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Heimatstil

Der Heimatstil – als Begriff in der Deutschschweiz seit 1910 bekannt und vom Kunsthistoriker Peter Meyer später als Stilbezeichnung verwendet – ist eine auf lokalen und regionalen Bautraditionen wurzelnde, Historismus und Jugendstil überwindende Baukunst auf dem Weg zur Moderne. Er erfasste 1905-1914 alle Baugattungen, um in den 1920er Jahren (Zweiter Heimatstil), in den 1940er Jahren (Landistil) und bis in die Gegenwart (Regionalismus) in modifizierten Neuauflagen zurückzukehren. In jüngerer Zeit setzte sich auch in der Westschweiz und im Tessin für die nach 1900 entstandene Reformarchitektur der deutsche Begriff Heimatstil durch, während die ältere Literatur noch wahlweise «style national», «modern style» und «style suisse» verwendete. Othmar Birkner schlug 1975 in Anlehnung an Finnland den Begriff «Nationale Romantik» vor. Ausserhalb der Schweiz sind für dasselbe Phänomen andere Bezeichnungen wie zum Beispiel «Heimatschutzstil» oder «Le Régionalisme» gebräuchlich.

Der Heimatstil machte sich die bürgerliche Sehnsucht nach den eigenen, ländlichen Wurzeln zunutze. Man entdeckte heimische Bautraditionen, baute zum Beispiel Engadiner, Berner oder Neuenburger Häuser. Es ging nicht mehr darum, den international bekannten «Schweizerhäuschenstil» der alpinen Holzbauweise (Schweizer [Holz-]Stil, Chaletstil), der oft mit dem Heimatstil verwechselt wird, neu aufzulegen, auch nicht um die formale Nachahmung der äusseren Form, sondern um die Anwendung örtlicher Baustoffe und heimischer Handwerkstraditionen. «Beauté et patrie» lautete die Losung: Schönheit durch geschnitztes Holz, behauenen Stein und geschmiedetes Eisen war patriotische Pflicht, ein ausladendes Dach, Sprossenfenster und Erker ästhetische Norm, Einfachheit und Bescheidenheit architektonische Tugend. Der Heimatstil erhob die regionale «Altschweizer Baukunst» mit ihren Bürgerhäusern und Bauernhäusern vor 1800 zum Vorbild für modernes Bauen. Eine nationale Architektur sollte lokale Schätze heben. Eng verbunden war der Heimatstil mit dem frühen Heimatschutz, der im Bestreben, eine neue schweizerische Baukultur zu entwickeln, sich auch auf Bewährtes besann.

Erweiterungsprojekt für den Kursaal Interlaken von Paul Bouvier. Aquarellierter Aufriss der Gartenfassade, 1898 (Schweizerische Nationalbibliothek, Eidgenössisches Archiv für Denkmalpflege).
Erweiterungsprojekt für den Kursaal Interlaken von Paul Bouvier. Aquarellierter Aufriss der Gartenfassade, 1898 (Schweizerische Nationalbibliothek, Eidgenössisches Archiv für Denkmalpflege). […]

Die Wurzeln des Heimatstils liegen in der Hirten- und Agrarromantik des 19. Jahrhunderts. Als spätromantische Reaktion auf die moderne Industriegesellschaft durchzog den Heimatstil ein patriotischer, grosstadtfeindlicher «Dörfligeist». Er wurde 1896 mit dem Village suisse auf der Landesausstellung in Genf salonfähig, trat 1900 auf der Weltausstellung in Paris mit Finnland in Konkurrenz und entwickelte sich 1914 mit dem sogenannten Dörfli auf der Landesausstellung in Bern zur nationalen Pflicht. Der Heimatstil war im Grossen und Kleinen omnipräsent: Er manifestierte sich im Alpenschloss (Château Mercier in Siders), der Trafostation, dem Wasserkraftwerk, dem Landbahnhof, dem Touristenhotel oder dem Brunnentrog mit heimischen Blumen- und Tierdekor. Das Hauptgewicht lag im Wohnbau (Ein- und Mehrfamilienhäuser) und im Schulhausbau, wo die Reformpädagogik eine neue, kindgerechte Architektur und Bilderwelt zur Folge hatte.

Ab 1901 waren ideologische Einflüsse aus England, Belgien und Deutschland vorhanden. Heimatschutzkreise pflegten auch Beziehungen nach Finnland, wie der aus Helsinki kopierte Badische Bahnhof in Basel von Karl Coelestin Moser zeigt. Typische Heimatstil-Architekten waren Nicolaus Hartmann in Graubünden, Armin Witmer-Karrer in Zürich, Karl Indermühle in Bern, Alphonse Laverrière in Lausanne und Edmond Fatio in Genf. In La Chaux-de-Fonds zeugen frühe Bauten von René Chapallaz und Le Corbusier im Style sapin von einer gelungenen Verbindung zwischen Heimat- und Jugendstil (Villa Fallet, 1907). Die Heimatstil-Ideologie wurde aufgrund modernster Öffentlichkeitsarbeit via Architektenverbände (SIA, Bund Schweizer Architekten), Wettbewerbe (1908 für einfache schweizerische Wohnhäuser) und Printmedien («Heimatschutz», «Die Schweizerische Baukunst») erfolgreich in allen sozialen Schichten propagiert. Dazu kamen die von Heimatschutzkreisen initiierten nationalen Inventarisationswerke zur Schweizer Profanarchitektur in ihrer kantonalen Ausprägung, so das 1901-1903 in mehreren Bänden publizierte, reich illustrierte Bauernhausverzeichnis oder die vom SIA 1907 lancierte Bürgerhausreihe.

Quellen und Literatur

  • G. Fatio, Augen auf!: Schweizer Bauart alter und neuer Zeit, 1904 (franz. 1904)
  • Heimatschutz, 1906-
  • R. Anheisser, Altschweiz. Baukunst, 1906-07
  • H. Baudin, Villen und Landhäuser in der Schweiz, 1909
  • O. Birkner, Bauen + Wohnen in der Schweiz 1850-1920, 1975, 202 f.
  • D. Le Dinh, Le Heimatschutz, une ligue pour la beauté, 1992
  • S. Martinoli«Tra Heimatstil e razionalismo», in AST, Nr. 133, 2003, 29-48
  • E. Crettaz-Stürzel, Heimatstil, 2 Bde., 2005
  • Une expérience art nouveau: le style sapin à La Chaux-de-Fonds, hg. von H. Bieri Thomson, 2006
Weblinks

Zitiervorschlag

Elisabeth Crettaz-Stürzel: "Heimatstil", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 19.06.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/011186/2015-06-19/, konsultiert am 15.10.2024.