materielle römische Recht bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts einen Teil seines Einflusses auf die juristische Praxis, vor allem wegen des Mangels an Anwälten, die mit den römischen Quellen genügend vertraut waren. Aber auch wenn sich das anwendbare Recht und der Grad seiner Nähe zum römischen Recht von Kanton zu Kanton unterschieden, so kann im 18. Jahrhundert doch von einer Form gemeinsamen Privatrechts der Eidgenossen, vervollständigt durch das gelehrte oder römische Recht, gesprochen werden.

Die kantonalen Kodifikationen des 19. Jahrhunderts, namentlich das «Civil-Gesetzbuch für die Stadt und Republik Bern» (1825-1831) und das Zürcher «Privatrechtliche Gesetzbuch» (1854-1856), entstanden im Zeichen einer eindrücklichen Rückkehr des römischen Rechts. Dieses war zwar vor allem in Deutschland wichtig, doch es war auch in der Schweiz mit dem Zürcher Friedrich Ludwig Keller glänzend vertreten. Mehr noch als die kantonalen Gesetzbücher sind das Zivilgesetzbuch (ZGB) und das Obligationenrecht (OR) der Schweiz vom römischen Recht geprägt. Wie der französische «Code civil», der nach dem Vorbild der Institutionen des Rechtsgelehrten Gaius (2. Jh. n.Chr.) in vier Teile gegliedert ist, übernahm das ZGB formal die Unterteilung in vier (Personenrecht, Familienrecht, Erbrecht, Sachenrecht) bzw. fünf Bücher, wenn das Obligationenrecht dazugezählt wird. Bezüglich des materiellen Rechts wurden Walther Munzinger beim alten Obligationenrecht von 1881, Eugen Huber beim Zivilgesetzbuch von 1907 und dem neuen Obligationenrecht von 1911 von den deutschen Pandektisten beeinflusst, die, im Bestreben, eine neue Gesetzgebung auf der Basis des römischen Rechts auszuarbeiten, detaillierte Analysen der antiken Quellen vornahmen. So hat das römische Recht sowohl den schweizerischen als auch den grossen europäischen Gesetzbüchern die grundlegende juristische Grammatik geliefert, die noch heute unsere Vorschriften bestimmt, vor allem im Sachenrecht und in einem wesentlichen Teil des Obligationenrechts. Ebenso werden auch neuere Rechtscorpora wie die Unidroit-Grundregeln für internationalen Handelsverträge oder die Lando-Prinzipien für das Europäische Vertragsrecht, die deutlich vom römischen Recht geprägt sind, die Rechtsprechung des Bundesgerichts und die zukünftige Gesetzgebung beeinflussen.

An den Schweizer Universitäten wird an allen Rechtsfakultäten weiterhin römisches Recht gelehrt. Es macht die Studierenden mit den fundamentalen Rechtsregeln vertraut und führt sie in die juristische Argumentation sowie in die Grundregeln der Geometrie des Rechts ein, die in allen Rechtsordnungen Kontinental- und Westeuropas Gültigkeit haben. Das römische Recht ist auch systematisch in das Studium des europäischen Zivilrechts integriert, das auf einer sowohl komparatistischen als auch historischen Analyse der zeitgenössischen Rechtsbegriffe fusst (Rechtswissenschaften). Und schliesslich wird das römische Recht seit einigen Jahren eingehend von den Gesetzgebern konsultiert, um die neue europäische Rechtsordnung zu vervollkommnen, deren gemeinsame Wurzeln im Wesentlichen römisch sind.

Quellen und Literatur

  • S. Stelling-Michaud, L'Université de Bologne et la pénétration des droits romain et canonique en Suisse aux XIIIe et XIVe siècles, 1955
  • F. Elsener, «Geschichtl. Grundlegung», in Schweiz. Privatrecht 1, 1969, 1-237
  • C. Bergfeld, «Die Schweiz», in Hb. der Qu. und Lit. der neueren europ. Privatrechtsgesch. 1, 1973, 289 f.; 2, 2. Tl., 1976, 436-467
  • F. Elsener, Die Schweizer Rechtsschulen vom 16. bis zum 19. Jh., unter besonderer Berücksichtigung des Privatrechts, 1975
  • «Zur Wirkungsgesch. des Corpus Iuris Civilis», in Corpus Iuris Civilis: Text und Übersetzung, hg. von O. Behrends et al., Bd. 2, 1995, XIII-XXII
Weblinks

Zitiervorschlag

Bénédict Winiger: "Römisches Recht", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 14.04.2011, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/008933/2011-04-14/, konsultiert am 29.03.2024.