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Bundesbriefe

Seit Ende des 19. Jahrhunderts ist es üblich geworden, die eidgenössischen Bündnisurkunden ― einzeln oder in ihrer Gesamtheit ― als Bundesbriefe zu bezeichnen. Der Ausdruck weckt Vorstellungen, die das Verständnis der Sache erschweren. Er suggeriert eine geschlossene Gruppe von Verträgen, die als eidgenössische Sonderform zu verstehen sind und über Jahrhunderte unverändert Gültigkeit hatten. Richtigerweise ist von zahlreichen eidgenössischen Bündnissen unter einer Flut von vergleichbaren Verträgen auszugehen, von denen nur eine beschränkte Zahl langfristig überlebte und denen man in späterer Zeit eine Bedeutung zuschrieb, die sie ursprünglich nicht hatten. Die geswornen pundtbrief (so noch im Stanser Verkommnis 1481) sind erst im Lauf der Zeit zu geschichtsträchtigen Bundesbriefen geworden.

Der Bund zu Brunnen, 9. Dezember 1315 (Staatsarchiv Schwyz, Fotoslg. 11.02.01/12).
Der Bund zu Brunnen, 9. Dezember 1315 (Staatsarchiv Schwyz, Fotoslg. 11.02.01/12). […]

Im Spätmittelalter nahmen sämtliche Inhaber von herrschaftlicher Gewalt das Recht in Anspruch, Bündnisse abzuschliessen. Es gab Fürstenbünde, Städtebünde, Ritterbünde, Bünde unter Landkommunen. In der Regel blieb man «unter sich», aber auch Bündnisse zwischen Fürsten und Städten oder zwischen Städten und Landkommunen waren üblich. Solche Verträge wurden mit unterschiedlicher Dauer abgeschlossen, kurz- und längerfristig, periodisch erneuerbar oder «ewig», d.h. zeitlich unbeschränkt. In ihren Zielen waren sie auf die jeweilige Situation abgestimmt. Im 13. und 14. Jahrhundert standen Besitzstandwahrung und gemeinsame Sorge für den Landfrieden im Vordergrund. Langfristige Planung war jener Zeit fremd. «Staatengründungen» wurden jedenfalls nicht auf diesem Weg versucht, denn Herrschaft beruhte nicht auf Bündnissen, sondern auf dynastischem Besitz, lehensrechtlicher Einbindung und Privilegierung durch das Reich. Die Vorstellung, beim Abschluss der frühen eidgenössischen Bünde habe man im Auge gehabt, was Ende des 15. Jahrhunderts als Eidgenossenschaft Wirklichkeit wurde, ist verfehlt. Das sich allmählich bildende eidgenössische Bündnisgeflecht war zudem nur eines unter vielen, und verschiedene Orte gehörten auch anderen, zum Teil älteren Bündnissystemen an oder standen ihnen sogar vor (z.B. Zürich unter den Bodenseestädten, Basel im Kreis der oberrheinischen Städte, Bern als Kern der Burgundischen Eidgenossenschaft). Während vergleichbare Bündnisse und Bündnisgeflechte im übrigen Reich nach der Mitte des 15. Jahrhunderts verschwanden, vermochten die eidgenössischen Bünde dank der Konsolidierung der Eidgenossenschaft zu überleben.

Der Schwur der drei Waldstätte und Luzerns am 13. November 1332. Darstellung aus Diebold Schillings Luzerner Chronik, 1513 (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Sondersammlung, Eigentum Korporation Luzern).
Der Schwur der drei Waldstätte und Luzerns am 13. November 1332. Darstellung aus Diebold Schillings Luzerner Chronik, 1513 (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Sondersammlung, Eigentum Korporation Luzern).

Die vor der Mitte des 15. Jahrhunderts beschworenen Bundesbriefe waren von höchst unterschiedlicher Natur. Die Zuordnung der Partner variiert von Gleichberechtigung (z.B. Bundesbriefe der drei Waldstätte 1291 und 1315) über Schutzverhältnisse (z.B. Verbriefung des Luzernerbunds von 1332 mit Gersau und Weggis 1359, Schirmherrschaften) bis zur Bevormundung (z.B. Bündnis Zürichs und der drei Waldstätte mit Glarus 1352). Die Dauer wurde meist zeitlich begrenzt (z.B. 20-jähriges Bündnis Basels mit Bern und Solothurn 1400), auch wenn im Vergleich zu den übrigen im Reich vereinbarten Bündnissen mehr Verträge für «ewig» geschlossen wurden (nebst den Bünden unter den acht Orten auch das Burg- und Landrecht der sieben östlichen eidgenössischen Orte mit Appenzell 1411). Der Inhalt reichte von blossen freundnachbarschaftlichen Vereinbarungen (z.B. zwischen Bern und Luzern 1421) bis zu ausführlichen Freundschaftsverträgen (z.B. der Städte Bern und Zürich 1424). Als Vertragspartner verpflichteten sich zuweilen einzelne Orte (z.B. im «ewigen» Bund Zürichs mit Glarus 1408), meist aber ganze Gruppen (z.B. Bündnis Zürichs mit den vier Waldstätten samt Zug 1352).

In der Regel sind folgende Elemente in den Bünden zu finden: 1. das Mahnrecht, d.h. die zwingende Form, Bündnisbestimmungen in Wirksamkeit zu setzen, 2. die gegenseitige Hilfepflicht (eventuell mit Gültigkeitsbereich, dem sogenannten Hilfskreis), 3. die schiedsgerichtliche Beilegung von Streitigkeiten unter den Bündnispartnern (Schiedsgericht), 4. die Friedenssicherung in einem bestimmten Friedensbezirk (Landfriedensbünde). Hinzu kamen Sonderregelungen, die von Vertrag zu Vertrag verschieden waren (z.B. gegenseitige Hilfe bei Verbrechensverfolgung, Verfahren bei Streit von Einzelpersonen wegen Geldschuld, freier Kauf von Lebensmitteln). Das Formular des Zürcherbunds kam mehrfach mit nur geringen Veränderungen zur Anwendung (so im Zugerbund 1352, in Zürichs Bündnis mit Glarus 1408, in der Erneuerung des Luzernerbunds 1454 sowie des Glarnerbunds 1473).

Gesamthaft betrachtet war die Eidgenossenschaft ein komplexes Bündnisgeflecht, in dem jede Beziehung nach dem jeweiligen Vertragsrecht gehandhabt wurde. Von einem durchgehend gültigen «Bundesrecht» sind bloss Ansätze festzustellen, nämlich im Pfaffenbrief von 1370, im Sempacherbrief von 1393 sowie im Stanser Verkommnis von 1481 (Eidgenössisches Recht). Von 1393 an pflegten die Orte die Bünde etwa alle fünf Jahre von neuem zu beschwören. Vorstösse hingegen, die bisherigen Verträge durch einen umfassenden neuen Bund zu ersetzen, blieben ohne Erfolg, sowohl 1481 als auch letztmals kurz nach der Mitte des 17. Jahrhunderts (Revisionsentwurf von Johann Heinrich Waser). Immer wieder suchten sich einzelne Orte durch eine ihren Interessen günstige Interpretation der uneinheitlichen Regelungen den Bündnisverpflichtungen zu entziehen. Jeder Ort war nämlich autonom, kraft seiner Herrschaftsgewalt, die auf Privilegien des Reichs beruhte. In der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts war die noch sehr zerbrechliche Eidgenossenschaft mehrfach zerstörerischen Krisen ausgesetzt (Zuger Siegel- und Bannerhandel 1404, Raronhandel 1415-1420, Ennetbirgische Feldzüge in den 1420er Jahren, Alter Zürichkrieg 1436-1450). Das eidgenössische Zusammenleben wurde indessen nur bedingt durch das Bündnisrecht bestimmt. Ebenso wichtig für das Überleben war der nicht abbrechende Kontakt innerhalb einer Führungsschicht (Eliten) mit eingespielten Umgangsformen, namentlich auf den Tagsatzungen, ferner gleichlaufende politische Interessen (die aber rasch wechseln konnten), ab 1415 die im Turnus gemeinsam verwalteten gemeinen Herrschaften sowie Initiativen einzelner oder mehrerer Orte. Nicht zu unterschätzen ist auch die Bedeutung der langjährigen, von den acht eidgenössischen Orten samt Solothurn gemeinsam mit der Herrschaft Österreich abgeschlossenen Friedensverträge (20-jähriger Frieden 1394, 50-jähriger Frieden 1412).

Ein entscheidender Schritt in Richtung eines territorial geschlossenen Bündnisgefüges erfolgte im Zusammenhang mit dem Alten Zürichkrieg. Verfassungsmässig ging es in diesem Kampf darum, dem vagen Gebilde Eidgenossenschaft eine festere Form zu geben. Bei dieser Gelegenheit wurden die Bünde der acht Orte aus dem 14. Jahrhundert für die Bedürfnisse um die Mitte des 15. Jahrhunderts instrumentalisiert. Die Schwyzer sprachen den Bünden den Charakter von Grundgesetzen zu. Aus ihrer Sicht hatten sie umfassende Rechtswirkung, und demzufolge konnte jeder Streit unter den Orten vor ein eidgenössisches Schiedsgericht gezogen werden. Aus Zürcher Sicht waren die Bünde bloss Verträge, die nur auf das Vereinbarte verpflichteten. Vor dem eidgenössischen Schiedsgericht konnten lediglich Streitigkeiten um die vertraglich festgelegte Materie ausgetragen werden. Vorbehaltlos erschien eine Reichsstadt nur vor dem König als Ursprung aller Herrschaftsrechte oder vor jenen, die dieser zu einem solchen Gericht bestellte. Die Zürcher Auffassung war historisch zwar richtig, trug aber nichts zur Stärkung des eidgenössischen Zusammenhalts bei. Die Schwyzer Auffassung hingegen war historisch falsch, entsprach aber dem Bedürfnis nach Verfestigung der Eidgenossenschaft. Das schwyzerische Bündnisverständnis setzte sich durch, und Zürich wurde 1450 von den übrigen eidgenössischen Orten aus der Verbindung mit der Herrschaft Österreich gezwungen und auf seinen Platz in der nunmehr gefestigten Eidgenossenschaft gewiesen. Erst mit der Durchsetzung dieses Prinzips erhielten die Bünde «staatsbildende» Kraft. Staat im modernen Sinn wurde aber nicht das Bündnisgefüge, sondern jeder einzelne Ort durch Ausbau der auf Reichsprivilegien gegründeten Herrschaftsgewalt in Form von Landeshoheit über ein geschlossenes Territorium (Territorialherrschaft).

Um die Mitte des 15. Jahrhunderts wurden die Bundesbriefe auch mit dem entstehenden Mythos vom eidgenössischen Befreiungskampf um 1300 in Verbindung gebracht und damit mit zusätzlicher Bedeutung aufgeladen (Befreiungstradition): Nur dank der Bünde hatten sich die Eidgenossen der «unrechten Gewalt» Österreichs erwehren können, sowohl beim entscheidenden ersten Durchbruch (Wilhelm Tell und «Burgenbruch») als auch in den Erfolgen am Morgarten 1315, bei Sempach 1386 und bei Näfels 1388. Zur Entfaltung dieses Bündnis-Mythos trugen die Neuauflagen des Luzerner, Zürcher und Zuger Bunds (alle 1454) sowie des Glarner Bunds (1473) bei. In den ersten drei ersetzte man den hinfälligen und kompromittierenden Vorbehalt der Herrschaft Österreich durch den aktuellen derjenigen des Heiligen Römischen Reichs. Den Letzteren schrieb man von einem Satellitenvertrag zu einem Bündnis auf der Basis von Gleichberechtigung um. Mit ideologischer Absicht wurden die Neuanfertigungen unter den ursprünglichen Daten 1332, 1351 und 1352 ausgestellt und damit die Realitäten des 14. Jahrhunderts verdeckt.

Die Vorstellung vom speziellen Charakter der eidgenössischen Bundesbriefe entwickelte sich parallel mit dem sich konkretisierenden gesamteidgenössischen Selbstverständnis. Aus der Vielzahl der spätmittelalterlichen Bünde zog man nur noch jene in Betracht, die noch Bestand hatten und bei der Identitätsfindung dienlich waren. Den alten Verträgen wurden Ziele zugeschrieben, die dem Zeitgeist und den politischen Anliegen des 15. Jahrhunderts entsprachen, ursprünglich aber nicht beabsichtigt gewesen waren. Die nunmehr «alten» Bundesbriefe ― darunter auch der 1758 wieder entdeckte von 1291 ― erhielten eine neue Bedeutung und wurden auf ein Podest gestellt, auf dem sie verblieben, obwohl sie ihre Gültigkeit praktisch verloren hatten. So fand am 24. Januar 1798, weniger als zwei Monate vor dem Untergang der Alten Eidgenossenschaft (Helvetische Revolution), auf der Tagsatzung in Aarau eine Bündnisbeschwörung statt, um als «offenbare Demonstration dem Ausland zu zeigen, welch' vollkommene Eintracht alle Glieder des helvetischen Bundes belebe.»

Quellen und Literatur

  • H. Nabholz, P. Kläui, Quellenbuch zur Verfassungsgesch. der Schweiz. Eidgenossenschaft und der Kt. von den Anfängen bis zur Gegenwart, 31947
  • HRG 1, 539 f.
  • Peyer, Verfassung, 21-44
  • B. Stettler, Die Eidgenossenschaft im 15. Jh., 2004
  • R. Sablonier, Gründungszeit ohne Eidgenossen, 2008, 163-194
Weblinks

Zitiervorschlag

Bernhard Stettler: "Bundesbriefe", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 07.05.2010. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/009600/2010-05-07/, konsultiert am 28.03.2024.