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Soziale Mobilität

Unter sozialer Mobilität versteht man den Positionswechsel von Personen oder Gruppen im Rahmen hierarchisch definierter Einheiten eines Gesellschaftssystems wie Stände, Schichten oder Klassen. Handelt es sich dabei um einen sozialen Auf- oder Abstieg, wird auch von vertikaler Mobilität gesprochen.

Mittelalter und frühe Neuzeit

Soziale Mobilität in der ständischen Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit manifestierte sich in zwei Formen: als Aufstieg in die Führungs- bzw. Bildungseliten (Eliten) oder als Abstieg durch Verschuldung, Verarmung, Krankheit oder Funktionsverlust; als Beispiel für Letzteres steht das Rittertum. Aus dem Abstieg ergab sich ein Statusverlust, wenn die Betroffenen nicht mehr nach den spezifischen Anforderungen ihres Standes leben konnten. Auf solche Bedürftige, die mit ihrem Hab und Gut auch ihren vormals hohen Sozialstatus eingebüsst hatten, nahm schon der hochmittelalterliche Diskurs über die Armut Rücksicht. Sie sollten eine Behandlung erfahren, die ihrem verlorenen Status und ihrer Ehre entsprach, und nicht den übrigen Armen gleichgesetzt werden.

Die gängigsten Mittel zum sozialen Aufstieg bildeten der Erwerb von Reichtum oder Bildung, der Weg über Einheirat (connubium) in patrizische oder adelige Familien, die Aktivierung familialer und klientelartiger Beziehungsnetze (Klientelismus) oder die Migration in die Städte; deren Bürgerschaft schloss sich jedoch in der frühen Neuzeit zunehmend gegen Neuankömmlinge ab.

Wie die städtischen Ratslisten des 13. und 14. Jahrhunderts belegen, erlangten vor allem Kaufleute früh den Zutritt zum Patriziat. Ihre führende Rolle in den spätmittelalterlichen Bürgerkämpfen hatte den wirtschaftlich erstarkten, bis dahin aber politisch ausgeschlossenen Kaufleuten und Zünftigen den Zugang zum Rat und damit einen entscheidenden Einfluss auf die städtische Politik verschafft (Zünfte).

Der Solddienst galt von der Mitte des 15. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts als einfachster Weg zu Reichtum und sozialem Aufstieg (Fremde Dienste). Landleute, Städter, Gesellen und auch Randständige aus deutsch- und französischsprachigen Gebieten liessen sich mit oder ohne Einverständnis ihrer Obrigkeit für zahlreiche Kriege anwerben (Reisläufer). Angehörige von Patrizierfamilien und Notabelngeschlechtern traten als Offiziere in den Dienst auswärtiger Herren oder betätigten sich selbst als Soldunternehmer in der Hoffnung, Reichtümer zu erwerben und ihre soziale Stellung zu verbessern. Doch verbanden sich mit dem Solddienst Gefahren: Viele verarmte Söldner liessen sich nicht mehr in die Gesellschaft integrieren und zogen als zum Teil verkrüppelte Bettler durchs Land. Wirtschaftlicher Ruin, persönliches Versagen, aber auch eine durch neue Allianzen veränderte politische Lage bildeten die Risiken für die Offiziere und Soldunternehmer.

Bildung als Kapital eröffnete kirchliche Karrieren. Dies galt auch für unehelich geborene Söhne, sofern sie eine päpstliche Dispens erhalten konnten. Denn sie waren rechtlich schlechter gestellt und litten unter einem sozialen Makel. Weitere Laufbahnen eröffneten sich durch den Eintritt in eine städtische oder fürstliche Verwaltung mit ihren verschiedenen Ämtern oder durch eine längerfristige Anstellung als Hauslehrer in einem patrizischen oder adligen Haushalt.

19. und 20. Jahrhundert

Mit dem Untergang der Alten Eidgenossenschaft 1798 fielen die ständischen Schranken. Die Bundesverfassung von 1848 schuf dann mit der Niederlassungsfreiheit für christliche Schweizer die zentrale Voraussetzung für den wirtschaftlichen Aufstieg breiterer Schichten. Massnahmen gegen die Heimatlosigkeit, die Gleichstellung der Juden und die Einführung der Gewerbefreiheit 1874 begünstigten diese Entwicklung. Bis zum Ersten Weltkrieg kam der beschleunigte wirtschaftliche Wandel dazu. Die rasche Industrialisierung nach 1860 schuf neue Erwerbsmöglichkeiten, hauptsächlich in städtischen Ballungszentren, und zog Arbeitsuchende aus dem ländlichen Raum an (Binnenwanderung). Die Zahl der Lohnempfänger stieg stark an. Hingegen verringerte sich die Gesamtzahl der bäuerlichen Betriebe, vor allem der kleineren, fortlaufend (Bauern). Diese Entwicklung setzte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts fort und beschleunigte sich nach dem Zweiten Weltkrieg. Meist folgte auf die geografische Mobilität eine berufliche Neuausrichtung. Neben der Arbeiterschaft (Arbeiter) bildete sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts mit den Angestellten eine neue Schicht von Arbeitnehmern heraus. Die von ihnen ausgeübten Tätigkeiten schufen auch neue Arbeitsmöglichkeiten für Frauen, insbesondere im Büro und Verkauf, was allerdings auf den Widerstand der Männer stiess.

Wirtschaftlich profitierte vor allem die politisch bestimmende Schicht des Bürgertums. Ihr stand aber eine wachsende Zahl von Mittellosen gegenüber. Auf dem Land erreichte die armutsbedingte Auswanderung nach Übersee in den 1880er Jahren einen Höhepunkt. In den 1890er Jahren folgte die Massenarmut in den Städten. Zugleich setzte eine internationale Arbeitsmigration ein, die teilweise zu sozialen Konflikten führte (z.B. Italienerkrawall 1896). Die sozialen Unruhen im Zuge des beschleunigten Wandels reflektierten auch die Erfahrungen einer erhöhten sozialen Mobilität.

Die Jahre zwischen 1918 und 1945 zeichneten sich durch ausgeprägte Klassengegensätze aus, die eine niedrige soziale Mobilität zur Folge hatten. Der Landesstreik und Rückschritte in der Sozialpolitik nach 1918 verhärteten die Fronten ebenso wie die Weltwirtschaftskrise und die folgende Massenarbeitslosigkeit den sozialen Aufstieg stark behinderten (Arbeitslosigkeit). Erst die Integration der verschiedenen politischen Kräfte in einen nationalen Konsens vor dem Hintergrund der nationalsozialistischen und faschistischen Bedrohung half ab 1937, die sozialen Schranken aufzuweichen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg folgte eine lange Wachstumsphase, welche die soziale Mobilität beschleunigte. Wohlstand und soziale Sicherheit nahmen für fast alle Bevölkerungsteile zu. Trotz staatlicher Unterstützung vergrösserte sich auf dem Land die wirtschaftliche Kluft zwischen Berg- und Talbauern. Die besseren Erwerbsmöglichkeiten in den Ballungsräumen drängten viele Bauern zur Aufgabe. Die Löhne stiegen kontinuierlich an, so dass ab den 1950er Jahren mehr Menschen von Konsum- und Freizeitangeboten profitierten. Ältere Menschen wurden mit der Einführung der Alters- und Hinterlassenenversicherung 1947 finanziell unabhängiger. Allerdings akzentuierte die wirtschaftliche Prosperität vorerst die vorherrschenden Geschlechterrollen: Erst 1971 erfolgte auf Bundesebene die politische Gleichberechtigung der Frauen. Seit 1996 verfügt die Schweiz über ein Gleichstellungsgesetz, doch war die berufliche Gleichstellung von Mann und Frau zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch nicht erreicht. Schweizerische Arbeitnehmer profitierten nach 1945 auch von ausländischen Arbeitsmigranten, die berufliche Positionen ohne Qualifikationsanforderungen besetzten und Einheimischen den Aufstieg zu Facharbeiter- und Angestelltenberufen erleichterten.

Neue Felder des gesellschaftlichen Aufstiegs öffneten sich im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts im Sport sowie im Kultur- und Medienbereich. Die Bildungschancen wurden demokratischer, so dass mehr Jugendliche aus nichtakademischen Haushalten Zugang zur tertiären Bildungsstufe erhielten. Als nachteilig erwies sich das Fehlen einer schweizerischen Ausländerpolitik. Erst seit den 1990er Jahren wird verstärkt versucht, die gesellschaftliche Integration von Ausländern und Ausländerinnen zu verbessern und so auch deren Aufstiegschancen zu erhöhen. Die Rezession 1992-1993 führte erstmals zu einem beachtlichen Stellenabbau im Dienstleistungssektor, was in weiten Kreisen von Lohnabhängigen die Angst vor einem gesellschaftlichen Abstieg und neuer Armut aufkommen liess.

Quellen und Literatur

  • M. König et al., Warten und Aufrücken, 1985
  • Ständ. Gesellschaft und Soziale Mobilität, hg. von W. Schulze, 1988
  • Illegitimität im MA, hg. von L. Schmugge, 1994
  • HistStat
  • Gente ferocissima, hg. von N. Furrer et al., 1997
  • R. Levy et al., Tous égaux?, 1997
  • Migration in die Städte, hg. von H.-J. Gilomen et al., 2000
  • SZG 52, 2002, Nr. 4 (Themenh. Geschlechterverhältnisse im 18. Jh.)
  • Sozialer Aufstieg, hg. von G. Schulz, 2002
Weblinks

Zitiervorschlag

Katharina Simon-Muscheid; Patrick Kury: "Soziale Mobilität", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 04.01.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/015995/2012-01-04/, konsultiert am 07.10.2024.