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Leinwand

Der Rohstoff hochwertiger Leinwand ist der zur Familie der Linaceae gehörige Flachs (linum usitatissimum) oder Saatlein (Gewerbepflanzen). Aus dessen Stängel werden die Fasern in verschiedenen Arbeitsschritten herausgelöst und anschliessend zu Garn gesponnen. Durch das Verweben des Garns entsteht die Rohleinwand, die in vorindustrieller Zeit zur Veredelung gewalkt (unter Zufluss von Wasser mit entsprechenden Apparaturen gestampft), gebleicht (der Sonne ausgesetzt und mit heisser Lauge übergossen), dann allenfalls gefärbt (Färberei) und zuletzt gemangelt (geglättet) wurde.

Leinwandproduktion bis zum Mittelalter

Die Herstellung von Leinwandtüchern diente über Jahrtausende der Selbstversorgung. Bereits im Neolithikum waren im Gebiet der heutigen Schweiz sowohl der Anbau von Flachs als auch einfache Spinn- und Webtechniken zur Erzeugung von leinenen Geweben bekannt. Deren älteste archäologischen Überreste werden ins frühe 4. Jahrtausend v.Chr. datiert und sind somit älter als entsprechende Artefakte aus Wolle oder Faserhanf.

In Urkunden des Klosters St. Gallen aus dem 9. Jahrhundert werden leinene Kleidungsstücke erwähnt. Vom Hochmittelalter an sind Tücher aus Leinen sowie Flachs zunehmend als bäuerliche Abgaben an die Herrschaft belegt. Im Mittelalter dürften die meisten Städte eine bescheidene Leinenweberei betrieben haben. In Zürich und Basel wird sie im 13. Jahrhundert erwähnt. Die Tücher wurden von zünftisch organisierten Handwerkern sowie von Lohnwebern und Lohnweberinnen im Auftragsverhältnis gewoben. Insgesamt blieb die Leinwandherstellung mit Ausnahme der Ostschweiz und der Kantone Bern und Luzern in der Eidgenossenschaft wirtschaftlich unbedeutend.

Entwicklung des Leinwandgewerbes in St. Gallen

Die Ostschweiz bildete einen Teil des Leinwandproduktionsgebiets, das den ganzen Bodenseeraum zwischen Thur, Donau und Lech umfasste (Gewerberegionen). Hier entwickelte sich ab dem 11. Jahrhundert ein Leinwandgewerbe (Textilindustrie), das nicht mehr nur für Selbstversorgung und lokale Märkte, sondern auch für den Fernhandel arbeitete. Die führende Position im südwestlichen Teil dieses Produktionsgebiets hatte Konstanz inne, während die Gegenden nordöstlich von Biberach, Memmingen und Kaufbeuren im 14. Jahrhundert die Herstellung von Barchent aufnahmen.

Südlich des Bodensees stieg im Mittelalter die Bedeutung der Stadt St. Gallen als Standort für die Produktion und den Vertrieb von Leinwand. Auf ihrem Gebiet sind für das 13. Jahrhundert eine Walke und eine Bleiche nachgewiesen. Das Leinwandgewerbe entwickelte sich zum Gegenstand einer immer zielbewussteren Wirtschaftspolitik. Rechte im Zusammenhang mit der Leinenherstellung, die dem Abt des Klosters St. Gallen als Stadtherrn zustanden, wurden im 14. und 15. Jahrhundert allmählich abgelöst. Zur Hebung der Qualität erliess der städtische Rat vor 1364 nach Konstanzer Vorbild Leinwandsatzungen. Indem sich St. Gallen einen guten Teil des Garns und der Rohleinwand aus dem Umland sicherte, eine hochwertige Veredelung ermöglichte und bevorzugter Umschlagplatz für den Export wurde, löste es das von inneren Unruhen erschütterte Konstanz nach der Mitte des 15. Jahrhunderts als Leinwandzentrum des Bodenseeraums ab.

Die hohe Qualität ihrer Tücher – gesichert durch obrigkeitliche Fabrikationsbestimmungen – gilt als wichtigster Grund für den wirtschaftlichen Aufstieg der Stadt St. Gallen. Allerdings konnte der städtische Rat nur wenig Einfluss auf die von der ländlichen Bevölkerung in Heimarbeit ausgeübten Tätigkeiten (Flachsanbau, Spinnen) nehmen. Die Kontrolle setzte mit der sogenannten Schau der teils auf dem Land, teils in der Stadt gewobenen Rohleinwand ein, die von städtischen Beamten durchgeführt wurde. Leinwand bester Qualität wurde von den städtischen Bleichemeistern weiss gebleicht, schlechtere Ware von selbstständigen Handwerkern gefärbt. Nach jedem Arbeitsgang des Veredelungsprozesses wurde die Leinwand nochmals geprüft.

Die Leinwand wird geschmeidig gemacht. Gemälde aus einer Serie, welche die verschiedenen Etappen der Textilproduktion in St. Gallen darstellt, um 1680 (Historisches und Völkerkundemuseum St. Gallen; Fotografie A. & G. Zimmermann, Genf).
Die Leinwand wird geschmeidig gemacht. Gemälde aus einer Serie, welche die verschiedenen Etappen der Textilproduktion in St. Gallen darstellt, um 1680 (Historisches und Völkerkundemuseum St. Gallen; Fotografie A. & G. Zimmermann, Genf). […]
Die Leinwand wird gebleicht. Gemälde aus einer Serie, welche die verschiedenen Etappen der Textilproduktion in St. Gallen darstellt, um 1680 (Historisches und Völkerkundemuseum St. Gallen; Fotografie A. & G. Zimmermann, Genf).
Die Leinwand wird gebleicht. Gemälde aus einer Serie, welche die verschiedenen Etappen der Textilproduktion in St. Gallen darstellt, um 1680 (Historisches und Völkerkundemuseum St. Gallen; Fotografie A. & G. Zimmermann, Genf). […]

Im Gegensatz zu anderen eidgenössischen Städten setzte in St. Gallen zu Beginn des 16. Jahrhunderts dank des Leinwandgewerbes ein wirtschaftlicher Aufschwung ein. Einen Höhepunkt der konjunkturellen Entwicklung bildete das Jahr 1610, als 23'622 Tücher erster Qualität von je 97,5 m Länge und ca. 1 m Breite gebleicht wurden. Kurz darauf stürzte die Leinwandproduktion, welche die städtische Wirtschaft mittlerweile völlig dominierte, infolge der Pest und des Dreissigjährigen Kriegs in eine tiefe Krise. Auf eine Erholung nach 1650 folgte bis in die 1720er Jahre eine im langfristigen Trend gute Konjunktur.

Arbeitsorganisation und Handel

Das ostschweizerische Leinwandgewerbe beruhte auf der in Zunftsystemen üblichen Trennung von Produktion und Vertrieb. Garn und Rohleinwand wurden nicht auf dem freien Markt gehandelt, sondern durch städtisch vereidigte Makler (Feilträger) zwischen Spinnerinnen, Webern und Kaufleuten vermittelt, um alle beteiligten Berufsleute gleichmässig mit der notwendigen Ware zu versorgen. Der städtische Rat versuchte, die traditionelle Arbeitsorganisation aufrechtzuerhalten, welche die mächtige Weberzunft begünstigte, und das Verlagssystem im Leinwandgewerbe zu unterbinden. Dies gelang in der Stadt St. Gallen bis Ende des 18. Jahrhunderts weitgehend, liess sich auf dem Land mangels städtischer Herrschaftsrechte aber kaum durchsetzen.

Standporträt des St. Galler Leinwandhändlers Klaus Gugger. Öl auf Holz von Daniel Frank, 1594 (Historisches und Völkerkundemuseum St. Gallen).
Standporträt des St. Galler Leinwandhändlers Klaus Gugger. Öl auf Holz von Daniel Frank, 1594 (Historisches und Völkerkundemuseum St. Gallen). […]

St. Galler Kaufleute sind ab dem 13. Jahrhundert im Fernhandel mit Leinwand aus dem Bodenseegebiet nachgewiesen. Die ersten Belege stammen aus Genua. Bis zum frühen 16. Jahrhundert bauten sie unter Beteiligung der Diesbach-Watt-Gesellschaft ein Handelsnetz auf, das sich von Deutschland bis Italien und von Polen bis nach Spanien erstreckte. Mit Nürnberg und Lyon unterhielten die meist in kleinen Handels- oder Familiengesellschaften zusammengeschlossenen Kaufleute nicht nur besonders enge Handelsbeziehungen, sondern auch einen regelmässigen Boten- und Postdienst. Aufgrund der im Ewigen Frieden von 1516 zwischen Frankreich und der Eidgenossenschaft vereinbarten Handelsprivilegien nahm die Bedeutung Lyons und anderer französischer Städte für den St. Galler Leinwandhandel stetig zu. Vom 16. bis zum beginnenden 17. Jahrhundert stellte die ostschweizerische Leinwand den wichtigsten Exportartikel aus dem Gebiet der heutigen Schweiz dar.

Weitere Produktionszentren

Innerhalb des ostschweizerischen Produktionsgebiets existierten neben der Stadt St. Gallen weitere Orte, die Herstellung, Veredelung und Vertrieb der Leinwand mindestens teilweise selbst besorgten und nicht ausschliesslich als Zulieferer für St. Gallen fungierten. Das Leinwandgewerbe von Wil (SG), wo 1383 eine Bleiche erwähnt ist, büsste seine Bedeutung bereits im Verlauf des 17. Jahrhunderts ein. Auch in Arbon, Bischofszell, Lichtensteig und Appenzell gab es ab dem Spätmittelalter ein eigenständiges Leinwandgewerbe, ebenso in Winterthur als westlichstem Posten des ostschweizerischen Produktionsgebiets. In der frühen Neuzeit entwickelten sich weitere Ortschaften wie Rorschach zu kleineren Leinwandzentren. Eigene Leinwandschauen führten auch Trogen (1667), Altstätten (1681) und Herisau (1706) ein. Einen Sonderfall stellte Hauptwil dar, wo die Leinwandherstellung nach dem 1665 erfolgten Zuzug der Familie Gonzenbach aus St. Gallen das ganze Dorf stark prägte.

Um 1600 entstand in den Kantonen Bern und Luzern ein zweites Leinwandproduktionsgebiet. Es umfasste als Kernregionen das Emmental, den bernischen Oberaargau und die angrenzenden luzernischen Gegenden im westlichen und nördlichen Kantonsteil, namentlich die Landvogtei Willisau. Das Leinwandgewerbe dieser Gebiete war trotz territorialer Grenzen miteinander verbunden. Es beschränkte sich hier länger als in der Ostschweiz auf Selbstversorgung und die Belieferung regionaler Märkte. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts begannen sich bernische Landweber zu genossenschaftlichen Verbänden zusammenzuschliessen, um das Berufsleben nach der Art ländlicher Zünfte zu regeln und sogenannte Stümpler, die ohne reguläre Ausbildung produzierten, vom Markt zu verdrängen. 1592 bewilligte die bernische Obrigkeit den Webermeistern der Landgerichte Konolfingen, Seftigen, Sternenberg und Zollikofen eine Handwerksordnung. Trotzdem war die Weberei im Herrschaftsbereich Berns, wo zunehmend merkantilistische Ideen Eingang fanden, nie in ein allseits anerkanntes Zunftsystem eingebunden. Ab dem 17. Jahrhundert arbeiteten die Weber im ganzen bernisch-luzernischen Leinwandproduktionsgebiet teils auf eigene Rechnung, teils im Rahmen des Verlagssystems.

Die dortige Leinenfabrikation entwickelte sich ab Ende des 17. Jahrhunderts zum bedeutenden Ausfuhrgewerbe. Dessen Hauptabsatzgebiet war Frankreich, geringere Exportmengen gingen nach Holland und England. Den Vertrieb besorgten Handelshäuser, die in den Berner und Luzerner Landstädten und grösseren Ortschaften ansässig und oft als Verleger tätig waren. Wie zuvor in der Ostschweiz wurde der vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erfolgte starke Aufschwung des Leinwandgewerbes im Berner und Luzerner Gebiet auf obrigkeitliche Kontrollmassnahmen zurückgeführt. Aufgrund von Missständen auf dem wichtigen Handelsplatz Langenthal erliess die Berner Regierung 1758 ein Reglement, welches die Masse und Qualitätskontrolle der Tücher vorschrieb. Die für verschiedene regionale Leinwandorte gültigen Bestimmungen gingen weniger weit als jene in St. Gallen, sodass die Ware besser an die jeweilige Nachfrage angepasst werden konnte. Als Folge der guten Konjunktur dehnte sich das Produktionsgebiet aus und erfasste zum Beispiel auch das Entlebuch. Grosser Bedarf herrschte an Spinnerinnen, die nach der Mitte des 18. Jahrhunderts den teils aus dem Ausland (v.a. Elsass) importierten Flachs zunehmend mit dem Spinnrad verarbeiteten, statt wie vorher mit der Handspindel. 1791 waren im Berner Leinengebiet rund 14'000 Menschen mit Spinnen und 1500 mit Weben beschäftigt.

Der Niedergang im 18. und 19. Jahrhundert

Im 18. Jahrhundert verlagerte sich das Schwergewicht der schweizerischen Leinenherstellung von der Ostschweiz in die bernischen und luzernischen Gebiete. In St. Gallen setzte als Folge der im zünftischen Sinn stark reglementierten und teuren Produktionsweise nach einem letzten Höhepunkt im Jahre 1714 der Niedergang ein. Zudem erwuchs den St. Gallern immer stärkere Konkurrenz durch Leinwand aus Süddeutschland, Schlesien, Böhmen, Mähren und der Lausitz. Das kleinstädtische und ländliche Leinwandgewerbe der Ostschweiz vermochte sich mehrere Jahrzehnte länger zu halten als jenes in St. Gallen. Letztlich war es aber der Wechsel zur Fabrikation von Baumwolle, welcher dieser Gegend neue wirtschaftliche Entwicklungsmöglichkeiten bot. Als Konkurrenzprodukt trug die Baumwolle dank günstiger Eigenschaften zur Verdrängung der Leinwand bei.

Infolge der politischen Lage und Handelsbeschränkungen geriet im frühen 19. Jahrhundert auch das bernisch-luzernische Leinwandgewerbe in eine Krise. Seither spielt die Leinenfabrikation in der schweizerischen Wirtschaft eine untergeordnete Rolle. In der Ostschweiz deckte sie ab der Mitte des 19. Jahrhunderts kaum noch mehr als den häuslichen Bedarf der Weber. Hauptsitz der schweizerischen Leinenindustrie blieb bis ins 20. Jahrhundert das Emmental samt seinen Nachbargebieten. Die dort produzierten Tücher wurden vermehrt auf dem inländischen Markt abgesetzt, auf dem ab dem späteren 19. Jahrhundert die Nachfrage nach Leinenstoffen dank der grösseren Verbreitung bürgerlicher Wohnkultur und des Aufschwungs der Hotellerie stieg.

Die Industrialisierung setzte in der schweizerischen Leinwandproduktion verhältnismässig spät ein. Unter dem Druck der billigen, aus England und Belgien importierten Maschinengarne entstanden mechanische Flachsspinnereien (1839 Burgdorf, ca. 1840 Straubenzell). Sie bildeten aber nie einen wesentlichen Wirtschaftsfaktor. Wegen der tiefen Löhne der Heimweber verzögerte sich die Mechanisierung der Weberei im Vergleich zum Ausland erheblich. Anfang der 1880er Jahre wurden grobe Stoffe aus Flachs und Halbleinen, seit der zweiten Hälfte der 1890er Jahre auch feine Leinentücher zunehmend mechanisch hergestellt. Parallel zur Verdrängung der Heimarbeit stieg die Anzahl der Leinwand herstellenden Betriebe in der Schweiz zwischen 1895 und 1965 von 25 auf 43 an.

Quellen und Literatur

  • H.C. Peyer, Leinwandgewerbe und Fernhandel der Stadt St. Gallen von den Anfängen bis 1520, 2 Bde., 1959-60
  • W. Bodmer, Die Entwicklung der schweiz. Textilwirtschaft im Rahmen der übrigen Industrien und Wirtschaftszweige, 1960
  • H. Wicki, Bevölkerung und Wirtschaft des Kt. Luzern im 18. Jh., 1979
  • M. Mayer, «Die Leinwandindustrie der Stadt St. Gallen von 1721 bis 1760», in St. Galler Kultur und Gesch. 11, 1981, 1-130
  • B. Schmid, «Die bern. Leinwandweberei - eine geschichtl. Übersicht», in Jb. des Oberaargaus 26, 1983, 195-208
  • M. Irniger, M. Kühn, «Hanf und Flachs», in Traverse, 1997, H. 4, 100-115
  • SGGesch. 3, 123-146
Weblinks

Zitiervorschlag

Marcel Mayer: "Leinwand", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 23.05.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/013958/2012-05-23/, konsultiert am 28.03.2024.