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Körpererziehung

Übungen aus einem 1895 publizierten, schwedischen Gymnastikhandbuch für die Primarschule (Manuel de gymnastique suédoise à l'usage des écoles primaires par C.-H. Liedbek), das in den Genfer Schulen lange Zeit benutzt wurde.
Übungen aus einem 1895 publizierten, schwedischen Gymnastikhandbuch für die Primarschule (Manuel de gymnastique suédoise à l'usage des écoles primaires par C.-H. Liedbek), das in den Genfer Schulen lange Zeit benutzt wurde.

Die mittelalterliche Schule kümmerte sich kaum um den Körper des Kindes; sie formte den Geist der Schüler und verbannte jede Aktivität, die zur Zerstreuung hätte führen können. Die Jesuiten waren die Ersten, die die Notwendigkeit erkannten, der Gesundheit der Zöglinge Sorge zu tragen; im 1582 gegründeten Kollegium St. Michael in Freiburg übten sich die Schüler daher im Spiel mit Kegeln, Kugeln, Bällen und Scheiben.

Im 18. Jahrhundert etablierte sich eine neue Sicht auf die Gesellschaft und den Menschen. Jean-Jacques Rousseau lässt in seinem Roman «Emile» den Körper an der Bildung der Intelligenz und an der Erziehung teilhaben. Diese Vorstellung und die Ideen der daraus hervorgegangenen sogenannten philanthropischen Bewegung nahmen in privaten Instituten Gestalt an, so im Philanthropin von Marschlins in Graubünden, das Hygienemassnahmen, Handarbeit, das Leben im Freien und die körperliche Ertüchtigung ins Schulleben integrierte. Johann Heinrich Pestalozzi, sein Mitarbeiter Johannes Niederer sowie Philipp Emanuel von Fellenberg nahmen ihrerseits die Körpererziehung in ihre Bildungseinrichtungen auf.

Turnstunde von Basler Schülern, 1897 (Schweizerisches Nationalmuseum, Sammlung Herzog).
Turnstunde von Basler Schülern, 1897 (Schweizerisches Nationalmuseum, Sammlung Herzog).

Im 19. Jahrhundert fand die Turnbewegung Eingang in die öffentliche Schule. Nach dem folgenlos gebliebenen Projekt der Helvetischen Republik, das Turnen auf allen Schulstufen einzuführen, setzten es mehrere Städte und Kantone auf den Lehrplan ihrer Schulen. Dies war zum Beispiel 1833 in Murten der Fall, 1834 in Winterthur und 1843 in Zürich. Gesamtschweizerisch wurde der Turnunterricht erst 1874 mit dem Gesetz über die Militärorganisation eingeführt. Ein Ziel dieses Gesetzes, das dem Bund mehr Zuständigkeiten brachte, bestand darin, alle Schüler – wie schon die Kadetten der Sekundarschulen – auf den Militärdienst vorzubereiten. Der Bund verpflichtete die Kantone, den Knaben vom 10. Altersjahr bis zum Schulaustritt Turnunterricht zu erteilen. Der militärische Zweck des Fachs ist in den Lehrbüchern, die der Bund 1876 und 1898 herausgab, deutlich zu erkennen. Die Pioniere der Disziplin warben auch für die Körpererziehung der Mädchen (Phokion Heinrich Clias bereits in den 1830er Jahren), welche zuerst den höheren Töchtern in den Pensionaten zuteil wurde. Allmählich fasste sie in der öffentlichen Schule Fuss, in der gesunde zukünftige Mütter ausgebildet werden sollten; der Turnunterricht der Mädchen wurde aber im Gegensatz zu jenem der Knaben nicht mit öffentlichen Geldern unterstützt. In der postobligatorischen Schule erhielten die Gymnasiasten lange vor den Lehrlingen Turnunterricht. 1972 forderte der Bund drei Wochenstunden Sport für jeden Schüler der öffentlichen Schule sowie für jeden Lehrling. Im selben Jahr wurde der militärische Vorunterricht von der Organisation Jugend + Sport abgelöst.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Körpererziehung geprägt von der Auseinandersetzung zwischen den Verteidigern des traditionellen oder deutschen Turnens, Verfechtern der schwedischen Gymnastik und Initiatoren der sportlichen Ausrichtung. Die erste Unterrichtsform, vertreten durch Adolf Spiess, bestand vor allem aus Ordnungs- und Freiübungen. Die Gymnastiker warfen ihr vor, dem Spiel zu wenig Beachtung zu schenken, oder zogen ihr einen hygienezentrierten Ansatz vor. Der Einfluss der Ärzte gab der körperlichen Ertüchtigung eine gesundheitliche, anatomische und physiologische Bedeutung, jener der Pädagogen verlieh ihr eine erzieherische Dimension. Letztere empfahlen verschiedenartige Aktivitäten: Ordnungsübungen (Marschieren in verschiedenen Formationen) und Geräteturnen gingen einher mit Spielen wie Fussball oder den Nationalspielen der Schweiz (Steinstossen und -heben, Schwingen); dazu kamen Atemübungen. Nach und nach wurde aber der von den Traditionalisten bekämpfte Sport zur massgebenden Aktivität. Als Träger anderer Werte als das Turnen erfasste er über die rasch steigende Zahl an Vereinen und Clubs die ganze Gesellschaft. In der Schule hielt er in den 1960er Jahren Einzug und stieg rasch zur bevorzugten oder gar einzigen Aktivität auf. Diese Vormachtstellung wurde dem Sport von den 1990er Jahren an streitig gemacht, als sich neue Ansätze wie die Psychomotorik, die Ausdrucksschulung (Tanz, Eutonie) oder – noch jüngeren Datums – Aktivitäten der Spassgeneration allmählich durchsetzten.

Quellen und Literatur

  • L. Burgener, La Confédération suisse et l'éducation physique de la jeunesse, 2 Bde., 1952
  • J. Ulmann, De la gymnastique aux sports modernes, 1965 (31997)
  • F. Pieth, Sport in der Schweiz, 1979
  • G. Heller, "Tiens-toi droit!", 1988, 208-224
  • G. Andrieu, L'éducation physique au XXe siècle, 1990
Weblinks

Zitiervorschlag

Jean-Claude Bussard: "Körpererziehung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 06.03.2006, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/010422/2006-03-06/, konsultiert am 28.03.2024.