Schwere Krisen wie Kriege, Naturkatastrophen, soziale Unruhen oder Rezessionen können den Rechtsstaat herausfordern. Dessen Handlungsinstrument ist primär das formelle Gesetz und die darauf abgestützte Verfügung. In einer schweren Krise benötigt die Verabschiedung eines Gesetzes jedoch zu viel Zeit. Deshalb hat sich in den demokratischen Verfassungsstaaten die Praxis herausgebildet, solche aussergewöhnlichen Herausforderungen mit einem «extrakonstitutionellen Staatsnotrecht», dem sogenannten Vollmachtenregime, zu bewältigen (Notrecht). Danach werden der Regierung weitgehende Massnahmen- und Verordnungsbefugnisse übertragen. Der Begriff des extrakonstitutionellen Staatsnotrechts stellt klar, dass sich das Gemeinwesen in einem Notstand befindet, weil es sich durch innere oder äussere Gefahren in seiner Existenz bedroht sieht. Dieses Recht ist extrakonstitutionell, das heisst, es steht ausserhalb der Verfassung. Das Vollmachtenregime darf nicht mit dem dringlichen Gesetzgebungsverfahren verwechselt werden (Dringlichkeitsklausel). Dieses schliesst lediglich das Referendum aus oder verschiebt es in die Zeit nach Inkrafttreten des Erlasses.
In der Schweiz wurde das extrakonstitutionelle Staatsnotrecht zuletzt während des Zweiten Weltkriegs angewandt und ging unter dem Begriff Vollmachtenregime in die Verfassungsgeschichte ein. Aber bereits früher waren dem Bundesrat ausserordentliche Vollmachten übertragen worden, so 1849 in den Badener Wirren, 1853 in der sogenannten Tessiner Angelegenheit im Verhältnis zu Österreich, 1856 im Neuenburgerhandel, 1859 während des oberitalienischen Unabhängigkeitskriegs, 1860 im Savoyerhandel, 1866 im Preussisch-Österreichischen Krieg, 1870 im Deutsch-Französischen Krieg, 1914 im Ersten Weltkrieg und 1936 in der Weltwirtschaftskrise.
Der Ausdruck Vollmachtenregime bezieht sich vor allem auf die Ereignisse im Zweiten Weltkrieg. Der Bundesbeschluss über Massnahmen zum Schutze des Landes und zur Aufrechterhaltung der Neutralität vom 30. August 1939 übertrug dem Bundesrat ausserordentliche – normalerweise nur dem Parlament zustehende – Befugnisse (Artikel 3). Dafür erhielt dieser einen unbegrenzten Kredit (Artikel 4). Er hatte im Juni und Dezember jeweils Bericht zu erstatten, und die Bundesversammlung behielt sich den Entscheid über die Fortgeltung der getroffenen Massnahmen vor (Artikel 5). Sodann wurde der Bundesrat durch die zwei ständigen Vollmachtenkommissionen begleitet, die als Bindeglied zwischen Bundesrat und Parlament fungierten (Artikel 6). Der Beschluss liess sich nicht auf die Verfassung abstützen, denn er gestattete dem Bundesrat den Erlass rechtsetzender Verordnungen ohne Gesetzes- und Verfassungsgrundlage. Er bildete gewissermassen eine Verfassung neben der Verfassung, die für Demokratie und Rechtsstaat eine grosse Gefahr darstellte. Angesichts der existenziellen Bedrohung wurde das aber in Kauf genommen.
Der Bundesrat interpretierte die Vollmachten von 1939 grosszügig und stützte zahllose Massnahmen darauf ab, unter anderem die Einführung einer direkten Bundessteuer. 1949 sorgte die von konservativen Föderalisten der Ligue vaudoise eingereichte Volksinitiative «Rückkehr zur direkten Demokratie» indirekt dafür, dass die Bundesversammlung bis Ende 1952 die letzten Vollmachtenerlasse aufhob.
Zaccaria Giacometti bewertete das Notrechtsregime als illegal: Mit der Verfassung stehe und falle der Rechtsstaat und das Vollmachtenregime sei lediglich eine Maxime der Staatsraison. Zur Lösung des Problems schlug er die Aufnahme eines Notstandsartikels in die Verfassung vor. Giacomettis Auffassung setzte sich in der schweizerischen Staatspraxis aber nicht durch. Es dominierte die Gegenposition von Dietrich Schindler. Nach wie vor enthält die Bundesverfassung keinen Notstandsartikel. Die schweizerische Rechtspraxis sieht das Vollmachtenregime als rechtens an und erhält es aufrecht, namentlich im Jahr 2000 das Bundesgericht im Urteil Joseph Spring.