Epidemien bestimmen mit ihrem Kommen und Gehen seit Tausenden von Jahren das Leben der Menschen. Sie treten auf, breiten sich aus, schlagen da und dort zu, werden schwächer und verschwinden ohne ersichtlichen Grund. Der Mensch ist dabei nur ein Element eines komplexen Systems von sich gegenseitig beeinflussenden Bedingungen wie Raum, Klima, ökologischem Gleichgewicht und Krankheiten. Bei der Ausbreitung einer Krankheit, der Anfälligkeit auf und die Resistenz gegen sie spielt der Zufall eine grosse Rolle: Nicht jeder, der dem Erreger ausgesetzt ist, wird auch krank. Die während Jahrhunderten getroffenen Massnahmen zur Bekämpfung von Seuchen (das Bundesgesetz von 1886 ist nur ein Beispiel dafür) spielten offenbar nur eine sekundäre Rolle bei deren Ausrottung.
Die Umweltbedingungen bilden das zentrale Element in der Geschichte der Epidemien bis zu den hygienischen Massnahmen, die im 19. Jahrhundert aufgrund der Entdeckungen Louis Pasteurs getroffen wurden (Hygiene). Die Dynamik der Epidemien hing fast ausschliesslich vom ökologischen Gleichgewicht ab, das sich zwischen der Virulenz des Erregers und dessen Übertragbarkeit einerseits und dem immunologischen Zustand der Bevölkerung andererseits einstellte. Da der natürliche Selektionseffekt Erreger und Wirt gleichermassen traf, existierten ökologische Nischen mit einer spezifischen, sich ständig verändernden mikroparasitären Balance. So treten pathogene Komplexe auf, halten sich oder verschwinden, je nachdem, ob das Umfeld die konstituierenden Elemente – Mensch, Erreger und Zwischenwirte – bereithält oder nicht und sich mit dem für das Überleben notwendigen Milieu eine Balance einstellt. Die Umwelt beeinflusst diese heiklen und instabilen Gleichgewichte in hohem Masse durch Bodenbeschaffenheit und Topografie (die das Ablaufen von Wasser fördern oder behindern), Vegetation, Temperatur, Sonneneinstrahlung und Luftfeuchtigkeit. Zu den kulturellen Faktoren zählen Bevölkerungsdichte, Mobilität, agrarische Strukturen, Siedlungsformen, Bauweise und Kleidung.
Zeitgenössische biomedizinische Beobachtungen und historische Studien zeigen für viele Krankheiten eine Kausalbeziehung zwischen Temperaturschwankungen und Mortalität. Die Beulenpest (Pest) wütete vor allem im Sommer und im Herbst und zog sich mit dem ersten Kälteeinbruch zurück. Die Pocken erreichten ihren Höhepunkt Ende Sommer. Die Aktivität von Erregern, Insekten und Zwischenwirten verlangsamt sich in der Regel im Winter. Die Infektionsanfälligkeit hängt in unterschiedlichem Masse auch von der Ernährungsweise eines Individuums ab. Dies gilt besonders für Masern und Tuberkulose, ganz allgemein für Magen-Darm-Krankheiten und Atemwegsinfektionen, weit weniger für Grippe, Syphilis, Typhus und nur selten für Pest, Pocken und Malaria.
Zur Gesamtheit der verschiedenen biologischen, natürlichen, sozialen und kulturellen Faktoren gehören auch das Verhalten und die Einstellung des Einzelnen. Diese folgen immer einem kollektiven Habitus, der sich aus Deutungsmustern und Glaubensvorstellungen zusammensetzt. Das persönliche Verhalten angesichts einer Krankheit und vor allem die Bereitschaft, therapeutische Mittel und Präventionsmassnahmen zu akzeptieren und anzuwenden, hängt von der Vorstellung ab, die man sich von der Krankheit macht, vom Willen, das Leben fortzuführen, und vom Glauben an die Möglichkeit und Wirksamkeit menschlicher Intervention. Wenn man den Ansteckungsgrad und die Sterblichkeitsrate einer Infektionskrankheit bestimmen will, muss man alle diese Faktoren berücksichtigen.
Dieser Gradient und die Fähigkeit einer Gesellschaft, auf eine Krankheit zu reagieren, hängen ferner von deren Übertragungsweg ab. Man unterscheidet vier Infektionskategorien. Die Krankheiten des Verdauungsapparates (typhoide Fieber, Ruhr, Diarrhöe, Cholera) werden durch Fäkalbakterien im Wasser übertragen. Krankheiten mit direkter Ansteckung (Masern, Pocken, Tuberkulose, Diphterie, Grippe, Lungenpest) werden von Person zu Person über die Atemwege und die Luft übertragen. Eine Ansteckung ist hier nur ab einer gewissen Bevölkerungsdichte möglich; das Einfallen und die Ausbreitung der Krankheit hängen von der Anzahl ansteckbarer Menschen, der Multiplikationsrate des Erregers, seiner Verbreitungsgeschwindigkeit sowie der Fähigkeit zu einer Immunreaktion ab. In Randregionen oder Gebieten mit Streusiedlungen können stark ansteckende und immunisierende Krankheiten wie die Pocken wegen Mangel an ansteckbaren Personen verschwinden. Bei einer genügend hohen Bevölkerungsdichte kann jede Krankheit, welche die Überlebenden immunisiert, zu einer Kinderkrankheit werden und damit wieder auftreten (z.B. die Pocken). Eine dritte Gruppe bilden die sexuell übertragbaren Krankheiten (Geschlechtskrankheiten, Syphilis und Aids ). Die Pest, der Typhus und die Malaria schliesslich, also Krankheiten, die durch Insektenstiche oder Tierbisse übertragen werden, waren für die grossen Epidemien der Vergangenheit verantwortlich.
Zwischen 1350 und 1550 stellte sich rund um die Pest ein gleichsam pathologisches Gleichgewicht ein. Das periodische Wiederauftreten von Epidemien verhinderte offenbar die Entwicklung von anderen Krankheiten; als jedoch die Seuche nach einer endemischen Phase zurückging und – bedingt durch die Klimaabkühlung ab 1550 – nur noch sporadisch auftrat, stellte sich während ungefähr hundert Jahren ein neues Gleichgewicht ein. Der durch Läuse übertragene Flecktyphus trat in Europa erstmals 1477 auf; offenbar wurde er aus arabischen Ländern eingeschleppt. Die Krankheit wütete vor allem im Winter und breitete sich unter den mobilen Heeren und besonders in der unterernährten Bevölkerung aus. Über die Geschichte des Flecktyphus weiss man wenig, aber seine weite Verbreitung im 17. Jahrhundert ist belegt. Typhus trat immer in Zeiten mit hoher Mortalität und Hungersnöten wie etwa zwischen 1586 und 1591, während des Dreissigjährigen Kriegs oder von 1648 bis 1652 auf. Er zeigte sich erneut in der Krise der 1740er Jahre und zuletzt 1816 bis 1818. Auch die Pocken wüteten im 17. Jahrhundert erneut mit grosser Kraft. Mit 6 bis 12% der jährlichen Todesfälle waren sie auf die Dauer fast ebenso tödlich wie die Pest.
In der Zeit von 1550 bis 1650 mischten sich die alten Epidemien mit neuen Krankheiten, bis sich ein neues Gleichgewicht einstellte. Dieser Prozess ging um 1670 mit dem Verschwinden der Pest zu Ende. Die lange Übergangsphase bis 1780 war durch eine allgemeine Abschwächung der Seuchen gekennzeichnet; die Infektionskrankheiten wurden endemisch. Im 19. Jahrhundert hatte die Cholera erhebliche psychologische und soziale Folgen. Berücksichtigt man aber die Anzahl Erkrankungen und Todesfälle, so war sie weit weniger schlimm als die Tuberkulose oder die spanische Grippe von 1918, die in der Schweiz über 21'000 Tote forderte, davon 70% Erwachsene zwischen 20 und 49 Jahren. Die Choleraepidemie von 1855 in Basel-Stadt führte bei 387 Erkrankungen zu 203 Todesfällen; im Kanton Zürich waren es 1867 499 Tote auf 771 Erkrankte. Das Auftreten von Aids (5154 Todesfälle von 1983 bis Mai 2002) und das Fehlen einer wirksamen Therapie haben bei dieser Krankheit Erinnerungen an eine Vergangenheit wachgerufen, die man überwunden glaubte.