Unter germanischen Stammesrechten versteht man die von der zweiten Hälfte des 5. bis ins 9. Jahrhundert entstandenen Rechtsaufzeichnungen der Germanen. Sie stehen in Zusammenhang mit den germanischen Reichsgründungen und sind geprägt von der Begegnung mit dem Römischen Imperium wie auch dem Vorbild der Kirche. Die Reihe der germanischen Stammesrechte beginnt mit dem sogenannten «Edictum Theoderici» des Westgotenkönigs Theoderich II. nach der Mitte des 5. Jahrhunderts, setzt sich fort mit weiteren Rechtsaufzeichnungen der Westgoten und denen der Burgunder, mit dem «Edictum Rothari» der Langobarden von 643 bis zu den unter Karl dem Grossen neu redigierten bzw. erst aufgezeichneten Rechten der Franken, Alemannen und Bayern, der Sachsen, Thüringer und Friesen. Auf dem Gebiet der Schweiz treffen sich der alemannische, der burgundische und der langobardische Rechtskreis; entsprechend spielten die Alemannenrechte, die Burgunderrechte und das langobardische Recht für die Rechtsentwicklung der Schweiz eine wichtige Rolle (Germanisches Recht).
Die germanischen Stammesrechte werden missverständlicherweise auch als Germanenrechte, Volksrechte, leges barbarorum oder kurz als Leges (deutsch Gesetze) bezeichnet. Alle germanischen Stammesrechte sind in lateinischer Sprache abgefasst, was mit Bezug auf ihren Inhalt einen ungeschmälert germanischen Charakter eher zweifelhaft erscheinen lässt; besonders in den alemannischen, burgundischen und langobardischen Stammesrechten finden sich allerdings bedeutende Spuren germanischen Wortguts. Die Bezeichnung «germanisch» weist auf die Entstehung und Bestimmung der germanischen Stammesrechte unter germanischer Herrschaft hin: Die germanischen Stammesrechte wurden auf Initiative der germanischen Fürsten als Einungen zwischen Fürst und Volk erlassen. In manchen Prologen und Epilogen kommt zum Ausdruck, dass die jeweiligen Herrscher zur Durchsetzung der germanischen Stammesrechte auf die Zustimmung der wehrfähigen Männer oder der Grossen des Reichs angewiesen waren. Zu den germanischen Stammesrechten sind ferner auch Aufzeichnungen zu zählen, welche germanische Fürsten im Hinblick auf das Personalitätsprinzip für die römische Bevölkerung ihres Gebietes festschreiben liessen; diese enthalten weitgehend römisches Recht. Das wegen seiner Wirkungsgeschichte bedeutsamste von Germanen aufgezeichnete «Römerrecht» ist die «Lex Romana Visigothorum», das sogenannte «Breviarium Alarici» von 506. Die «Lex Romana Visigothorum» umfasst einen bedeutenden Ausschnitt aus der damals noch erhaltenen römischrechtlichen Tradition mit Kaiserkonstitutionen und lehrhaften Juristenschriften und bildet somit eine Summe weströmischen Vulgarrechts dieser Epoche. Ähnliches gilt für die Lex Romana Curiensis wie auch für die «Lex Romana Burgundionum».
Überhaupt spielt das römische Recht in den germanischen Stammesrechten eine wichtige Rolle. Die Beeinflussung der Rechtsaufzeichnungen durch das römische Recht ist da am stärksten, wo die Germanen, so etwa die Burgunder, als Föderaten auf römischem Reichsboden siedelten; andere wie die Alemannen kamen erst auf mittelbarem Weg mit der römischen Rechtskultur in Kontakt. Selbst hinter eindeutig römischrechtlichen Begriffen kann allerdings germanisches Rechtsdenken stehen; hier sind oft schwierige Übersetzungs- und Interpretationsprobleme zu lösen. Ferner bestehen zwischen einzelnen germanischen Stammesrechten Berührungspunkte, wobei die gegenseitigen Beeinflussungen und eventuell gemeinsame Ursprünge noch nicht völlig geklärt sind. Prägend wirkte auch das Vorbild der Kirche, die nach dem Zusammenbruch des Römischen Reiches zunächst die einzige beständige Organisation bildete und zahlreiche öffentliche Aufgaben wahrnahm. Darüber hinaus hat das Christentum die Idee des Rechts neu bestimmt.
Die germanischen Stammesrechte enthalten sowohl Gewohnheitsrecht wie Satzungen der jeweiligen Herrscher, daneben römisches Recht und Kirchenrecht. Sie vermitteln ein facettenreiches Bild von Rechtssätzen und Rechtsvorstellungen des frühen Mittelalters und sind daher eine wichtige Quelle für die historische Erkenntnis. Die Rechtssätze der germanischen Stammesrechte spiegeln allerdings nicht unbedingt die Rechtswirklichkeit.