Im Unterschied zum Begriff Katholische Kirche bezeichnet Katholizismus die Gesamtheit der wahrnehmbaren, historisch-kontingenten Erscheinungsformen des katholischen Christentums. Entstanden im 16. Jahrhundert im Kontext der Konfessionalisierung, wurde der Begriff ab dem 18. Jahrhundert im Sprachgebrauch als Pendant zu Protestantismus gebraucht, während er heute verwendet wird, um die verschiedenartig geprägten Katholizismen zu bezeichnen, die sich in einzelnen Ländern zu bestimmten Zeiten und aus unterschiedlichen kontextuellen Gegebenheiten herausgebildet haben.
Von der Konfessionalisierung zur Restauration
Der Durchbruch der Reformation in den eidgenössischen Städteorten (ab 1523) und der Ausgang des Zweiten Kappelerkriegs 1531 leiteten in der Eidgenossenschaft einen langwierigen Prozess der Konfessionalisierung ein, der zur Herausbildung zweier Konfessionskirchen sowie zu spezifisch katholisch bzw. evangelisch-reformiert geprägten, gegenseitig streng geschiedenen Gesellschaften und Kulturen führte (Konfessionalismus); im Wesentlichen traf das auch für die bi-konfessionellen Orte und die gemeinen Herrschaften zu. Bedeutsam für den Katholizismus erwiesen sich dabei die politische Vorherrschaft der katholischen Orte und deren Annahme der Beschlüsse des Konzils von Trient sowie die im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts einsetzende, staatlich geförderte, allerdings auch weitgehend kontrollierte praktische Durchführung der katholischen Reform. In der Folge wurde ein katholisches Bildungswesen aufgebaut, das die politischen Entscheidungsträger zum grossen Teil den Jesuiten anvertrauten, wogegen die Volksseelsorge vor allem bei den Kapuzinern lag. Als Mittel der religiös-sittlichen Unterweisung dienten dabei hauptsächlich die neu eingeführten Katechismen. Seinen religiös-kulturellen Ausdruck fand der nachtridentinische Katholizismus in einer neu belebten, die Sinne ansprechenden, stark jesuitisch geprägten Volksfrömmigkeit. Charakteristisch dafür sind das Aufblühen zahlreicher Bruderschaften, von Prozessionen und Wallfahrten (Einsiedeln, Mariastein, Madonna del Sasso), der Marien- und Heiligenverehrung (Translationen von Katakombenheiligen im 17. Jahrhundert, Verehrung neuer Heiliger wie z.B. Franz Xaver) und des geistlichen Theaters sowie die Entstehung imposanter Kunst- und Bauwerke des Barocks. Die Niederlage der katholischen Orte im Zweiten Villmergerkrieg 1712 brachte neben dem wirtschaftlichen auch das politische Übergewicht der reformierten Eidgenossenschaft, was die Abwehrhaltung des eidgenössischen Katholizismus gegenüber den nichtkatholischen Orten verstärkte, innerhalb der katholischen Orte jedoch kaum Auswirkungen zeitigte. Der Einfluss von Aufklärung und staatskirchenrechtlichen Tendenzen (u.a. Joseph Anton Felix von Balthasar) ab Mitte des 18. Jahrhunderts auf den tridentinischen Katholizismus führte in der Schweiz wie anderswo zu einer, freilich nur von einer kleinen, insbesondere städtischen Elite getragenen, konfessionellen Entspannung, die bis in die Zeit der Helvetik und Mediation andauerte. Zudem setzte eine vielseitige, an der katholischen Aufklärung orientierte kirchliche Reformtätigkeit ein (u.a. des Konstanzer Generalvikars Ignaz Heinrich von Wessenberg, des Freiburger Franziskaners Gregor Girard oder des Disentiser Benediktiners Placidus Spescha). Während der Restauration wurden die reformkatholischen Einflüsse und Aufbrüche zwar wieder zurückgedrängt, die Ideen und Anliegen dieser Bewegung blieben aber lebendig.
Von den 1830er Jahren bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil
Vor dem Hintergrund der Verfassungsänderungen, welche die Mehrheit der Kantone in den 1830er Jahren im Sinn des Liberalismus durchführte, und der päpstlichen Enzyklika Mirari vos (1832), welche die liberalen Freiheiten verurteilte, bildeten sich innerhalb des schweizerischen Katholizismus im Wesentlichen zwei Richtungen heraus: Eine keineswegs homogene Minderheit liberaler Katholiken, die das Erbe der katholischen Aufklärung antrat, strebte eine Verbindung von Katholizismus und moderner Gesellschaft an. Eine Mehrheit konservativer Katholiken, die aus Angst insbesondere vor dem Verlust kultureller Identität an den überkommenen Traditionen festhalten wollte, lehnte unter Hinwendung nach Rom die Moderne mehr oder weniger stark ab. Während Erstere die Errichtung eines Bundesstaats befürwortete und ihre Integration in diesen nach 1848 dann auch weitgehend problemlos verlaufen sollte, formierte sich auf katholisch-konservativer Seite der Widerstand gegen die Bundesrevisionsbestrebungen (bis 1847 parallel zum reformiert-konservativen Widerstand). Diese Entwicklung wurde durch den Aargauer Klosterstreit, die Luzerner Jesuitenfrage 1844, die Freischarenzüge, den Sonderbundskrieg (Sonderbund) und die anschliessende freisinnig-radikale Reaktion in traditionell katholisch-konservativen Kantonen entscheidend gefördert. In den 1840er Jahren und insbesondere nach der Bundesstaatsgründung 1848 führte dies zu einer teils freiwilligen, teils unfreiwilligen gesellschaftlich-kulturellen Isolation der konservativen Katholiken auf nationaler Ebene («Rückzug ins Ghetto») und zu einer Rekonfessionalisierung auf beiden Seiten. Die Abschottung gegenüber dem Zeitgeist wurde weltanschaulich verstärkt durch die in der zweiten Jahrhunderthälfte rasch fortschreitende Ultramontanisierung (Ultramontanismus) von Kirche und Katholizismus bei gleichzeitiger innerkirchlicher Ausgrenzung der liberalen Katholiken. Diese Ultramontanisierung ging in den katholisch-konservativen, überwiegend ländlich-agrarisch geprägten Gebieten tendenziell einher mit Rückständigkeit in Wirtschaft, Bildung und Kultur. Die Polarisierung zum städtisch, protestantisch und liberal-industriell geprägten Bürgertum äusserte sich in einem zunächst unterschwelligen, nach dem Ersten Vatikanum 1869-1870 offen ausgetragenen Kulturkampf, welcher in den Kulturkampfkantonen unterschiedliche Grade der Intensität erreichte und dessen führende Vertreter wie beispielsweise in den Kantonen Aargau und St. Gallen nicht selten dem liberalkatholischen Lager angehörten. Während dieses 1873 durch die Abspaltung des Alt-Katholizismus seinen radikalen Flügel verlor (Christkatholische Kirche) und an Bedeutung einbüsste, verstärkte der Kulturkampf den Prozess der Blockbildung. Allerdings sind nach wie vor Wechselwirkungen zu verzeichnen: So bedienten sich die Katholisch-Konservativen für die Vermittlung konservativer Inhalte moderner Mittel wie Presse, Vereine oder Partei, während umgekehrt der Gedanke des Föderalismus oder, nach dem Kulturkampf, der Verzicht auf die Durchsetzung radikal-liberaler Positionen auf staatskirchenrechtlichem Gebiet von der Gesamtgesellschaft übernommen wurden.
Vergleichbar mit Entwicklungen in anderen Ländern entstand eine katholische Sonder- oder Subgesellschaft, die unter Ausnutzung der neuen, durch die Bundesverfassung von 1848 garantierten Freiheitsrechte – und hierin durchaus modern – für nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen und privaten Lebens eigene Institutionen ausbildete. Geschaffen wurde ein spezifisch katholisches Milieu, das nach innen einen hohen Konformitätsdruck erzeugte, sich in religiös-sittlicher Hinsicht streng nach den Vorgaben der Kirche richtete und nach aussen selbstbewusste Geschlossenheit demonstrierte. Analog zu deutschen und niederländischen Entwicklungen entstand auf konfessioneller Basis ein vielgestaltiges Vereins- und Verbandswesen (1841 Schweizerischer Studentenverein, 1853 Gesellenverein [Kolpingwerk], 1857 Piusverein, 1863 Inländische Mission, 1901 Caritas), das in den beiden Dachverbänden, dem Schweizerischen Katholischen Volksverein (ab 1905) und dem Schweizerischen Katholischen Frauenbund (1912), sowie dem 1919 gegründeten Christlichsozialen Arbeiterbund zusammengefasst wurde. Dieses Gefüge erwies sich als so stark, dass die 1922 von Papst Pius XI. ins Leben gerufene Katholische Aktion sich in der deutschsprachigen Schweiz trotz bischöflicher Förderung nicht durchzusetzen vermochte. Ins Netzwerk der katholischen Vereine waren auch die Jugendorganisationen Blauring und Jungwacht, die in der Zwischenkriegszeit im Kontext der aus Deutschland stammenden katholischen Jugendbewegung entstanden, sowie katholische Abteilungen der Pfadfinder eingebunden. Im Bereich der Kommunikation ergänzte der Aufbau einer katholischen Presse das Vereinswesen, im Bereich der Bildung der weitere Ausbau katholischer Gymnasien (vielfach unter Führung neu entstehender Kongregationen) und die 1889 gegründete, kantonale katholische Universität Freiburg, im Bereich der Politik die 1912 gegründete Konservative Volkspartei (heute Christlichdemokratische Volkspartei). Integrierender Bestandteil dieses politischen Katholizismus bildeten wichtige, oft zukunftsweisende soziale Initiativen, die sich inhaltlich auf die katholische Soziallehre abstützten (Christlichsoziale Bewegung).
Die politische – nicht die kulturelle und intellektuelle – Integration der konservativen Katholiken in den Bundesstaat begann mit der Rückeroberung der politischen Herrschaft in den ehemaligen Sonderbundskantonen, in denen sie nach kurzem Unterbruch wieder die gesellschaftsprägende Kraft darstellten, und mit der Wahl des ersten katholisch-konservativen Bundesrats 1891. Sie fand ihren Abschluss in der bürgerlichen Allianz (Bürgerliche Parteien), die sich im Umfeld von Erstem Weltkrieg, Landesstreik (1918) und Abwehrkampf gegen Sozialismus und Sozialdemokratie bildete. Den Höhepunkt hinsichtlich Organisation und milieumässiger Geschlossenheit erlebte die katholische Sondergesellschaft in der Zwischenkriegszeit, was unter anderem in kantonalen und gesamtschweizerischen Katholikentagen zum Ausdruck kam.
Jüngste Entwicklung
Der gesamtgesellschaftliche Wandel, der in den 1950er Jahren in der Schweiz wie in den übrigen westlichen Industriestaaten einsetzte und durch eine rasche industrielle, wirtschaftliche und soziale Entwicklung gekennzeichnet ist, führte nach 1950 zu ersten Erosionserscheinungen in der katholischen Diaspora, nach 1960 innert weniger Jahre zur Auflösung des katholischen Milieus und zur Entflechtung von Kirche und Politik. Der heutige schweizerische Katholizismus basiert auf der innerkirchlichen und theologischen Neuausrichtung des Zweiten Vatikanischen Konzils 1962-1965 und der Synode 72. Der nachkonziliare Aufbruch war gekennzeichnet durch Reformen vor allem in Seelsorge, Liturgie und Bildung, durch ökumenische Öffnung (Ökumene), Anpassung und Ausbau kirchlicher und staatskirchenrechtlicher Strukturen (Landeskirchen) sowie innerkirchlichem Pluralismus. Anstelle der Geschlossenheit früherer Jahrzehnte prägte Ende des 20. Jahrhunderts ein breites Spektrum von religiösen, kulturellen, sozialen und politischen Meinungen und Positionen das Erscheinungsbild des schweizerischen Katholizismus. Er erscheint in einer Phase des Umbruchs: Ausdruck davon sind unter anderem die abnehmende bzw. sich lockernde Kirchenbindung eines Teils der Gläubigen, die Nivellierung des konfessionellen Bewusstseins, die schwieriger gewordene religiös-kirchliche Sozialisation und ein wachsendes Interesse für Formen ausserkirchlicher Religiosität – dies vor dem Hintergrund einer rasch fortschreitenden Säkularisierung von Staat und Gesellschaft bei gleichzeitiger Individualisierung religiöser und ethischer Haltungen.
Quellen und Literatur
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- Weibel, Rolf: Schweizer Katholizismus heute. Strukturen, Aufgaben, Organisationen der Römisch-katholischen Kirche, 1989.
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- Altermatt, Urs (Hg.): Schweizer Katholizismus im Umbruch 1945-1990, 1993.
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