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Ärzte

Eine Frau wird zur Ader gelassen. Illustration aus einer um 1480 entstandenen Abschrift des Werkes Regimen sanitatis von Heinrich Laufenberg (Zentralbibliothek Zürich, Ms. C 102b, Fol. 91v.).
Eine Frau wird zur Ader gelassen. Illustration aus einer um 1480 entstandenen Abschrift des Werkes Regimen sanitatis von Heinrich Laufenberg (Zentralbibliothek Zürich, Ms. C 102b, Fol. 91v.). […]

Erste Nennungen von Ärzten im Gebiet der Schweiz datieren in das Spätmittelalter. In dieser Zeit und in der frühen Neuzeit war die Zahl der studierten Ärzte indes sehr klein. Sie lebten meistens in den Städten, später auch in Landstädtchen, kaum jedoch auf der Landschaft. Das Gros der männlichen Heilpersonen in Stadt und Land bildeten hingegen die Handwerkschirurgen. Verbindungen der beiden Berufsgruppen ergaben sich erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Im ausgehenden 19. Jahrhundert dann wurde der Arztberuf auch für Frauen zugänglich.

Die Ärzteschaft gehört heute zu den sogenannten freien Berufen, die gesellschaftlich besondere Anerkennung geniessen und sich durch eine hohe Autonomie in der Berufsausübung auszeichnen. Diese Position errang die Berufsgruppe in einem lange dauernden Prozess der Professionalisierung (Beruf), der in Teilen bereits in frühester Neuzeit begann und in dem sich aus den verschiedenen Gruppen männlicher Heiler der moderne, der sogenannten Schulmedizin verpflichtete Ärztestand entwickelte (Medizin). Häufig wurde dieser Wandel vom Staat aktiv unterstützt, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum Beispiel durch die teilweise Verwirklichung des Konzepts einer Gesundheitspolizei (Gesundheitswesen), im 19. Jahrhundert durch den Aufbau von staatlichen Ausbildungsstätten.

Die Ärzte des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit stammten fast ausschliesslich aus regimentsfähigen Familien. Nach der Absolvierung städtischer Lateinschulen wurde ein Studium in Basel (ab 1460), in Italien, Frankreich und Deutschland, im 17. und 18. Jahrhundert häufig auch in den Niederlanden absolviert. Für die gesellschaftliche Stellung war die berufliche Kompetenz weniger relevant als die wirtschaftliche Lage, die weltmännische Erfahrung, der Zugang zu den exquisiten Zirkeln der Gesellschaft sowie der Status, den eine Familie genoss. Immerhin waren die Ärzte an der wissenschaftlich-humanistischen Entwicklung der frühen Neuzeit beteiligt, so etwa Paracelsus, Konrad Gessner, Felix Platter, Albrecht von Haller, Johann Jakob Scheuchzer und Auguste Tissot.

De humani corporis fabrica libri septem. Titelholzschnitt. Das Buch von Andreas Vesalius erschien in Basel 1543 (Universitätsbibliothek Basel, Lb I 1).
De humani corporis fabrica libri septem. Titelholzschnitt. Das Buch von Andreas Vesalius erschien in Basel 1543 (Universitätsbibliothek Basel, Lb I 1).

Das Berufswissen der praktizierenden Ärzte änderte sich durch die wissenschaftliche Entdeckungen der frühen Neuzeit nicht erheblich. Immerhin kann auch in der Schweiz im Anschluss an das in Basel gedruckte Werk «De humani corporis fabrica libri septem» (1543) von Andreas Vesalius in der Handwerksmedizin eine stärkere Hinwendung zur Anatomie festgestellt werden, die im 18. Jahrhundert auch zu einer «Chirurgisierung» der inneren Medizin führte. Im Grundsatz fand vor dem 19. Jahrhundert aber kein Wandel des Berufswissens statt, was in der andauernden Vorherrschaft der Säftelehre (phlogistischen Theorie) zum Ausdruck kam. Im ausgehenden Ancien Régime gelangten vermehrt innovative Elemente zum Durchbruch, etwa die Einführung der Statistik, die gegenseitige Annäherung von Medizin, Geburtshilfe und Chirurgie sowie Analyse und Vergleich von Krankengeschichten. Der fundamentale Wandel des Berufswissens fand aber erst Mitte des 19. Jahrhunderts statt: Die naturwissenschaftliche Ausrichtung brachte ab etwa 1850 das exklusive Expertenwissen, das die Professionen kennzeichnet.

Obwohl das Berufswissen also nicht als Impulsmerkmal der Professionalisierung gelten kann, fanden wichtige Änderungen im Bereich der Ausbildung statt. Nachdem die bereits erwähnte Hinwendung zur Anatomie auch die schweizerische Ausbildung ergänzt hatte (z.B. in Bern 1735, in Zürich öffentliche Vorlesungen ab 1686, Einrichtung eines anatomischen Theaters 1741), entstand dank den Einflüssen der Aufklärung auch für die Medizin eine neue Ausbildungskonzeption. In Zürich gründeten aufgeklärte Ärzte 1782 das medizinisch-chirurgische Institut, das der Verbesserung der wissenschaftlichen Bildung von Stadt- und Landärzten diente; ein ähnliches Institut öffnete 1797 in Bern seine Tore. Beide wurden zu Fakultäten der neu gegründeten Akademie bzw. Universität (Akademie Bern 1805, Universität Bern 1834, Universität Zürich 1833). In der Westschweiz wurden medizinische Fakultäten 1876 in Genf und 1890 in Lausanne gegründet. Eng verknüpft mit der Akademisierung war auch die Intensivierung der Berufstätigkeit: Während in der frühen Neuzeit die meisten Heiler Nebenberufe ausübten, konzipierten die akademisch gebildeten Ärzte auch auf der Landschaft an der Wende zum 19. Jahrhundert ihre Tätigkeit mehr und mehr als Vollberuf. Dies ist nicht zuletzt als Amortisation der länger und teurer gewordenen Ausbildung zu verstehen.

Die um 1800 in den städtischen und stadtnahen Gebieten erfolgte Entwicklung zum akademischen und vollberuflichen Arzt hatte Rückwirkungen auf den sozialen und wirtschaftlichen Status. Ärzte – auch auf der Landschaft – gehörten ab der Mitte des 19. Jahrhunderts wegen ihrer Ausbildung und Zugehörigkeit zum Bürgertum zur gesellschaftlichen Elite. Am Übergang vom Ancien Régime zur bürgerlichen Gesellschaft gehörte auch die liberale politische Gesinnung zum Habitus des Arztes. Waren die Ärzte vor 1800 als weltmännisch-gebildete Berufsleute häufig aufgeklärt, als Mitglieder des städtischen Regiments aber nur in Grenzen reformfähig, so entwickelten sich die medizinischen Berufsvertreter an der Wende zum 19. Jahrhundert meist zu entschiedenen Vertretern der bürgerlich-liberalen Partei. In Zürich gehörten beispielsweise überdurchschnittlich viele Ärzte zur helvetischen wie auch in den 1830er Jahren (Ustertag) zur liberalen Reformbewegung.

Nach dem endgültigen Sieg der bürgerlichen Kräfte durch die Schaffung des Bundesstaates von 1848 zogen sich die Ärzte mehr und mehr von ihrer gesellschaftlich-politischen Führungsrolle zurück und überliessen diese den Juristen, deren Professionalisierung in der Schweiz übrigens eindeutig später eingesetzt hatte. Die Ärzte zogen sich häufig ins Privatleben zurück, wandten sich den nach 1850 rasant sich entwickelnden medizinischen Wissenschaften zu oder engagierten sich in volksaufklärerischer Weise (u.a. Hygiene, Moral).

Charlotte Olivier bei einer Tuberkuloseuntersuchung in einer Lausanner Klinik, 1925. Fotografie von Zinäide Dessonnaz, einer Berufskollegin (Bibliothèque cantonale et universitaire Lausanne, Fonds Olivier).
Charlotte Olivier bei einer Tuberkuloseuntersuchung in einer Lausanner Klinik, 1925. Fotografie von Zinäide Dessonnaz, einer Berufskollegin (Bibliothèque cantonale et universitaire Lausanne, Fonds Olivier). […]

Ein wichtiger Aspekt von Professionalisierung ist die Selbstorganisation einer Berufsgruppe. Gleichzeitig zum allgemeinen politischen Engagement der Ärzte entstanden in Überwindung des zünftischen Korporationswesens erste Berufsvereinigungen neuen Typs. 1788 gründeten aufgeklärte Ärzte (darunter führend Johann Heinrich Rahn) die erste schweizerische Standesgesellschaft, die Helvetische Gesellschaft correspondierender Ärzte und Wundärzte. Diese statuierte in Vorwegnahme bürgerlicher Gesellschafts- und Rechtsvorstellungen die Rechtsgleichheit der Mitglieder, nahm aber gleichzeitig den Ausschluss «vor»-wissenschaftlich gebildeter Berufskollegen vor. Nach der Kantonalisierung der Politik in der Mediationszeit entstanden in den Kantonen Standesgesellschaften mit jeweils gleichen Funktionen (Aargau 1805, Bern 1809, Zürich 1810, Luzern 1811 usw.). Die kantonale Ausrichtung dieser Standesgesellschaften blieb trotz entgegengesetzter Bestrebungen (z.B. Ignaz Paul Vital Troxler) auch nach der Gründung des Bundesstaates bestehen. Sie konnte erst in den 1860er und 1870er Jahren überwunden werden, in denen sich auch die eidgenössische Freizügigkeit der Ärzte durchsetzte (Konkordat 1865, Bundeskompetenz in der Bundesverfassung von 1874, Gesetz 1877). In dieser Zeit entstanden auch erste interkantonale Zusammenschlüsse: 1867 die Société médicale de la Suisse romande, 1870 der Ärztliche Centralverein (Deutschschweiz). Die Gründung der gesamtschweizerischen Ärztevereinigung erfolgte erst 1901 durch die Foederatio Medicorum Helveticorum (FMH).

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts kann die Professionalisierung der schweizerischen Ärzteschaft und die damit verbundene Positionierung als Gesundheitsexperten und als Teil der akademischen Elite der Gesellschaft als abgeschlossen gelten. Zwar gelang die Beherrschung des Gesundheitsmarktes nicht stetig und auf Dauer, wie etwa die Abschaffung des Impfzwangs Ende des 19. Jahrhunderts oder die Zulassung von Chiropraktik und Psychotherapie im 20. Jahrhundert zeigen. Auch die gesellschaftliche Stellung blieb nicht unangefochten, was in intensiven öffentlichen Debatten über Kunstfehler oder ärztliches Einkommen zum Ausdruck kommen kann. Zudem gefährdet auch die zunehmende Spezialisierung die Einheit und damit die Position des Ärztestandes. Dennoch gilt der Arztberuf mit Recht als Musterbeispiel einer gelungenen Professionalisierung. Die Errungenschaften der Berufsgruppe konnten bis heute weitgehend erhalten werden, wenn auch Ende der 1990er Jahre mit dem politischen Versuch der Kostenlimitierung die Ärztehonorare unter Druck geraten sind.

Quellen und Literatur

  • E. Olivier, Médecine et santé dans le Pays de Vaud, 4 Bde., 1962-63
  • R. Braun, «Zur Professionalisierung des Ärztestandes in der Schweiz», in Bildungsbürgertum im 19. Jh., Tl. 1, hg. von W. Conze, J. Kocka, 1985, 332-357
  • J. Bachelard, Les médecins vaudois en 1985, 1987
  • S. Brändli, "Die Retter der leidenden Menschheit", 1990
  • D. Puenzieux, B. Ruckstuhl, Medizin, Moral und Sexualität, 1994
  • A. Bosson, Histoire des médecins fribourgeois (1850-1900), 1998
Weblinks

Zitiervorschlag

Sebastian Brändli: "Ärzte", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 13.03.2006. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016394/2006-03-13/, konsultiert am 09.12.2024.