Seit etwa den 1840er Jahren umfasst der Begriff Arbeiterbewegung die Gesamtheit der Bestrebungen, durch organisatorische Zusammenschlüsse und kollektives Handeln der Arbeiter am Arbeitsplatz und in anderen Bereichen der Gesellschaft deren ökonomische, soziale, politische und kulturelle Emanzipation zu fördern. Obwohl die Arbeiterbewegung im Gefolge der Industrialisierung entstand, spielten die ersten Industriearbeiter, die Heimarbeiter, in ihrer Herausbildung praktisch keine Rolle. Hauptsächliche Träger waren ursprünglich Handwerksgesellen, die ihr berufsorientiertes Bewusstsein überwanden und sich aufgrund der Lohnabhängigkeit als eigenständige gesellschaftliche Klasse der Arbeiter verstanden (Klassengesellschaft). Beschäftigte in Fabriken beteiligten sich zwar seit dem frühen 19. Jahrhundert sporadisch an Aktionen; dauerhaft gliederten sie sich jedoch erst um die Wende zum 20. Jahrhundert in die Arbeiterbewegung ein. Früh gewannen auch Intellektuelle beträchtlichen Einfluss.
Nachdem der Begriff Arbeiterbewegung zunächst im Sinne von Aufruhr oder Krawall verwendet wurde (Grimms Wörterbuch, 1854), erhielt er mit dem Erstarken der Arbeiterorganisationen eine zunehmend positive Bedeutung. Die Arbeiterbewegung zielte nicht nur auf Selbsthilfe und Beseitigung konkreter Missstände, sondern verfügte früh über Utopien von einer besseren Gesellschaft. Organisatorisch lassen sich, bei oft bis ins 20. Jahrhundert fliessenden Grenzen, zwei überwiegende und zwei weniger bekannte Formen unterscheiden: zum einen Gewerkschaften und Parteien, zum anderen Genossenschaften (Genossenschaftsbewegung) und Arbeitervereine.
Früh entstanden ausser betrieblichen, lokalen und landesweiten Organisationen auch internationale Zusammenschlüsse. Neben der dominierenden sozialistischen Richtung, die sich vor allem auf gewerkschaftlicher Ebene auch freie nannte, erreichte die christlich-soziale (katholische) Bewegung einige Bedeutung, während die anarchistischen, evangelischen, liberalen und nationalistischen Organisationsversuche Randerscheinungen blieben. Unabhängig davon, ob sie die Gesellschaft als Klassengesellschaft und ihr Wirken als Klassenkampf verstand, richtete die Arbeiterbewegung ihre Praxis vor allem auf reformorientierte Interessenvertretung im Rahmen des bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftssystems aus.
Die Anfänge der schweizerischen Arbeiterbewegung lassen sich nur unscharf bestimmen. Einerseits ist ihr Wirken in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehend unerforscht, andererseits gestaltete sich der Übergang von traditionellen Aktionsformen und Institutionen der Handwerksgesellen zu neuen der Arbeiter oft fliessend. Weit früher als in Organisationen manifestierte sich die Arbeiterbewegung in Einzelaktionen zur Erhöhung des Lohnes, zur Verkürzung der Arbeitszeit oder allgemein zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Bis Mitte der 1860er Jahre konnten ca. 30 Streiks dokumentiert werden, unter anderem 1794 in den Basler Stoffdruck-Manufakturen, 1813 in der Spinnerei Hünerwadel in Niederlenz und 1837 in der Glarner Stoffdruckerei Trümpy. Häufiger streikten Handwerksgesellen (Schreiner, Bauarbeiter) in Kleinbetrieben und Uhrenarbeiter. Selten endeten diese Arbeitskonflikte mit einem förmlichen Tarifvertrag, wie zum Beispiel 1850 bei den Genfer Typographen. Von allen Ereignissen hinterliess der Usterbrand (1832), die radikalste Form des Maschinensturms, die tiefsten Spuren.
Die zu Beginn meist verbreitete Form dauerhafter Arbeiterorganisationen war die der Hilfsvereine bzw. -kassen, die ihre Mitglieder bei Krankheit und in anderen Notlagen unterstützten; manche hatten zünftige Wurzeln. Nach Aufhebung der Zünfte konstituierten sie sich als Vereine zuerst unter qualifizierten Arbeitern wie Typographen (Aarau 1818, Zürich 1819, Bern 1824, Lugano 1843) oder Uhrenarbeitern, aber auch Schneidern und Schuhmachern. Um solche Kassen bildeten sich Frühformen von Gewerkschaften, zunächst lokal begrenzte, äusserst zerbrechliche Gebilde, die oft nach einem Misserfolg oder nach Abreise eines begabten Organisators wieder verschwanden. Überliefert sind unter anderem die Gründungen der Fachvereine der Schuhmacher (1832), der Bijoutiers (1838) und der Uhrenschalenmacher (1842) in Genf sowie der Typographen (1843) in Bern. Bis in die 1860er Jahre schränkten zudem zahlreiche kantonale Koalitionsverbote ihr Wirken ein. Als erste nationale Gewerkschaft entstand 1858 der Schweizerische Typographenbund (STB), der anfänglich auch Prinzipalen offenstand. Das in der Bundesverfassung von 1848 verankerte Vereinsrecht konnten Arbeiterorganisationen zunächst nur beschränkt beanspruchen.
Der Teufel und seine Grossmutter halten die Symbole der Reaktion und des Sozialismus. Karikatur vonJohann Jakob Ulrich (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv).
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Sozialistische Vorstellungen blieben lange eine Strömung innerhalb des bürgerlich dominierten Radikalismus. Eine beschränkte Zahl von Interessierten setzte sich mit Ideen von Etienne Cabet, Charles Fourier, Félicité de Lamennais, Pierre Joseph Proudhon und Louis Blanc auseinander. In der italienischen Schweiz war vor allem das Gedankengut Giuseppe Mazzinis und später Andrea Costas oder Arturo Labriolas kultureller Orientierungspunkt. Die Masse der Arbeiter wurde allenfalls von Bruchstücken ihrer Sozialtheorien erreicht. In den 1840er und 1850er Jahren ging das «Gespenst des Kommunismus» auch in der Schweiz um, einerseits als Selbstbezeichnung der Anhänger einiger frühsozialistischer Utopien wie der des 1841-1844 hier wirkenden Schneidergesellen Wilhelm Weitling, andererseits als konservativer Kampfbegriff gegen linke Radikale. Die Begriffe Sozialismus und Kommunismus bezeichneten keine bestimmten Gruppen. Zudem vermischten sie sich mannigfach. Von den frühen 1830er Jahren an gründeten deutsche Handwerksgesellen unter anderem in Basel, Bern, Biel (BE), Genf, St. Gallen und Zürich Vereine, die sich der Geselligkeit und Bildung, aber auch der demokratischen und nationalen Erneuerung Deutschlands verschrieben (Junges Deutschland, Junges Europa). Nach einer Ausweisungswelle 1834-1836 erlebten diese Anfang der 1840er Jahre und nach 1848 weitere Höhepunkte, wobei Letzterer 1850 mit der Verhaftung der Führer in Murten und Massenausweisungen endete. Einige dieser Vereine verfügten noch nach 1900 über beträchtlichen Einfluss in der schweizerischen Arbeiterbewegung, so der Deutsche Arbeiterverein Basel (gegründet 1832) und der Arbeiter-Bildungsverein Eintracht Zürich (gegründet 1840).
Auf der Suche nach der geeigneten Organisationsform
Autorin/Autor:
Bernard Degen
Als erste dauerhafte Organisation der schweizerischen Arbeiterbewegung entstand 1838 in Genf der Grütliverein, der sich 1843 nationale Strukturen gab. Er zählte 1851 in 34 Sektionen 1282 Mitglieder, mehrheitlich Schneider-, Schuhmacher-, Schreiner- und andere Handwerksgesellen. Zentrales Anliegen war neben der Geselligkeit und der gegenseitigen Hilfe mittels Unterstützungskassen der soziale Aufstieg durch Bildung.
Titelblatt einer Sonderausgabe des Neuen Postillons. Anlass für das Central-Fest war das 70-jährige Jubiläum des Grütlivereins in Zürich 1908 (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich, Dokumentation).
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Johann Jakob Treichler und Karl Bürkli in Zürich, Pierre Coullery in Bern und Albert Galeer in Genf versuchten um die Jahrhundertmitte mit wenig Erfolg, auf Arbeiterbasis politische Organisationen zu bilden. Coullery (1849), Treichler (1850) und Bürkli (1851) zogen als erste Vertreter von Arbeiterorganisationen in Kantonsparlamente ein. In den späten 1860er und frühen 1870er Jahren, etwa gleichzeitig wie die demokratische Bewegung, erreichte die Arbeiterbewegung einen ersten Höhepunkt. Eine bisher nicht gekannte Streiktätigkeit mit Schwerpunkt im Genfer Baugewerbe war 1868-1873 zu verzeichnen. Die Streiks der Genfer Bauarbeiter und der Basler Bandweber 1868 erreichten gar internationale Beachtung. Den organisatorischen Rahmen bildete die 1864 gegründete Internationale Arbeiter-Assoziation (IAA, Internationale). Ausgehend von der 1865 gegründeten Genfer Sektion gelang es dieser, die bisher zersplitterten Einzelbewegungen zusammenzufassen und die Gründung neuer Organisationen zu fördern. In ihrer Blütezeit zählte die IAA 1868 in der Schweiz ca. 120 Sektionen mit ca. 10'000 Mitgliedern, wovon 3000-4000 in Genf und 3000 in Basel. Ab 1871 war sie mit der Gründung der Sektion Onsernone auch in der Tessiner Arbeiterschaft verankert. Erstmals erschien eine vielfältige, aber meist kurzlebige und beschränkt verbreitete Arbeiterpresse (Tagwacht). Abseits hielten sich als Gesamtorganisationen der Grütliverein, die deutschen Arbeitervereine und der STB. Die Heterogenität der angeschlossenen Organisationen (vom Studienzirkel über Frühformen von Parteien bis zu Gewerkschaften), Führungsprobleme, unterschiedliche Auffassungen über Strategie und Taktik, die Bindung der Kräfte durch die Demokratische Bewegung in der Ostschweiz sowie Repressalien und Zugeständnisse der Gegenseite liessen die IAA bald wieder zerfallen. Der Bruch unter ihren Westschweizer Sektionen führte unter anderem 1871 zur Gründung der Fédération jurassienne, die 1873-1877 ein Zentrum des internationalen Anarchismus war und aus welcher 1872 die föderalistische und antiautoritäre Internationale hevorging. Die IAA war viel zu locker organisiert, um die schweizerische Arbeiterbewegung nachhaltig zu prägen. In der Erinnerung lebten die mit ihr verbundenen Ereignisse aber noch lange weiter.
Blattkopf des Neuen Postillons, November 1905 (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich, Dokumentation).
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In der italienischen Schweiz setzte die Entwicklung der Arbeiterbewegung im Vergleich zu den übrigen Landesteilen aufgrund der ökonomischen Rückständigkeit verspätet ein, nämlich erst am Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Bau des Gotthardeisenbahntunnels. Sie entstand einerseits unter dem Einfluss der schweizerischen Arbeiterbewegung, die insbesondere von den Sektionen Bellinzona und Biasca des Grütlivereins vertreten wurde und vor allem die Eisenbahner stark ansprach, und andererseits unter dem noch grösseren Einfluss der italienischen Gewerkschaftsbewegung, die im Tessin von zahlreichen politischen Flüchtlingen, wie zum Beispiel Angiolo Cabrini, repräsentiert wurde und besonders unter den Steinmetzen Zulauf fand. Als erste Zeitschriften der Arbeiterbewegung im Tessin erschienen «Il Lavoratore» (1888-1889) und «L'Eco dell'Operaio» (ab 1896).
Die berufliche, regionale, religiöse und soziale Differenzierung der Arbeiterschaft bot noch immer schlechte Voraussetzungen für grössere Organisationen. Am gewichtigsten war der 1873-1880 bestehende (Alte) Schweizerische Arbeiterbund, der max. 5000-6000 Mitglieder in Gewerkschaften, politischen Vereinen und Krankenkassen zählte und vor allem im Abstimmungskampf um das Fabrikgesetz 1877 hervortrat. Neben dem STB formierten sich weitere nationale Berufsverbände, so von verschiedenen Uhrenarbeiterkategorien, Schneidern, Schuhmachern, Spenglern, Holzarbeitern und Buchbindern. Die schlechte Wirtschaftslage verhinderte aber ihren Erfolg und bewirkte zudem einen starken Rückgang der Streiktätigkeit. In diesem ungünstigen Umfeld scheiterten 1870 und 1880 auch die Versuche zur Gründung einer Sozialdemokratischen Partei (SP) der Schweiz. Genossenschaften gehörten im Frühsozialismus zu den zentralen Anliegen; die praktische Umsetzung stiess aber auf erhebliche Schwierigkeiten. Produktionsgenossenschaften erlebten ab Ende der 1860er Jahre eine kurze Blüte; die ca. 40 bekannten (Schneider, Schuhmacher, Schreiner, Uhrenarbeiter usw.) verschwanden aber in der Krise Ende der 1870er Jahre wieder. Als zukunftsträchtiger erwiesen sich Konsumvereine, die von den späten 1830er Jahren an meist in Form von Aktiengesellschaften entstanden und anfänglich oft von kurzer Lebensdauer waren. Nicht immer kamen die Initianten aus der Arbeiterbewegung wie 1851 beim Konsumverein Zürich; oft wirkten Unternehmer oder Philanthropen als Gründer. 1890 wurde der Verband schweizerischer Konsumvereine (heute Coop) mit anfänglich 43 Vereinen gegründet; die Verbindungen mit der Arbeiterbewegung lockerten sich aber zusehends.
Klassenorganisationen und Klassenkampf
Autorin/Autor:
Bernard Degen
Ab Mitte der 1880er Jahre bildeten sich stabile Organisationen, deren Entwicklung durch das gleichzeitig einsetzende, lange Wirtschaftswachstum begünstigt wurde. Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) wurde zwar bereits 1880 gegründet, zählte aber bis um die Jahrhundertwende weniger Mitglieder als die grössten Arbeiterunionen. Solche entstanden dauerhaft von den 1880er Jahren an und blieben bis zum Ersten Weltkrieg die wichtigsten Organisationen der Arbeiterbewegung. Neben den STB traten weitere krisenfeste Zentralverbände, zum Beispiel die der Holz- (1886), Metall- (1888), Textil- (1903), Gemeinde- und Staats- (1905) sowie der Uhrenarbeiter (1906/1912). Daneben entwickelte sich eine katholische Arbeiterbewegung: Diasporakatholiken gründeten 1888 den Verband der katholischen Männer- und Arbeitervereine (VMAV), der katholische Kirchen- und Kulturpolitik mit Sozialpolitik verband. Ein Jahrzehnt später bildete sich, angeregt durch die päpstliche Enzyklika «Rerum novarum» und Vorbilder in Deutschland, die christlich-soziale Arbeiterbewegung (Christlichsoziale Bewegung), ausgehend vom 1899 gegründeten Christlich-sozialen Arbeiterverein St. Gallen. Als ihr kräftigster Zweig erwiesen sich langfristig die katholischen Gewerkschaften (z.B. 1901 Holz- und 1905 Metallarbeiter), die sich 1907 zum Christlich-sozialen Gewerkschaftsbund (seit 1921 Christlichnationaler Gewerkschaftsbund der Schweiz, CNG) zusammenschlossen. In den freien Gewerkschaften verfügten Ausländer, vor allem Deutsche, bis zum Ersten Weltkrieg über beträchtliches Gewicht.
Abzeichen aus Seide zum 1. Mai 1893 (Gretlers Panoptikum zur Sozialgeschichte, Zürich).
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Arbeitskonflikte nahmen ab der Mitte der 1880er Jahre stark zu. 1880-1914 zählte man 2416 Streiks ― davon allein 1906-1907 deren 540 ― mit 193 schwereren Polizei- und mit 40 Militäreinsätzen. 1902-1912 kamen dazu zehn lokale Generalstreiks, die grössten 1902 und 1907 in Genf und 1912 in Zürich. Gesamtarbeitsverträge (GAV) blieben dagegen in der im internationalen Vergleich streikfreudigen Schweiz relativ selten; 1911 erfasste der SGB ca. 150 Abkommen mit ca. 11'000 Beteiligten. Seit 1890 verfügt die Arbeiterbewegung mit dem Ersten Mai über ihren eigenen Kampf- und Feiertag. Das rauhe soziale Klima förderte den Klassenkampfgedanken und die Verbreitung des Marxismus, was sich 1904 im Programm der SP und 1906 in den Statuten des SGB niederschlug. Den theoretischen Hintergrund lieferten mehrheitlich Exponenten der deutschen Arbeiterbewegung
Verschiedene Gewerkschaften, Krankenkassen, Grütlivereine, katholische und andere Arbeitervereine bildeten 1887 den (Neuen) Schweizerischen Arbeiterbund. Dieser erreichte in den sozialpolitischen Diskussionen der 1890er Jahre eine gewisse Bedeutung, wirkte aber vor allem als Trägerverein für das vom Bund subventionierte und von Herman Greulich geleitete Arbeitersekretariat. Nach der Jahrhundertwende trat diese künstliche Dachorganisation kaum mehr hervor und wurde 1920 abgeschafft. Die bereits 1918 ausgetretenen katholischen Verbände schlossen sich Anfang 1919 im Christlichsozialen Arbeiterbund zusammen. Die politische Arbeiterbewegung löste sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend vom linksfreisinnig-demokratischen Lager und bildete Klassenorganisationen. Die 1888 gegründete SP gewann 1890 ihren ersten Sitz im Nationalrat. Nach beträchtlichen Anfangsschwierigkeiten, die sie gegenüber ausländischen Schwesterparteien in Rückstand brachten, fusionierte sie 1901 mit dem Grütliverein und erlebte bis zum Ersten Weltkrieg einen beachtlichen Aufschwung.
Die Arbeiterbewegung blieb im 19. Jahrhundert eine Männerangelegenheit. Zwar spielten Frauen bei einzelnen Lohnbewegungen eine tragende Rolle; in den Organisationen mussten sie sich aber, falls sie überhaupt beitraten, mit unteren Positionen begnügen. Die von der Mitte der 1880er Jahre an entstandenen Arbeiterinnenvereine, die sich 1890 zum Schweizerischen Arbeiterinnenverband (SAV) zusammenschlossen, gingen gegen Ende des Ersten Weltkriegs in der SP auf.
Umschlag der Geschichte der Schweiz in ihren Klassenkämpfen, erschienen 1920 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
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Nach einem schweren Rückschlag zu Beginn des Ersten Weltkriegs gewann die Arbeiterbewegung gegen dessen Ende an Schlagkraft. Zudem verlieh die immer offensichtlichere soziale Ungerechtigkeit radikaleren Strömungen Auftrieb; marginal blieb dabei der Einfluss des im schweizerischen Exil lebenden Lenin. Eine neue Generation übernahm unter anderem mit Charles Naine in der Westschweiz, Guglielmo Canevascini im Tessin und dem herausragenden Robert Grimm entscheidende Funktionen. Bereits 1917 kam es in Zürich und La Chaux-de-Fonds zu Unruhen und im gleichen Jahr lehnte die SP die militärische Landesverteidigung ab. Die russische Oktoberrevolution stärkte zwar das Selbstbewusstsein der schweizerischen Arbeiterbewegung, zeitigte aber kaum Auswirkungen auf ihre Ziele und Methoden.
Die Streiktätigkeit erreichte 1917-1920 mit 829 Aufständen ihr grösstes Ausmass. Bei Kriegsende erschütterte zudem der Landesstreik die Schweiz. In seinem Gefolge gelang es vielen Gewerkschaften zwar noch keine GAV, aber immerhin erstmals Abkommen für kürzere Arbeitszeiten durchzusetzen und im Fabrikgesetz von 1919 die 48-Stunden-Woche zu verankern. Einen lokalen Generalstreik in Basel schlug 1919 die Armee nieder (fünf Tote). Die bereits früher einsetzende Strukturreform der freien Gewerkschaften führte, zum Teil nach mehreren Fusionen, zu den nachher jahrzehntelang stabilen Verbänden, zum Beispiel 1915 Smuv (später Gewerkschaft Industrie, Gewerbe, Dienstleistungen; seit 2005 Teil der Unia), STAV (Schweizerischer Textilarbeiterverband, später Gewerkschaft Textil, Chemie, Papier GTCP) und VHTL (Verband der Handels-, Transport- und Lebensmittelarbeiter, später Gewerkschaft Verkauf Handel Transport Lebensmittel), 1919 SEV (Schweizerischer Eisenbahn- und Verkehrspersonalverband), 1920 VPOD (Schweizerischer Verband des Personals öffentlicher Dienste) und 1922 SBHV (Schweizerischer Bau- und Holzarbeiterverband, später Gewerkschaft Bau und Holz GBH).
Als neue Konkurrenten des SGB entstanden 1919 der freisinnige LFSA (Landesverband Freier Schweizer Arbeitnehmer) und 1920 der SVEA (Schweizerischer Verband evangelischer Arbeitnehmer). Der CNG, der sich 1918 vom Landesstreik distanziert hatte, gewann nach 1917 ebenfalls stark an Bedeutung. Nach der kurzen Blüte um das Kriegsende erlitten die freien Gewerkschaften in den frühen 1920er Jahren einen Rückschlag, von dem sie sich erst Mitte der 1930er Jahre erholten. Nachdem sie 1927 das Streikverbot im Beamtengesetz akzeptiert und den Klassenkampf-Artikel aus den Statuten gestrichen hatten, versuchten sie im Gewerbe (mit Teilerfolgen) und in der Industrie (vergeblich) GAV abzuschliessen. Das Friedensabkommen regelte 1937 in der Maschinenindustrie nur die Konfliktlösung; erst 1945 in der Chemie wurde der erste umfassende Industrie-GAV unterzeichnet. In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg verbreiteten sich diese kollektiven Regelungen dann allgemein.
Obwohl die SP sowohl programmatisch als auch in ihrer Praxis gegen Ende des Ersten Weltkriegs einen radikaleren Kurs als je zuvor einschlug, spaltete sich der linke Flügel ab und bildete 1921 ― im internationalen Vergleich recht spät ― die Kommunistische Partei (KP); diese gewann aber nur in Basel, Zürich und Schaffhausen breiteren Einfluss. Nach zahlreichen kantonalen Verboten ab 1937 folgte 1940 ein eidgenössisches. Die SP ihrerseits gewann an Ausstrahlung und ging 1928 erstmals als stärkste Partei aus den Nationalratswahlen hervor. In der Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er Jahre stieg die soziale Spannung erneut, um in den Genfer Unruhen 1932 einen Höhepunkt zu erreichen.
Erstmals eine bedeutendere Rolle spielten Frauen in den Auseinandersetzungen Ende des Ersten Weltkriegs. In der SP und später in der KPS erreichten einige vorübergehend beachtlichen Einfluss (Rosa Grimm, Rosa Bloch-Bollag). Im SGB stellten sie 1920 19%, 1940 aber nur noch 9% der Mitglieder. In der Krise der 1930er Jahre gewann das traditionelle Frauenbild auch in der Arbeiterbewegung wieder an Boden.
Sozialpartnerschaft und politische Integration
Autorin/Autor:
Bernard Degen
Angesichts der faschistischen Gefahr, die sie nicht nur im Ausland sahen, schwenkten die wichtigsten Arbeiterorganisationen zunehmend auf einen gemässigteren Kurs ein. Dieser drückte sich zum Beispiel in der Anerkennung der militärischen Landesverteidigung durch den SP-Kongress 1935 oder in der 1936 gebildeten Richtlinienbewegung aus. Erst nach der Kriegswende, Ende 1943, gewährte die bürgerliche Mehrheit in der Bundesversammlung der SP mit der Wahl von Ernst Nobs die seit 1929 gewünschte Beteiligung am Bundesrat. Ein Teil ihres linken Flügels, zahlreiche illegale Kommunisten sowie viele unabhänige Linke bildeten 1944 die Partei der Arbeit (PdA), die in ihren äusserst erfolgreichen Anfangsjahren keineswegs eine Nachfolgeorganisation der KP war.
Nach einer letzten bedeutenden Welle in den Jahren 1945-1948 mit 147 Streiks setzte sich seit 1950 ein weitgehender Arbeitsfrieden durch. Die Hochkonjunktur bescherte dem Grossteil der schweizerischen Arbeiterschaft ein Einkommen, das die Träume der vorangegangenen Jahrzehnte übertraf. Zudem erlebte sie auf Kosten der massenhaft einwandernden Fremdarbeiter einen sozialen Aufstieg und gehörte im Selbstverständnis zur nicht mehr klassenmässig definierten Angestellten- oder Arbeitnehmerschaft. Die freien Gewerkschaften, die während des Krieges einen gewaltigen Zulauf erlebt hatten, wuchsen bis Mitte der 1960er Jahre weiter, um dann mit Ausnahme eines kurzen Aufschwungs in der Krise der 1970er Jahre zu stagnieren; bei den christlichen Gewerkschaften verlief der Aufstieg etwas kontinuierlicher, mündete aber Mitte der 1970er Jahre ebenfalls in eine Stagnation. Die Zersplitterung entlang politischer, statusmässiger und beruflicher Linien blieb bestehen. 1963 erreichte die SP letztmals mehr als ein Viertel der Wählerstimmen, nachdem ihre Mitgliederzahl 1961 den Höhepunkt überschritten hatte. Seit Beginn des Kalten Kriegs verlor die PdA Einfluss und Mitglieder und verengte sich in den 1950er Jahren auf alte kommunistische Positionen. Arbeitervereine bröckelten auf allen Ebenen ab und lösten sich in den 1960er Jahren von der Arbeiterbewegung, was sich in Statuten- und Namensänderungen ausdrückte. Utopien verloren, kurz unterbrochen vom Aufstieg der Neuen Linken Ende der 1960er Jahre, ihre Anziehungskraft. Andererseits waren SGB und SP auf vielfältige Art in die Konkordanzdemokratie eingebunden.
Zu den Fremdarbeitern fanden sie im Gegensatz zur Zeit vor 1914 kaum Zugang. Mit ihrer Dauerforderung nach Einschränkung von deren Niederlassungsfreiheit erleichterten sie in den 1960er Jahren gar fremdenfeindlichen Strömungen den Zugriff auf ihre eigene Basis. Den Frauenanteil konnte der SGB nach dem 1972 erreichten Tief von nur noch 8,3% wieder leicht verbessern. In der SP stieg die Bedeutung der weiblichen Mitglieder nach Einführung des Frauenstimm- und -wahlrechts weit über das Niveau anderer grosser Parteien. Die SP besass früh eine beachtliche Verankerung unter Angestellten und definierte sich mit dem Programm von 1959 nicht mehr als Klassen-, sondern als Volkspartei. Die Gewerkschaften versuchten, ihren Organisationsgrad im Angestelltenbereich ebenfalls zu erhöhen, was sich unter anderem in der Streichung des Begriffs Arbeiter im Namen ausdrückte (z.B. GTCP 1963, Smuv 1972, GBH 1974), allerdings mit wenig Erfolg. Die Neuen Sozialen Bewegungen stiessen in den späten 1960er Jahren mit ihren Anliegen in den Bereichen Antimilitarismus, Befreiung der Dritten Welt und Emanzipation der Frau bei der Arbeiterbewegung auf schroffe Ablehnung, was deren Attraktivität bei der jüngeren Generation einschränkte. Erst in den späten 1970er Jahren und in den 1980er Jahren öffnete sie sich in breitem Masse solchen Anliegen. Einige der neu entstandenen Organisationen reihten sich im Selbstverständnis, nicht aber aufgrund ihrer sozialen Basis, in die Tradition der Arbeiterbewegung ein, so die Progressiven Organisationen (POCH) und die Revolutionäre marxistische Liga (RML, Sozialistische Arbeiterpartei). Im Gefolge der Wirtschaftskrise Mitte der 1970er Jahre erlebten traditionelle Arbeiterorganisationen einen kurzen Aufschwung. An der Wende zum 21. Jahrhundert akzentuierte sich der Wandel der Arbeiterbewegung in Richtung Arbeitnehmerbewegung. Bei den Gewerkschaften fielen ideologische Grenzen und die Statusschranken weitgehend weg, was sich am deutlichsten 2002 bei der Fusion der Vereinigung schweizerischer Angestelltenverbände (VSA) mit dem einst katholischen CNG zur neuen Dachorganisation Travail Suisse oder im Anschluss mehrerer Angestelltenorganisationen an den SGB zeigte. Innerhalb der Dachorganisationen schlossen sich die Berufs- und Industrieverbände zu grösseren Einheiten (Unia) zusammen. Zudem rückten einst bürgerliche Organisationen wie die der Lehrer strukturell näher an die Gewerkschaften heran und schreckten auch vor Streiks nicht zurück. Ausländer und Frauen gewannen in den Gewerkschaften auf allen Ebenen stark an Gewicht. Seit Mitte der 1990er Jahre wurde zudem deutlich häufiger gestreikt. Gleichzeitig verlor die SP ihre Verankerung in den unteren Schichten der Arbeitnehmerschaft. Die Arbeitervereine als milieugebundene Organisationen verschwanden fast vollständig. Währenddem der Kontakt zu den Wohnbaugenossenschaften beibehalten werden konnte, nahm die Verbindung zur restlichen Genossenschaftsbewegung, namentlich zu den zur Einheitsgenossenschaft Coop funsionierten Konsumvereinen, ein Ende.
Bernard Degen: "Arbeiterbewegung", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 24.02.2014. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016479/2014-02-24/, konsultiert am 08.10.2024.