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Unterschichten

Der deutsche Begriff Unterschichten entstammt der Soziologie, namentlich den Konzepten der sozialen Frage und der sozialen Schichtung. Letzteres wurde ab den 1950er Jahren zur Analyse des hierarchischen Gesellschaftsgefüges eingeführt, wobei das anfänglich vorherrschende dreistufige Modell von Ober-, Mittel- und Unterschichten später weiter differenziert wurde (Mittelstand, Eliten).

Ab den 1960er Jahren nutzte die Sozialgeschichte Begriff, Schichtungsmodell und soziologische Schichtungskriterien, zunächst vor allem für die Erforschung der Industriegesellschaft und der Arbeiterschaft (Arbeiter). Der Begriff Unterschichten löste die im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts üblichen Termini der «niederen Stände» bzw. der «unteren Klassen» ab, nicht zuletzt, weil er sich als rein deskriptiver Ordnungsbegriff durch eine grosse empirische Operationalisierbarkeit auszeichnet: Er hält nämlich wie sein französisches Äquivalent «classes populaires» gegenüber dem marxistischen, ausschliesslich am Eigentum an den Produktionsmitteln orientierten Klassenbegriff (Klassengesellschaft) an einer Vielfalt der Ungleichheiten und einer graduellen sozialen Gliederung fest. Bei deren Erforschung sind neben wirtschaftlichen und sozialen auch rechtliche bzw. politische Kriterien sowie ethnisch-religiöse Trennlinien und die Differenzierung der Geschlechter zu berücksichtigen.

Mittelalter und frühe Neuzeit

Methode

In der deutschsprachigen Mediävistik waren die in den 1960er Jahren von Erich Maschke veröffentlichten Arbeiten über die städtischen Unterschichten richtungsweisend. Ab den 1970er Jahren widmete sich dann auch die schweizerische Forschung zunehmend den Unterschichten. Allerdings befassten sich zunächst nur sehr wenige Untersuchungen, die vor allem Historiker der Universitäten Basel und Zürich vorlegten, auch mit den ländlichen Unterschichten und der Zeit vor 1800.

Ältere Untersuchungen sozialer Bevölkerungsstrukturen orientierten sich an rechts- und verfassungsgeschichtlichen sowie ökonomischen Aspekten; sie stützten sich auf das Eigentum, auf Ämter, Beruf und Zunftzugehörigkeit als Indikatoren gesellschaftlicher Wertung, somit vor allem auf Quellen wie Güterverzeichnisse, Steuer-, Rats- und Zunftlisten. Die Ober- und Mittelschichten als handelnde und besitzende Klassen rückten so in den Mittelpunkt des Forschungsinteresses, während die Unterschichten sozusagen ausgeblendet wurden, da sie in diesen Quellen oft nicht in Erscheinung treten. Die Erweiterung auf politische, bildungspolitische, mentalitätsgeschichtliche und geschlechterspezifische Schichtungskriterien verlangte den Einbezug weiterer Quellengattungen wie zum Beispiel Sittenmandate, Gerichtsakten, Bussenrödel, Almosenlisten, Todfall-Inventare, Stadt- oder Dorfrechte und bildliche Geschichtsquellen, welche eine feinere Differenzierung innerhalb der Unterschichten erlaubten. Aber auch zur Abgrenzung der Schichten voneinander, vor allem zwischen Unterschichten und Mittelschichten, wurden neue Kriterien nötig.

Der grosse Arbeitsaufwand schränkte solche Studien vorab auf die Stadt- und Ortsgeschichte oder in regionalem Rahmen auf Teilaspekte wie etwa die Rolle der Unterschichten im Handwerk ein. Mittelalter und frühe Neuzeit sind sozialgeschichtlich als Einheit zu sehen, auch wenn die Reformation eine Neubewertung von Armut und Arbeit einleitete. Erst die industrielle Revolution jedoch sollte neue soziale Kategorien hervor- und frühere zum Verschwinden bringen.

Städtische Unterschichten

Federzeichnung aus der um 1520 entstandenen Ständefolge von Niklaus Manuel (Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett; Fotografie Martin Bühler).
Federzeichnung aus der um 1520 entstandenen Ständefolge von Niklaus Manuel (Kunstmuseum Basel, Kupferstichkabinett; Fotografie Martin Bühler).

Die im Mittelalter geltende ständische Gliederung der Bevölkerung in Adel, Freie und Unfreie (Leibeigenschaft), die mangels statistischer Quellen quantitativ nicht zu gewichten ist, wurde in der mittelalterlichen Stadt abgelöst von einer nun messbaren sozioökonomischen Schichtung der Stadtbevölkerung, die auf der bürgerrechtlichen Freiheit, der geldwirtschaftlichen Ausrichtung und der beruflichen Diversifizierung basierte. Die städtischen Unterschichten waren aber wie die Ober- und Mittelschichten überaus vielfältig und je nach Ort unterschiedlich zusammengesetzt. Sie umfassten all jene, die auch bei regelmässigem Einkommen am Rand des Existenzminimums lebten und in den untersten Steuerklassen rangierten, sei es mit kleinem Besitz oder vermögenlos mit einer Kopfsteuer. Auch mit bescheidenem Vermögen (Hausrat, kleines Haus) gerieten diese Leute während Krisen in zeitweilige Abhängigkeit von kirchlicher oder kommunaler Fürsorge (Spende, Almosen) oder sie mussten betteln (Bettelwesen).

Verarmung und Armut traten als individuelles Schicksal (Krankheit, Alter, Verwitwung, Spielschulden) und als Massenphänomen auf, unter anderem infolge von Inflation, Münzverwerfung oder konjunkturellen Einbrüchen. Unter den wirtschaftlich Schwachen waren Bürger, unter anderen Kleinhandwerker, Lohnarbeiter, selbstständige Nichtzünftige, darunter ledige Frauen als Näherinnen, Weberinnen, Kleinkrämerinnen, das klerikale «Proletariat» und Hausarme, ferner Aufenthalter wie Gesellen, Gesinde, Spielleute sowie Angehörige unehrlicher Berufe. Steuerregister verzeichneten nur die ansässigen Besitzlosen und Randständigen, und auch die nur teilweise. Nicht erfasst wurden die in der Stadt arbeitenden «Pendler» (u.a. extramurale Taglöhner, Dienstboten, Fuhrleute), Fahrende oder die vom Land dem städtischen Almosen zuströmenden Bettler (Randgruppen). Die städtischen Unterschichten im Mittelalter sind deshalb quantitativ nie vollständig zu eruieren.

Umstritten blieb die Abgrenzung zwischen Unterschichten und Mittelschichten: Bei einem angenommenen oberen Grenzwert von zum Beispiel 25 Gulden für steuerbare Vermögen gehörten zwischen 1458 und 1472 ca. 31% der Zürcher, 36% der Schaffhauser, 36% der Berner und 40% der Luzerner Stadtbevölkerung der Unterschicht an, somit durchschnittlich ein Drittel. Die bessere Quellenlage in der frühen Neuzeit lässt breitere Fragestellungen zu, zum Beispiel nach Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten der Unterschichten, neuen Berufen und selbstständiger Frauenarbeit, nach der Wohnsituation (beschränkter Wohnraum, zum Beispiel in Vorstädten) und sozialen Auffangnetzen (Spitäler für verarmte Bürger, Kranken- und Sterbekassen zünftiger Handwerker usw.). Einige dieser Themenkreise wurden zwar in Ortsgeschichten oder Spezialuntersuchungen schon angeschnitten; da aber noch keine Synthesen und kantonsübergreifenden Studien vorliegen, sind unsere Kenntnisse noch zu lückenhaft, um generalisierende Aussagen zu wagen.

Ab dem 16. Jahrhundert nahmen die Städte zunächst die Armen nicht mehr ins Bürgerrecht auf; dann verliehen sie dieses überhaupt nicht mehr und begrenzten teilweise auch den Zuzug der Hintersassen zur Vermeidung von nichtbürgerlicher Konkurrenz. Jede Stadt ging dabei anders vor: So erlaubte zum Beispiel Bern den Hintersassen vielfältige berufliche Tätigkeit; der daher hohe Hintersassenanteil an der Stadtbevölkerung (1764 über 52%) verteilte sich vor allem auf die von Bürgern gemiedenen Unterschichtenberufe (Arbeiter, Handlanger, Dienstboten, Strumpfweber usw.). Zürich hingegen beschäftigte bei kleinem Hintersässenanteil (1756 gut 5%) in den Unterschichtenberufen vor allem leicht wegweisbare Aufenthalter (z.B. ländliches Gesinde 21%).

Ländliche Unterschichten

Für Landgebiete galt als sozialgeschichtliches Modell lange die wirtschaftlich-soziale Zweiteilung in Hofbauern, unter denen wiederum zwischen Voll- und Halbbauern zu unterscheiden ist, und Tauner auf Grund des urbariell verzeichneten Grundbesitzes. Demgegenüber betonen neuere Untersuchungen, dass die Angehörigen der Unterschichten in vielen verschiedenen Berufen arbeiteten.

Merkmale dörflicher Unterschichten waren Armut bei geringem oder fehlendem Grundbesitz und engem Wohnraum (Taunerhaus), oft in Allmendsiedlungen. Im Vergleich zu Mittel- und Oberschichten wuchsen die Unterschichten weit stärker an, im 18. Jahrhundert in Heimarbeiterdörfern auf bis zu vier Fünftel der Bevölkerung. Die typische frühneuzeitliche Überlebensstrategie der Unterschichten verlangte die Addition von Tätigkeiten sowie der Frauen- und Kindererwerbsarbeit in der Familie. Saisonal wechselnde Einkommen, ursprünglich vor allem aus der landwirtschaftlichen Taglöhnerei, ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts vermehrt aus handwerklicher Störarbeit, ab dem 17. Jahrhundert auch aus der Heimarbeit und meist aus dem eigenen Garten- und Püntbau, waren als «Leben von der Hand in den Mund» nur in guten Jahren existenzsichernd. Krisen zwangen die ärmeren Bevölkerungsteile zum Betteln und in die Kleinkriminalität (Wald- und Feldfrevel). Kinderreiche Familien, ledige Frauen, Alte und Kranke waren zeitweise oder auf Dauer abhängig von kommunaler Fürsorge im Kehrgang oder Armenhaus. Bäuerliche Betriebe im Einzelhofgebiet, in dem nur ein Sohn den ganzen Besitz erbte, exportierten die weitgehend mittellosen Geschwister in die Dörfer oder hielten sie – gewissermassen als «verdeckte Unterschicht» neben dem Gesinde – als billige Arbeitskräfte im Haus.

Ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, als sich auch die Dörfer gegenüber bedürftigen Zuzügern abschlossen, zählten neben Hintersassen zunehmend verarmte Dorfgenossen zur Unterschicht. Während man Hintersassen auch in der zweiten und dritten Generation noch wegweisen konnte, gehörten Dorfgenossen, gestützt auf ihren kleinen Grundbesitz, zur dörflichen Rechts- und Nutzungsgemeinschaft und hatten entsprechende Rechte am Gemeingut (Allmend, Wald). Dank wachsender Mehrheit in der Gemeinde vermochten sie ihre Rechte wie zum Beispiel auf Pflanzland im Streit mit den reicheren Bauern zu mehren und Allmendteilungen zu hintertreiben. Teils verzögerten sie damit Landwirtschaftsreformen, teils trugen sie aber auch zu Neuerungen wie zum Beispiel dem Kartoffelbau bei.

Die Unterschichten waren nie homogen. Tüchtige Angehörige der Unterschichten besetzten neben den Bauern die Dorfämter. Der soziale Aufstieg war indes auch erfolgreichen Angehörigen der Unterschicht – Tauner rückten beispielsweise zu Verlegern und Zimmerleute zu gefragten Baumeistern auf – nur ausnahmsweise gegönnt, da obrigkeitliche Lohn- und Preistaxen die Vermögensbildung und damit den Ausbruch aus der Unterschicht praktisch verhinderten. Heimarbeiter veränderten unter neuen Arbeits- und Verdienstverhältnissen ihr Konsum-, Zeit- und soziales Kontaktverhalten, das bereits Züge der künftigen Arbeiterkultur zeigte. Schichtwechsel war vor allem durch Einheirat möglich. Eine schwankende, weitgehend unbekannte Zahl an Nichtsesshaften und Randgruppen bildeten auch auf dem Land das unterste Segment der Unterschicht.

19. und 20. Jahrhundert

Die Entwicklung der Unterschichten im Lauf der sozialen und politischen Umbrüche des 19. Jahrhunderts war durch gegenläufige Kräfte geprägt. Einerseits eröffnete die Gewährleistung der gleichen Rechte den Männern aller Schichten die politische Mitbestimmung und hob auch die rechtlichen Schranken für den sozialen Aufstieg auf, auch wenn die kommunale Grundstruktur des politischen Lebens und die traditionell zögerliche Erteilung von Bürgerrechten an Fremde noch lange nach Einführung des allgemeinen Männerwahlrechts eine Unterschicht politischer Rechtloser fortbestehen liessen.

Feldarbeiter beim Imbiss auf dem Vully, um 1900 (Schweizerisches Institut zur Erhaltung der Fotografie, Neuenburg; Fotografie Victor Attinger).
Feldarbeiter beim Imbiss auf dem Vully, um 1900 (Schweizerisches Institut zur Erhaltung der Fotografie, Neuenburg; Fotografie Victor Attinger).

Andererseits brachten die Veränderungen in der Landwirtschaft, die Industrialisierung, das Bevölkerungswachstum und die schrittweise erteilte Niederlassungsfreiheit wachsende Gruppen ortsfremder, vielfach andersgläubiger, wirtschaftlich, sozial und politisch marginalisierter Gruppen hervor. Angesichts frühindustrieller Massenarmut gehörten städtische und ländliche Bevölkerungsmehrheiten von 60-70% den Unterschichten an, bestehend aus gänzlich besitzlosem Gesinde und besitzarmen Kleinbauern (Arbeiterbauern), Handwerkern sowie Heim- und Fabrikarbeitern (Pauperismus). Die prekären Existenzbedingungen behinderten Familiengründungen oder erzwangen eine subsistenzökonomisch geprägte Familienwirtschaft, in der nur die Kombination verschiedener Einkommensarten den Unterhalt einigermassen gewährleistete: Lohn-, Heim- und Gelegenheitsarbeit, Eigenproduktion, Tausch und Handel, in periodischen Notzeiten auch verbreitete Kleinkriminalität. Die soziale Zugehörigkeit war zumeist ererbt und wirkte in kommenden Generationen fort; die daraus resultierende fatalistische Ergebenheit wurde zum mental prägenden Element. Die neue Unterschicht der Fabrikarbeiter bestand vorerst mehrheitlich aus Frauen, die erheblichen rechtlichen Einschränkungen unterworfen waren.

Die Periode starker Fabrikindustrialisierung und Urbanisierung, die in der Schweiz um 1880 einsetzte, gliederte die Unterschichten erneut um. Die Möglichkeit und der Zwang zur kontinuierlichen Lohnarbeit bei zeitweise steigenden Reallöhnen und die Entstehung einer gelernten, männlichen Arbeiterschaft eröffneten für Teilgruppen der bisherigen Unterschichten Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs. Mit dem Klassenkonzept propagierte die Arbeiterbewegung zugleich eine Gesellschaftsinterpretation, die den Unterschichten eigene Macht und Würde verhiess. Im Zeichen sich durchsetzender, jetzt in wachsendem Mass männlicher Lohnarbeit schrumpfte die ältere familienwirtschaftliche, stark auf der Mitarbeit von Frauen und Kindern beruhende Mangelökonomie. Wichtig für die Rückbildung der Unterschichten wurde im 20. Jahrhundert zudem die Verbreitung der Berufslehre – die Gruppe der Un- bzw. Angelernten wurde dagegen zum eigentlichen Reservoir der Unterschichten. Dazu gehörten seit dem späten 19. Jahrhundert die an Zahl zunehmenden ausländischen Arbeitskräfte, vor allem im Bausektor (Ausländer). Hinzu kamen, in Fortsetzung von Traditionen des Ancien Régime, Personen, die sozial geächtete Tätigkeiten ausübten: Prostituierte (Prostitution), nicht Sesshafte und Heimatlose, Bettler und soziale Aussenseiter, denen sich ein wachsender staatlicher Apparat widmete (Armenfürsorge, Strafvollzug, Psychiatrie).

Italienische Saisonniers auf dem Bahnhof in Brig. Fotografie von Oswald Ruppen, 1970 (Mediathek Wallis, Martigny).
Italienische Saisonniers auf dem Bahnhof in Brig. Fotografie von Oswald Ruppen, 1970 (Mediathek Wallis, Martigny).

Im Zuge der enormen Wohlstandsmehrung nach 1945 schien die Problematik auf einen nur noch temporär verbleibenden Rest hartnäckiger Armut und selbstgewählten Aussenseitertums zu schrumpfen. Die wachsenden Mittelschichten würden – so behauptete es zumindest die von einer Mehrheit des politischen Spektrums getragene Mittelstandsideologie – die zukünftig dominierende gesellschaftliche Formation bilden. Diese optimistische Auffassung, die zum Teil auch darauf basierte, dass sich auch Unterprivilegierte in ihrer Selbstwahrnehmung gerne zum Mittelstand zählen, entbehrt nicht jeder Grundlage. Untersuchungen über die wirtschaftliche Entwicklung zeigen nämlich, dass gerade die zwischen Unterschichten und Mittelstand anzusiedelnden Bevölkerungsteile ihre relative Einkommenspositionen zwischen 1950 und 1970 verbessern konnten. Diese Auffassung verdrängte aber, dass mit den vielen ausländischen Arbeitskräften, denen als sogenannte Saisonniers nur ein beschränktes Aufenthaltsrecht zugestanden wurde, eine neue Unterschichtsgruppe entstanden war.

Obdachlose Frau in Genf. Fotografie, um 1998 (Interfoto, Genf).
Obdachlose Frau in Genf. Fotografie, um 1998 (Interfoto, Genf).

Erst der konjunkturelle und gesellschaftspolitische Umbruch Mitte der 1970er Jahre machte klar, dass die auf Dauer angelegte Kumulierung gesellschaftlicher Benachteiligungen, welche die Lage der Unterschichten zentral auszeichnet, keinesfalls im Verschwinden begriffen ist. Vielmehr entwickelt sich eine Pluralisierung von Ungleichheiten, in der neben den traditionellen Faktoren wie Stellung im Arbeitsmarkt und Bildung vermehrt «neue» Elemente wie Geschlecht, ethnische Herkunft, Alter oder Region die Schichtzugehörigkeit bedingen. Prekäre Beschäftigungsangebote für gering Qualifizierte, Arbeitslosigkeit, Massenimmigration und daraus resultierende Integrationsprobleme einer ersten und zweiten Generation, die sich über schulische Fehlschläge fortzusetzen drohen, sowie eine neuerlich zunehmende Tendenz zur sozialen Segregation in städtischen Wohn- und Lebensräumen lassen die Unterschichten heute eher wieder wachsen. So stieg die Armutsquote in den 1990er Jahren auf über 10% der erwerbsfähigen Bevölkerung, wobei vor allem der Anteil der working poor, die trotz Vollzeitbeschäftigung unter die offiziell definierte Armutsgrenze fallen, und der Alleinerziehenden zunahm. Soweit es sich dabei um Ausländer handelt, wird deren soziale Marginalisierung durch eine politisch-rechtliche verstärkt: Die Vorenthaltung der Bürgerrechte gegenüber langjährig Niedergelassenen oder im Land Geborenen führt zur Entstehung einer neuen Unterschicht politisch Rechtloser, die in städtischen Zentren heute ein Viertel der Bevölkerung ausmachen.

Quellen und Literatur

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  • E. Streuli, T. Bauer, Working Poor in der Schweiz, 2002.
Weblinks

Zitiervorschlag

Anne-Marie Dubler; Mario König: "Unterschichten", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 14.01.2014. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/015986/2014-01-14/, konsultiert am 29.03.2024.