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Nachbarschaft

Als Personenverband, der die Gesamtheit der Nachbarn eines bestimmten Gebiets umfasst, ist die Nachbarschaft, wie es sie in einigen Regionen der Schweiz gab, eine Vorform der späteren Gemeinde. Sie dient der Nutzung und Pflege gemeinsamer Güter sowie gegenseitiger Hilfe und kann auch niedere hoheitliche Funktionen wahrnehmen. In diesem Sinne umschreibt der Begriff eine ähnliche Realität wie derjenige der Genossenschaft. Die Nachbarschaft bezeichnet auch die mit Rechten und Pflichten verbundene Mitgliedschaft in einer Nachbarschaft, in allgemeineren Sinn auch das Verhältnis der Nachbarn untereinander. Überdies bedeutet «gemeine Nachbarschaft» die Versammlung der Nachbarn als deren oberstes Organ, im Tessin als vicinantia oder consilium generale bezeichnet. Im Tessin ist die Nachbarschaft (vicinanza) schon ab dem 13. Jahrhundert gleichbedeutend mit Gemeinde, ihre Mitglieder waren die sogenannten vicini. Gleichen Ursprungs wie die Tessiner sind auch die Bündner Nachbarschaften, die sich im Spätmittelalter zu Gerichtsgemeinden zusammenschlossen. Mit Ausnahme des Unterengadins bedeutet heute das rätoromanische Wort für Nachbarschaft, vischnanca, Gemeinde.

Jede Nachbarschaft im engeren Sinn hatte ihre auf altem Herkommen gegründete Verfassung, in der die Rechte und Pflichten der Nachbarn geregelt wurden. Im Mittelalter sind Satzungen selten, einzelne Bestimmungen lassen sich jedoch den Offnungen oder Dorfordnungen entnehmen. Südlich der Alpen existierten seit dem 13. Jahrhundert statuti. Unter obrigkeitlicher Leitung schriftlich niedergelegte Statuten von Nachbarschaften sind aus dem 18. Jahrhundert für Zug überliefert. Die Versammlung der Nachbarschaft regelte je nach Region die durch die Nachbarschaft wahrzunehmenden Gemeindenutzungen und kommunalen Aufgaben, Hilfeleistungen in Notfällen, die Organisation von Stiftungen, Festen, Hochzeiten, Begräbnissen oder gemeinsamen Gebeten, die Wahrnehmung der Nachbarlosung (retractus ex iure vicinitatis) bei Güter- und Hausverkäufen, die Pflege von Weg und Steg sowie die Wahl in die verschiedenen Ämter (Dorfmeister, Alpmeister, Bannwarte und Brunnenmeister). In Lugano, Mendrisio, im Valle Maggia und Val Lavizzara delegierte die Nachbarschaft ihre Vertreter (meist den console) auch in den Landschafts- bzw. Talschaftsrat; in Graubünden standen ihnen entsprechend ihrer Grösse eine gewisse Anzahl Sitze in den Gerichtsgemeinden zu. Die Nachbarschaft nahm Schlichtungsaufgaben unter den Nachbarn, aber auch auf einer höheren Ebene wahr.

Die Aufnahme in die Nachbarschaft erfolgte durch Erbfall, Einheirat, Einkauf oder auf Wunsch der Nachbarschaft (z.B. bei Siedlungsrückgang). Dabei war ein Eid zu schwören und zur Förderung guter Freundschaft ein Einstand zu leisten. Die Aufnahme stand nur sogenannten ehrlichen Personen zu. In Zug hatte der Käufer eines in der Nachbarschaft gelegenen Guts oder Hauses eine Abgabe in der Höhe von 5% des Kaufpreises zu zahlen; hingegen war der Erwerb auf dem Erbweg frei. Beim Wechsel in eine andere Nachbarschaft war ein Ein- bzw. Abzugsgeld zu zahlen. Die Kasse der Nachbarschaft führte der Seckelmeister und aushilfsweise auch der Weibel.

Die Nachbarschaft schloss entweder alle Ortsansässigen ein oder beschränkten sich auf die vollberechtigten Inhaber einer Hube (bzw. die Besitzer von Haus, Herd, Rauch). Die Entwicklung ging in Richtung einer zunehmenden Abschliessung der Nachbarschaft. Folglich wurde zwischen Nachbarn und Hintersassen unterschieden (z.B. in Schänis 1559), an einigen Orten, etwa im Tessin, kam es zu weiteren Unterscheidungen zwischen Vollbürgern, Halbbürgern und Hintersassen (Mendrisio, Lugano, Locarno). In Zug wurden 1780 Fremde von der Teilnahme, dem Mindern und Mehren der Nachbarschaft, ausdrücklich ausgeschlossen.

In der frühen Neuzeit entwickelten sich die Nachbarschaften zu Dorfgenossenschaften weiter. In der Helvetischen Republik verschwanden sie als Personenverbände mit öffentlichen Aufgaben, lebten aber mancherorts als Quartiervereine weiter, wie zum Beispiel die acht Nachbarschaften in der Stadt Zug, oder verwandelten sich in Bürgergemeinden bzw. patriziati im Tessin.

Quellen und Literatur

  • Nachbarschaft, Pfarrei und Gem. in Graubünden 1400-1600, Qu., hg. von I. Saulle Hippenmeyer, U. Brunold, 1997
  • R. Schwarz, Die Gerichtsorganisation des Kt. Graubünden von 1803 bis zur Gegenwart, 1947
  • K.-S. Bader, Stud. zur Rechtsgesch. des ma. Dorfes 1-3, 1957-73
  • P. Caroni, Le origini del dualismo comunale svizzero, 1964
  • HRG 3, 813-815
  • Dt. Rechtswörterbuch 9, 1992-96, 1136-1138
  • I. Saulle Hippenmeyer, Nachbarschaft, Pfarrei und Gem. in Graubünden 1400-1600, 1997
  • P. Sutter, Von guten und bösen Nachbarn, 2002
  • H. Zückert, Allmende und Allmendaufteilung, 2003
Weblinks

Zitiervorschlag

Karl Heinz Burmeister: "Nachbarschaft", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 19.06.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016403/2015-06-19/, konsultiert am 13.04.2024.