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Privatsphäre

Als Privatsphäre einer Person wird allgemein der Bereich bezeichnet, der dem Zugriff der Öffentlichkeit bzw. des Staats entzogen ist. Aus kulturgeschichtlicher Sicht steht die innere Gestaltung dieses Bereichs, die Familien- und Geschlechterbeziehungen sowie die Intimität und Innerlichkeit, im Vordergrund, wogegen die Jurisprudenz das Recht auf Privatsphäre, den Schutz derselben und der traditionell damit verbundenen Eigentumsrechte ins Auge fasst. In der Geschichtswissenschaft wurde die Privatsphäre vor allem in der Alltagsgeschichte und der Geschlechtergeschichte zum Forschungsgegenstand.

Sterbender Mann. Kupferstich aus Heilige Ceremonien von David Herrliberger, 1750 (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv).
Sterbender Mann. Kupferstich aus Heilige Ceremonien von David Herrliberger, 1750 (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv). […]

Erste Ansätze eines konkreten Schutzes der Privatsphäre liegen im mittelalterlichen Hausrecht, namentlich im Hausfrieden. Die Absicht der durch Stadtrechte und Landfrieden geschützten Privatsphäre lag in der Eindämmung der Fehde und diente primär dem Schutz der Privatsphäre gegenüber Gewalt durch Dritte (Hausfriedensbruch als Delikt). Mit der Ablösung der Bürgerschaften aus der stadtherrlichen Bindung (in der Schweiz im 13. und 14. Jh.) gewann die Privatsphäre der Bürger in Form von Schutz des Eigentums und körperlichen Unversehrtheit an Bedeutung. Als Meilenstein für einen institutionalisierten Schutz der Privatsphäre gegenüber staatlichen Eingriffen gilt die in England verfasste Habeas-Corpus-Akte von 1679, die Schutz vor unrechtmässiger Verhaftung und Hausdurchsuchungen gewährte. Der Aufstieg der Privatsphäre zum individuellen und gruppenspezifischen Rechtsgut und zum Freiraum für Individual- und Gruppenkulturen setzte in der Neuzeit mit dem Durchbruch der Aufklärung, des Liberalismus und den mit der Industrialisierung einhergehenden sozioökonomischen Veränderungen ein und brachte unter anderem eine Intimisierung der Familienbeziehungen, eine Umgestaltung der Geschlechterverhältnisse (Geschlechterrollen) und eine Ausdehnung der Privatsphäre vom Haus auf den Bereich der Wirtschaft. Die Wirkung der Ausdehnung von Privatsphäre sowohl nach innen wie nach aussen war zwiespältig: Nach innen schloss sie Gewalt in Ehe und Familie nicht aus, nach aussen erweiterte sie die Verfügungsgewalt des Unternehmers. Die Privatsphäre behielt aber den Doppelcharakter eines Rückzugsraums aus Politik und Öffentlichkeit und eines Widerstandsraums gegen jegliche Autorität. So wurde sie auch zum Freiraum für eine nicht staatskirchlich gelenkte Religion, eine nicht öffentlich sanktionierte Moral und einen nicht gesellschaftlich vorgegebenen Geschmack (Individualismus).

Unter der Prämisse des Persönlichkeitsschutzes kam es Ende des 19. Jahrhunderts unter dem Einfluss der Arbeiterbewegung und bürgerlicher Reformer zu einer Gegenbewegung gegen eine besitzindividualistische Interpretation der Privatsphäre sowohl auf dem Gebiet der Wirtschaft (z.B. Fabrikgesetze zum Arbeitnehmerschutz, 1877 auf Bundesebene) als auch auf dem Gebiet des Privat- und Strafrechts (körperliche Gewalt in der Ehe als Scheidungsgrund im schweizerischen Zivilgesetzbuch von 1912). Zum Offizialdelikt wurde sexuelle Gewalt in der Ehe allerdings erst 2004. Ende 20. Jahrhundert erfuhr die Privatsphäre auf Bundesebene – bis dahin als ungeschriebenes Grundrecht (Menschenrechte) anerkannt – in Artikel 13 der revidierten Bundesverfassung von 1999 vor allem eine individualrechtliche Ausdehnung. Erfasst wurde der Schutz des Privatlebens, die Unverletzlichkeit der Wohnung, das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis sowie der Anspruch auf Datenschutz. Die Verfassung orientierte sich dabei im Wesentlichen an Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts gewann die Frage nach dem Schutz der Privatsphäre neue Bedeutung im Zuge des kontrovers diskutierten präventiven Staatsschutzes zur Terrorismusbekämpfung via Video-, Telefon- und E-Mail-Überwachung und im Bereich der Online-Datenkontrolle und des Schutzes des privaten Gesprächs vor dem Zugriff der Medien auch ausserhalb der eigenen vier Wände. Gleichzeitig wurden, nicht zuletzt auch unter dem Einfluss der neuen Medien, die Grenzen zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit fliessender.

Quellen und Literatur

  • Gesch. des privaten Lebens, hg. von P. Ariès et al., 5 Bde., 1989-93 (franz. 1985-87)
  • Staat und Privatheit, hg. von B. Kerchner, G. Wilde, 1997
  • Traverse, 2005, H. 2
  • S. Balthasar, Der Schutz der Privatsphäre im Zivilrecht, 2006
  • R. Pahud de Mortanges, Schweiz. Rechtsgesch., 2007
Weblinks

Zitiervorschlag

Lukas Gschwend: "Privatsphäre", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 14.06.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016104/2012-06-14/, konsultiert am 28.03.2024.