de fr it

Behinderte

Als Bezeichnung für Menschen mit beeinträchtigten körperlichen, sinnesmässigen, geistigen oder psychischen Fähigkeiten hat sich der Begriff Behinderte erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchgesetzt – unter Einfluss der Behinderten- oder Sonderpädagogik einerseits und der sozialpolitischen Massnahmen zugunsten dieser Personengruppe andererseits. Der Begriff betont das Defizit eines Menschen und impliziert eine Einheitlichkeit der gesellschaftlichen Einstellungen zu den Behinderungsarten, die allerdings nicht der historischen Realität entspricht. Angemessener wäre es, von «Menschen mit einer Behinderung» zu sprechen.

In früheren Zeiten wurden Behinderte entweder nach der Art des Gebrechens mit zum Teil abwertenden Begriffen (Krüppel, Narr) oder nach breiteren Kriterien (arm, krank, bedürftig) benannt. Einäugige oder gehbehinderte Gottheiten aus der germanischen, griechischen und römischen Mythologie zeugen davon, dass Behinderungen in diesen Kulturen, je nach kulturellem Kontext unterschiedlich, thematisiert wurden. Im Gebiet der Schweiz lässt sich die Geschichte von Behinderten erst vom ausgehenden Mittelalter an nachzeichnen. Immer wieder erstaunten Behinderte als armlose Schreiber, blinde Musiker oder taubstumme Maler ihre Umgebung mit Fähigkeiten, die sie trotz oder wegen ihrer Behinderung besassen. Die bereits in den mittelalterlichen Städten verbreitete Arbeitsteilung erlaubte vor allem Menschen mit einer Gehbehinderung ein Auskommen in gewissen handwerklichen Berufen. Doch die Mehrheit der Behinderten war seit jeher auf gesellschaftliche Unterstützung angewiesen. Die mittelalterliche Almosenlehre wies den behinderten Bettlern (Bettelwesen) als Objekte der Caritas einen Platz in der Gesellschaft zu. In den Städten konnten sie, sofern sie Bürger oder zumindest ortsansässig und die Ursachen der Behinderung nicht unehrenhaft waren (z.B. verstümmelnde Leibesstrafen, die vor allem im Spätmittelalter vollzogen wurden), durchaus zu einem Existenz sichernden Einkommen gelangen. Doch viele Behinderte waren als umherziehende Bettler zu einem ehr- und rechtlosen Dasein gezwungen (Randgruppen). Als Schau-Behinderte auf Jahrmärkten, als Hofnarren, durch Mitleid erregendes Ausstellen ihrer Gebrechen vor Kirchen oder mit allerhand Betteltricks mussten sie sich durchs Leben schlagen. Während im Mittelalter Behinderte einen obrigkeitlich geschützten und zum Teil mit Bettelbriefen geförderten Anspruch auf Almosen hatten, versuchten die Behörden vom 16. Jahrhundert an, das Betteln zu verbieten. Die Bemühungen, auch behinderte Bettler aus dem Strassenbild zu bannen, indem man sie zur Arbeit anhielt, in Spitäler aufnahm oder sie auf die knappe Unterstützung in ihrer Gemeinde (Fürsorge) verwies, hatten wenig Erfolg: Das Betteln blieb für viele Behinderte die einzige Möglichkeit, um zu überleben.

Kranke und Behinderte werden zu einer Thermalkur gebracht. Xylografie, eingeklebt in die Chronik des Chorherrn Johann Jakob Wick, 16. Jahrhundert (Zentralbibliothek Zürich, Handschriftenabteilung, Wickiana, Ms. F 13, Fol. 85r).
Kranke und Behinderte werden zu einer Thermalkur gebracht. Xylografie, eingeklebt in die Chronik des Chorherrn Johann Jakob Wick, 16. Jahrhundert (Zentralbibliothek Zürich, Handschriftenabteilung, Wickiana, Ms. F 13, Fol. 85r).

Die Betreuung der Behinderten war in erster Linie Sache ihrer Angehörigen, die auch für die Kosten aufkommen mussten, wenn sie die Behinderten in einem Spital verpfründeten. Konnten die Angehörigen ihrer Aufgabe nicht nachkommen, galt schon im späten Mittelalter als Norm, dass Bedürftige von ihren Gemeinden unterstützt werden sollten. Die Leistungen waren unterschiedlich, beschränkten sich aber auf gelegentliche Geldspenden, die Austeilung von Mahlzeiten und Lebensmitteln oder die Gewährung von Spitalpfründen. Städte und Dorfgemeinden sorgten vor allem dafür, dass sie nur ansässigen Bedürftigen helfen mussten. Ortsfremde Bettler wurden vertrieben, auch wenn sie behindert waren.

Die Industrialisierung führte durch Kinderarbeit, die schlechten Arbeitsbedingungen oder Unfälle in den Fabriken zu neuen Behinderungsursachen. Gleichzeitig wurde der Gedanke der gegenseitigen Hilfe im Falle einer behinderungsbedingten Erwerbsunfähigkeit, der in Ansätzen bereits im mittelalterlichen Zunft- und Bruderschaftswesen ausgebildet war, für die Gründung von Kranken-, Invaliden- und Sterbe-Kassen bestimmend, die in Fabriken, Gewerbezweigen oder einzelnen Quartieren entstanden und ihre behinderten Mitglieder zum Teil lebenslang finanziell unterstützten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Forderung nach einer Invalidenversicherung (IV) im Rahmen der Alters- und Hinterlassenenversicherung laut und 1919 im Parlament, mit negativem Ausgang, diskutiert. Im darauffolgenden Jahr gründeten jedoch verschiedene in der Behindertenfürsorge tätige Gruppen und Vereine die Schweizerische Vereinigung für Anormale (seit 1935 Pro Infirmis) als Dachverband. Bis zur Einführung der Eidgenössischen Invalidenversicherung 1960 leistete Pro Infirmis vor allem finanzielle Hilfe, zum Teil mit Bundesgeldern. Die IV versucht, die finanziellen Folgen behinderungsbedingter Erwerbsunfähigkeit mittels einer Rente oder der Eingliederung Behinderter ins Erwerbsleben durch berufliche Ausbildung oder Umschulung zu lindern.

Frauen bei der Bürstenherstellung in einer Blindenwerkstätte zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Eidgenössisches Archiv für Denkmalpflege, Sammlung Hugger).
Frauen bei der Bürstenherstellung in einer Blindenwerkstätte zu Beginn des 20. Jahrhunderts (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern, Eidgenössisches Archiv für Denkmalpflege, Sammlung Hugger). […]

Bereits im 17. Jahrhundert kam in der Schweiz die Idee auf, Taubstumme gezielt zu fördern. In die Tat umgesetzt wurde sie jedoch erst 1777 mit der Gründung einer Taubstummenanstalt in Schlieren. Um 1800 wurde in kantonalen Zählungen das Bedürfnis nach einer gezielten Schulung von Sinnes-Behinderten nachgewiesen. Durch private und religiös motivierte Initiative entstanden Anfang des 19. Jahrhunderts weitere Institutionen zur Förderung behinderter Kinder (Anstaltswesen). Den Anstalten für Sinnes-Behinderte (Blindenschule in Zürich, 1809) folgten im Verlauf des Jahrhunderts weitere für geistig (Anstalt für kretine Kinder bei Interlaken, 1840) und später auch für körperlich behinderte Kinder (Mathilde-Escher-Heim in Zürich, 1864). Behinderte waren von der allgemeinen Schulpflicht ausgenommen und blieben auf private Förderung angewiesen. Erst die Finanzierung durch die IV ermöglichte den Ausbau eines umfassenden Sonderschulnetzes (Hilfs- und Sonderschulen) für Behinderte, das durch die aktuelle Integrationsdiskussion wieder in Frage gestellt wird.

Plakat für die Pro Infirmis. Lithografie von Hans Falk, 1948 (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Plakat für die Pro Infirmis. Lithografie von Hans Falk, 1948 (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).

Die Geschichte der Behinderten ist weitgehend eine Geschichte ihrer Ausgrenzung. Im Mittelalter wurden gewisse Behinderungsarten mit dem Wirken teuflischer bzw. überirdischer Kräfte in Verbindung gebracht. Abergläubische Vorstellungen über Behinderte reichen bis ins 20. Jahrhundert hinein. Uralt ist das Motiv des Behindertenspotts, das bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann. Eine explizite Diskriminierung erfuhren Behinderte auch durch das kanonische Recht, das sie von der kirchlichen Laufbahn ausschloss. Die aus der griechischen Antike stammende Physiognomielehre, die einen Zusammenhang zwischen Aussehen und moralischen Eigenschaften einer Person herstellt, prägte die Situation Behinderter in grossem Ausmass. Hinweise auf die Aussetzung (Kindesaussetzung) oder Tötung (Kindesmord) behinderter Neugeborener finden sich in Mittelalter und Neuzeit. Unter dem Einfluss der Rassenlehre wurden auch in der Schweiz eugenisch begründete Sterilisationen von geistig und psychisch Behinderten vorgenommen (Eugenik): Das waadtländische Sterilisationsgesetz von 1928 war das erste dieser Art in Europa. Auch heute wird durch die Diskussion um pränatale Diagnostik und Euthanasie das Lebensrecht schwer geburtsbehinderter Menschen in Frage gestellt. Neu ist allerdings, dass Behinderte in diese Diskussion eingreifen und sich zur Wehr setzen. In verschiedenen Vereinigungen, Verbänden, Stiftungen, Selbsthilfe- und Arbeitsgemeinschaften organisiert, vertreten sie Forderungen nach einer Existenz sichernden IV-Rente, einem heimexternen, selbstbestimmten Leben und wehren sich gegen die vielfältigen Formen ihrer Diskriminierung. Die neue BV trug diesem Anliegen Rechnung und verankerte im Artikel 8 Abschnitte 2 und 4 das Diskriminierungsverbot von körperlich, geistig oder psychisch Behinderten sowie Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen von Behinderten. Dem Abbau von Lebenserschwernissen und der Förderung der gesellschaftlichen Integration Behinderter dienen unter anderem Ausbildungs-, Eingliederungs-, Beschäftigungs- und geschützte Werkstätten, der Einsatz für behindertengerechtes Bauen und der zum Teil breite Beachtung findende Behindertensport.

Demonstration in Bern am 6. Juni 1979 (Interfoto, Genf).
Demonstration in Bern am 6. Juni 1979 (Interfoto, Genf). […]

Quellen und Literatur

  • H.J. UtherBehinderte in populären Erzählungen, 1981
  • W. Fandrey, Krüppel, Idioten, Irre: zur Sozialgesch. behinderter Menschen in Deutschland, 1990
  • C. WolfisbergBehinderte im SpätMA, Liz. Zürich, 1995
  • C. Wolfisberg, Heilpädagogik und Eugenik. Zur Gesch. der Heilpädagogik in der deutschsprachigen Schweiz (1800-1950), 2002
  • Traverse, 2006, H. 3
Weblinks

Zitiervorschlag

Carlo Wolfisberg: "Behinderte", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 01.12.2006. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016599/2006-12-01/, konsultiert am 28.03.2024.