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Kriminalität

Kriminalität umfasst alle Handlungen, die in einer Gesellschaft als einer Bestrafung würdig erachtet werden. Die Eruierung der Gründe, die zu geahndetem devianten Handeln führen, ist Gegenstand der Kriminologie. Je nach Forschungsansatz wird Kriminalität verschieden definiert: als Reflex der sozioökonomischen Entwicklung, als Schauplatz sozialer Konflikte, als Resultat der Kriminalisierung. Dem steht die mögliche Bandbreite dessen, was in einer Gesellschaft – auch aufgrund historischer Veränderungen – als kriminell eingestuft wird, in nichts nach (Strafrecht). Ohne Berücksichtigung der ausgeübten Herrschaftsformen kann Kriminalität nicht angemessen verstanden werden.

Mittelalter und frühe Neuzeit

Hinrichtung von Verbrechern im elsässischen Herrlisheim, 1373. Illustration von 1485 in der Spiezer Chronik Diebold Schillings (Burgerbibliothek Bern, Mss.h.h.I.16, S. 401).
Hinrichtung von Verbrechern im elsässischen Herrlisheim, 1373. Illustration von 1485 in der Spiezer Chronik Diebold Schillings (Burgerbibliothek Bern, Mss.h.h.I.16, S. 401). […]

Mit der Entstehung der städtischen Territorien und Länderorte im Spätmittelalter und der Ausbildung frühmoderner Staatlichkeit und des Gerichtswesens in der frühen Neuzeit wurde die Verfolgung und Bestrafung von Kriminalität zu einer obrigkeitlichen Aufgabe. Während Kapitalverbrechen mit Strafen an Leib und Leben, allenfalls mit Verbannung geahndet wurden (Landesverweisung), zogen die übrigen Vergehen, die den grössten Teil der Straffälle ausmachten, Bussen nach sich. Die Schweiz bildete allerdings keinen einheitlichen Rechtsraum, sondern kannte eine Vielzahl regionaler und lokaler Rechtstraditionen und Rechtspraxen. Mit Ausnahme von Hexerei (Hexenwesen), Kindsmord und Unzucht wurden bei fast allen Delikten überwiegend Männer angeklagt und verurteilt. Bei den Kapitalverbrechen dominierten die Eigentumsdelikte. Entsprechend wurden die meisten Todesurteile (Todesstrafe) wegen Diebstahls verhängt, während Hinrichtungen wegen Mordes und Totschlags viel seltener erfolgten.

Todesurteile in Zürich und Luzern, 15.-18. Jahrhundert

Zeitraum ZürichLuzerna
15. Jh. 383 (20)b-
16. Jh. 569 (73)265 (80)c
17. Jh. 327 (93)354 (135)
18. Jh. 145 (52)92 (23)
Todesurteile nach Delikten, 16.-18. Jahrhundert
Zürich Luzerna
Diebstahl527 Diebstahl301
Sexualdelikte234 Hexerei120
Gotteslästerung102 Sexualdelikte74
Mord/Totschlag95 Mord/Totschlag48
Ehebruch79 Aufruhr12
Hexerei66 Kindsmord11
Kindsmord56   
Aufruhr9   

a Die Angaben von Harrer bzw. Pfyffer für Luzern weichen stark von einander ab, sie sind mit entsprechender Vorsicht zu behandeln.

b Anteil Frauen in Klammern.

c Zahlen erst ab 1551 greifbar.

Todesurteile in Zürich und Luzern, 15.-18. Jahrhundert -  Meyer von Knonau, Gerold Ludwig: Der Canton Zürich, Band 2, 1846; Pfyffer von Altishofen, Kasimir: Der Canton Luzern, Band 1, 1858; Harrer, Michael: "Statistik der Hinrichtungen in Luzern von 1551 bis 1798", in: Manser, Jürg et al. (Hg.): Richtstätte und Wasenplatz in Emmenbrücke, Band 2, 1992, S. 233-242; Geschichte des Kantons Zürich, 3 Bände, 1994-1996.

Erst im Spätmittelalter oder in der frühen Neuzeit wurden Kindsmord und Hexerei, Sodomie (Homosexualität) und Bestialität (Zoophilie) – Letztere beide als Sexualdelikte – definiert, unter Strafe gestellt oder zu Kapitalverbrechen erklärt. Ihre Verfolgung verschärfte sich im 16. Jahrhundert und erreichte im 17. Jahrhundert den Höhepunkt. Verschiedene Schweizer Regionen spielten gesamteuropäisch für die Definition und Verfolgung der Hexerei eine zentrale Rolle. In der Diözese Lausanne wurden die ersten Prozesse gegen Hexen geführt, das Bernbiet und Luzern beschleunigten die Ablösung des mittelalterlichen Zaubereiverfahrens durch die Hexenprozesse, und das Waadtland zeichnete sich durch die intensivste Verfolgung und die höchsten Hinrichtungszahlen in Europa aus. Allgemein ist die schwere Kriminalität durch grosse strukturelle Konstanz, aber auch durch erhebliche regionale Unterschiede und stark schwankende Verfolgungskonjunkturen vor allem bei Delikten im Bereich von Sexualität, Moral und Religion gekennzeichnet. Im 18. Jahrhundert sanken die Hinrichtungszahlen gesamtschweizerisch drastisch. Zugleich erfolgte im Zuge aufklärerischer Debatten etwa in Genf eine Umorientierung von einer standesbezogenen Beurteilung von Taten zu einer am Prinzip der Rechtsgleichheit orientierten Strafverfolgung.

Im Unterschied zu den Kapitalverbrechen dominierten bei Delikten, die meist mit Bussen bestraft wurden, Vergehen gegen Personen (Schelt- und Schlaghändel), die von einer Vielzahl von Gerichten abgeurteilt wurden. Die verhängten Strafen dienten weniger der Ausgrenzung als der Friedenssicherung und der Wiederherstellung der Ehre der Betroffenen. Im Bereich dieser Kleinkriminalität zeichnete sich beispielsweise in Neuenburg seit dem 18. Jahrhundert eine Zunahme der Eigentumsdelikte ab. Als neues Feld obrigkeitlicher Strafpolitik setzte sich seit der Reformation und verstärkt seit Ende des 16. Jahrhunderts, ausgehend von Zürich, in reformierten, dann auch in katholischen Regionen, eine zunehmend repressive Moralpolitik durch, die sich in den Ehe- und Sittengerichten neue, weltliche Organe zur Verfolgung schuf, deren Erfolg sowohl in zeitlicher als auch regionaler Hinsicht unterschiedlich beurteilt wird. An Stelle der gerichtlichen Auseinandersetzung zwischen den Prozessparteien trat mit der Entstehung des frühmodernen Staates das obrigkeitliche Gericht, was zu einer Ausdehnung und Verschärfung der öffentlichen Ehrenstrafen wie etwa des Prangers, der Trülle oder des Halseisens führte. Insbesondere Delikte gegen obrigkeitliche Mandate zogen eine Verfolgung nach sich. Marginalisiert wurden vor allem die fremden Bettler (Bettelwesen, Randgruppen). Diese Kriminalisierungsbestrebungen fanden ihren Höhepunkt in den Bettlerjagden des 18. Jahrhunderts. Gleichzeitig verschärfte sich auch in anderen Bereichen der Strafverfolgung die Repression gegenüber sozioökonomisch Schwachen, etwa den ledigen Müttern. Die Bussengerichtsbarkeit hatte neben ihrem sanktionierenden Charakter auch eine Bedeutung als Einkommensquelle des vormodernen Staates. Deshalb ist die Interpretation wachsender Busseneingänge als Zeichen zunehmender Kriminalisierung der Gesellschaft (v.a. in Krisenzeiten) mit Vorsicht aufzunehmen. Kennzeichnend ist für das Spätmittelalter wie für die frühe Neuzeit die Furcht der Obrigkeiten vor politischem Widerstand.

Hinrichtung von Rosine Graetz 1731. Anonyme Flugschrift, gedruckt in Zürich (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv).
Hinrichtung von Rosine Graetz 1731. Anonyme Flugschrift, gedruckt in Zürich (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv). […]

Gesamthaft erweist sich die Delinquenz, wie sie in Gerichtsquellen fassbar ist, als höchst heterogenes Phänomen, das sowohl die integrativen wie auch die marginalisierenden Tendenzen vormoderner Herrschaft sichtbar macht. Die Forschungslage ist durch grosse Lücken gekennzeichnet, generalisierende Aussagen sind schwierig. Entsprechend liegen auch keine zufriedenstellenden Interpretationen für den markanten Wechsel von den Eigentumsdelikten zu den Verbrechen gegen Personen im Bereich der Kapitalverbrechen und von den Ehr- und Körperverletzungen zur Eigentumsdelinquenz im Bereich der Vergehen vor.

19. und 20. Jahrhundert

Darstellung eines Tatorts in Genf. Aquarellierte Federzeichnung, 1848 (Privatsammlung; Fotografie Bibliothèque de Genève, Archives A. & G. Zimmermann).
Darstellung eines Tatorts in Genf. Aquarellierte Federzeichnung, 1848 (Privatsammlung; Fotografie Bibliothèque de Genève, Archives A. & G. Zimmermann). […]

Auch zur Kriminalitätsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts ist der Forschungsstand lückenhaft. Die Erhebung von Kriminalitätsdaten ist für das 19. Jahrhundert mit grossen methodischen Schwierigkeiten verbunden, obwohl in vielen Kantonen Gerichtsakten und amtliche Statistiken überliefert sind. Sie basieren jedoch auf uneinheitlichen Kriterien der Strafverfolgung bzw. der Datenerfassung und eignen sich deshalb nur beschränkt für Erhebungen, die grössere Zeiträume abdecken. Was als kriminelles Verhalten eingestuft, verfolgt und sanktioniert wird, hängt zudem von der Entwicklung des Strafrechts, von unterschiedlichen moralischen Einstellungen und Bedrohungsängsten, Machtverhältnissen und örtlichen Gegebenheiten ab. Eine schweizerische Verurteiltenstatistik wurde erstmals 1929 erhoben, doch die Voraussetzungen für eine einheitliche Kriminalitätsstatistik schuf erst die Einführung des schweizerischen Strafgesetzbuches 1942. Die nach wie vor der kantonalen Hoheit unterstehende Tätigkeit der Polizei wird seit 1982 in der polizeilichen Kriminalstatistik erfasst.

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war im entstehenden Bürgertum die Angst vor Rechtsverletzungen gross. Die Verelendung breiter Bevölkerungsschichten (Pauperismus) kollidierte im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts mit der strafrechtlichen Durchsetzung des liberalen Eigentumsbegriffs (Eigentum), was am Beispiel des verbreiteten Delikts des Holzfrevels deutlich erkennbar ist. Auch kleinere Delikte wie Lebensmitteldiebstähle und leichte Betrügereien wurden zu den schweren Verbrechen wie Mord und Totschlag, Vergewaltigung, Raub und Brandstiftung gerechnet. Deutlich schlägt sich in den Urteilsstatistiken die Kriminalisierung der Armut nieder. Als neu geschaffene oder härter verfolgte Straftaten korrelieren Bettel, Prostitution und Nicht-Sesshaftigkeit (Fahrende) mit dem generellen Anstieg der registrierten Delikte. Amtsgerichtsdaten aus Bern zeigen, dass sich die Angeklagtenraten zwischen 1805 und 1847 fast vervierfachten. 85-90% der Fälle waren Eigentumsdelikte. Diese zunehmende Delinquenz ist ein Indikator für gesellschaftlichen Wandel und damit einhergehende soziale Konflikte.

Die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts ansteigende Zahl registrierter Delikte ist zudem Ergebnis einer perfektionierten Strafverfolgung und des Entstehens einer modernen Kriminalpolitik. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stieg die Kriminalität während der Krisen- und Kriegsjahre an. Während des Zweiten Weltkriegs sanken die Ziffern zunächst, stiegen dann aber stark an, was auf die Tätigkeit der Militärgerichtsbarkeit und die Schaffung neuer ziviler Straftatbestände wie illegaler Grenzübertritt, Fluchthilfe und Gerüchtemacherei zurückzuführen ist, die ebenfalls der Militärjustiz unterworfen waren. Dass die schweizerische Nachkriegskriminalität im Unterschied zum europäischen Ausland ein niedrigeres Niveau aufweise, was mit der günstigen wirtschaftlichen Lage erklärt wird, kann wegen fehlender Daten nicht belegt werden. Auch lässt sich die Behauptung nicht aufrechterhalten, dass sich in der Schweiz aufgrund der besonders gearteten sozialen Kontrolle – und trotz ihrer vergleichsweise starken Urbanisierung und Industrialisierung – eine bemerkenswert tiefe Kriminalitätsrate feststellen lasse. Neuen Studien zufolge liegt diese in den Schweizer Städten längst im westeuropäischen Mittelfeld. Nach dem drastischen Rückgang der Tötungsdelikte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ist seit den 1960er Jahren wieder ein Anstieg zu verzeichnen, der sich deutlich auf die urbanisierten Gebiete bezieht.

In den letzten Jahrzehnten stehen Verkehrsdelikte an der Spitze der gesamtschweizerisch registrierten Verurteilungen (1996 53%, 2006 54%), gefolgt von Verstössen gegen das Strafgesetzbuch (1996 30%, 2006 31%), wobei hier Vermögens- und Eigentumsdelikte rund die Hälfte ausmachen. Die unterschiedliche polizeiliche Ermittlungstätigkeit und Gerichtspraxis führt zu deutlichen kantonalen Differenzen in der Deliktstruktur (während beispielsweise im Kanton Genf 41% der Verurteilungen nach dem Strafgesetzbuch ausgesprochen werden, sind es im Kanton Uri nur 9%). Es werden deutlich mehr männliche als weibliche Straftäter und mehr jüngere als ältere ermittelt. Auffallend ist die unterschiedliche Deliktstruktur von Männern und Frauen und der seit Anfang des 19. Jahrhunderts rückläufige Frauenanteil. Bezieht man sich ausschliesslich auf die Wohnbevölkerung (also nicht auf Touristen und Durchreisende), so ist der Unterschied zwischen Ausländern und Schweizern verhältnismässig gering. In letzter Zeit richtete sich das öffentliche Interesse verstärkt auf die Beschaffungskriminalität von Drogenkonsumenten, die grenzübergreifende organisierte Kriminalität sowie die Wirtschaftskriminalität. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts beschäftigten verschiedene Aspekte der Jugenddelinquenz Justiz, Politik und Medien.

Quellen und Literatur

  • HistStat
  • StJ
Mittelalter und frühe Neuzeit
  • A.-M. Dubler, Armen- und Bettlerwesen in der Gemeinen Herrschaft "Freie Ämter", 1970
  • P. Henry, Crime, justice et société dans la principauté de Neuchâtel au XVIIIe siècle, 1984
  • A. Blauert, Frühe Hexenverfolgungen, 1989
  • S. Burghartz, Leib, Ehre und Gut, 1990
  • N. Bartlome, «Zur Bussenpraxis in der Landvogtei Willisau im 17. Jh.», in JHGL 11, 1993, 2-15
  • M. Porret, Le crime et ses circonstances, 1995
  • H.R. Schmidt, Dorf und Religion, 1995
  • P.J. Gyger, L'épée et la corde, 1998
  • G. Bernasconi, Entre indulgence et répression, Liz. Genf, 2000
  • S. Malamud, Die Ächtung des "Bösen", 2003
19. und 20. Jahrhundert
  • H. Schulz, «Die Kriminalität in der Schweiz in den Jahren 1929-52», in Schweiz. Zs.f. Strafrecht 69, 1954, 121-177
  • Bibl. zur Schweiz. Kriminalstatistik, 1985
  • M. Leuenberger, Mitgegangen – Mitgehangen, 1989
  • M. Eisner, «Gewaltkriminalität und Stadtentwicklung in der Schweiz», in Schweiz. Zs.f. Soziologie 20, 1994, 179-204
  • R.M. Ludi, Die Fabrikation des Verbrechens, 1999
Weblinks

Zitiervorschlag

Susanna Burghartz; Cornelius Helmes-Conzett: "Kriminalität", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 04.11.2008. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016556/2008-11-04/, konsultiert am 29.03.2024.