Als Rechtsstaat wird in der Regel ein Staat bezeichnet, der durch Recht bestimmt und begrenzt wird. Angesichts der unterschiedlichen Entwicklungsstränge und Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips ist es schwierig, den Rechtsstaat genauer zu definieren. Indes gelten bestimmte Institute und Vorkehrungen als Merkmale eines Rechtsstaats bzw. einer rechtsstaatlichen Verfassung, wobei zwischen den formellen und materiellen Elementen des Rechtsstaats zu unterscheiden ist: Zu Ersteren zählen etwa das Gesetzmässigkeits- oder Legalitätsprinzip – alles staatliche Handeln wird auf das Recht ausgerichtet –, die Gewaltenteilung und die Einrichtung eines Verfassungs- oder Verwaltungsgerichts, welches die staatlichen Organe kontrolliert. Materielle Elemente des Rechtsstaats sind dagegen die Gewähr der Menschenrechte, der politischen Rechte und der Rechtsgleichheit (Gleichheit).
Entstehung des Rechtsstaatsprinzips
Einzelne Prinzipien des Rechtsstaats reichen bis ins Altertum zurück. Platon forderte die Herrschaft von Normen anstelle der Herrschaft von Personen. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit war der Austrag von Konflikten auf dem Rechtsweg ein zentrales Anliegen von Herrschaften und Gemeinwesen, welche die Fehde bekämpften und in einem langen Prozess das Gewaltmonopol des Staats durchsetzten (Landfriedensbünde). Von weitreichender Bedeutung für das Prinzip des Rechtsstaats war die Entwicklung in England, wo einerseits den Freien gewisse Rechte verbrieft wurden (Magna Carta Libertatum 1215; Habeas Corpus Akte 1679) und andererseits das Parlament gewisse Regeln bezüglich der Herrschaft von «crown in Parliament» durchsetzte (Bill of Rights 1689, Act of Settlement 1702). Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert prägten deutsche Philosophen (Immanuel Kant, Wilhelm von Humboldt, Johann Gottlieb Fichte) – in Abgrenzung zum absolutistischen Staat mit seiner oft willkürlichen «Policey» – den Begriff des Rechtsstaats; Robert von Mohl hat diesen in das Staatsrecht eingeführt. Die ideengeschichtliche Voraussetzung der Begriffsbildung war der liberale Gedanke vom Selbstbestimmungsrecht des Individuums, das autonom, also frei von staatlicher Bevormundung, seine Entscheidungen trifft. Der Staat darf demzufolge nicht in alle Bereiche des menschlichen Lebens eingreifen, und auch dort, wo ihm solche Eingriffe noch erlaubt werden, haben diese entsprechend den Gesetzen zu erfolgen, die auch den Staat binden. Im entstehenden bürgerlichen Nationalstaat des 19. Jahrhunderts setzte sich die Herrschaft des (mehr oder weniger) demokratischen Gesetzes als Garant für Rechtssicherheit durch. Den sogenannten formellen Rechtsstaat suchte man durch Verfahrensvorschriften zu verwirklichen, zum Beispiel durch das Gesetzmässigkeitsprinzip, durch Einrichtung von Gerichten und deren Kontrolle (Gerichtswesen). Zur Sicherung des materiellen Rechtsstaats verankerte man in den meisten Verfassungen Grundrechte, in denen sich das Gedankengut der Amerikanischen und Französischen Revolution niederschlug.
Rechtsstaatliches Denken in der Schweiz
Die Helvetische Verfassung von 1798 garantierte erstmals Menschen- und Freiheitsrechte in der Schweiz. Die Mediationsakte von 1803 hob manche dieser Rechte wieder auf. Doch das materiell-rechtsstaatliche Denken setzte sich schliesslich durch. Die Kantonsverfassungen der Regeneration (ab 1831) und die Bundesverfassung von 1848 gewährleisteten Freiheitsrechte, die allmählich erweitert wurden. Die Verwirklichung des formellen Rechtsstaats dauerte länger. Namentlich die Gewaltenteilung und die Verwaltungsgerichtsbarkeit wurden erst später realisiert. Obwohl die alte Bundesverfassung wie auch die meisten Kantonsverfassungen den Rechtsstaat nicht ausdrücklich erwähnen, hat das Bundesgericht aus Artikel 4 Absatz 1 der Bundesverfassung 1874 wichtige Anforderungen abgeleitet und diesen als eigentliche Rechtsstaatsklausel verwendet. Die Rechtsordnungen des Bundes und der Kantone enthielten damit – wenn auch in unterschiedlichem Ausmass – schon alle Elemente des Rechtsstaats. Auch der Beitritt der Schweiz zur Europäischen Menschenrechtskonvention 1974 hat die Bereitschaft dokumentiert, die darin geschützten Elemente der Rechtsstaatlichkeit mitzutragen. Erst im ausgehenden 20. Jahrhundert wurde der Rechtsstaat auch konkret in den Verfassungstexten angesprochen, so in der Bundesverfassung 1999 (Artikel 5) oder den neuen Verfassungen von Bern, Appenzell Ausserrhoden (je Artikel 1 Absatz 1) und Thurgau (Artikel 2, Absatz 1).
Quellen und Literatur
- Quellenbuch zur Verfassungsgesch. der Schweiz. Eidgenossenschaft und der Kantone von den Anfängen bis zur Gegenwart, hg. von H. Nabholz, P. Kläui, 31947
- F. Garzoni, Die Rechtsstaatsidee im schweiz. Staatsdenken des 19. Jh., 1953
- Der europ. Rechtsstaat, hg. von J. Brand, H. Hattenhauer, 1994
- A. Kley, Der richterl. Rechtsschutz gegen die öffentl. Verwaltung, 1995, 21-28