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Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV)

Abstimmung vom 6. Juli 1947. Plakat von Hans Erni für die AHV (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Abstimmung vom 6. Juli 1947. Plakat von Hans Erni für die AHV (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).

Die AHV nahm ihre Tätigkeit als bedeutendster Zweig der schweizerischen Sozialversicherungen 1948 auf. Sie zahlt Männern und Frauen beim Erreichen einer durch das Gesetz bestimmten Altersgrenze sowie Hinterlassenen (Witwen, Waisen) Renten. Lange blieb sie als wichtigste politische Errungenschaft der Nachkriegszeit, ja sogar als Element der schweizerischen Identität, prinzipiell unbestritten. Erst in jüngster Zeit findet Grundsatzkritik ein gewisses Echo.

Vorgeschichte

Die Ausbreitung der Lohnarbeit, die wachsende Mobilität der Arbeitskräfte und eine steigende Lebenserwartung (Alter) höhlten hergebrachte Formen der Altersvorsorge aus, was die Fürsorge erheblich belastete. Als sich die Ansichten über Armut im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts differenzierten, entstanden auch Pläne zur Überwindung der verbreiteten Altersarmut. Einfluss gewann vor allem die Debatte in Deutschland, die dort 1889 zur öffentlich-rechtlichen Invaliditäts- und Altersversicherung führte. Die Idee nahmen in der Schweiz unter anderem der Arbeitertag 1883 und der Grütliverein 1886 auf. Bei der Beratung von Artikel 34bis der Bundesverfassung (BV) im März 1890 wollte die parlamentarische Kommission zunächst nicht nur die Kompetenz für die Krankenversicherung und die Unfallversicherung, sondern auch für weitere Sozialversicherungen, zum Beispiel die Altersversicherung, festschreiben, wich jedoch schliesslich dem Druck des Bundesrats.

Plakat für die Abstimmung vom 24. Mai 1925 von Carl Scherer (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Plakat für die Abstimmung vom 24. Mai 1925 von Carl Scherer (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).

Die Schwierigkeiten mit dem Kranken- und Unfallversicherungsgesetz (KUVG) verdrängten für über zwei Jahrzehnte alle AHV-Pläne. Erst 1912 wurden diese im Nationalrat aufgrund einer Motion von Otto Weber wieder aufgenommen. Im Gefolge der sozialen Unrast tauchte die Forderung 1918 auf verschiedenen Ebenen auf, vom Programm der Jungfreisinnigen bis zu den Landesstreik-Forderungen des Oltener Aktionskomitees. Der Bundesrat setzte Anfang 1919 eine Expertenkommission ein und veröffentlichte im Juni seine Botschaft. Der freisinnige Basler Nationalrat Christian Rothenberger, der im November 1918 erfolglos vorgeschlagen hatte, aus dem Ertrag der Kriegsgewinnsteuer einen Fonds für Sozialversicherung zu äufnen, lancierte eine entsprechende Initiative, die am 24. Mai 1925 über 40% der Stimmen erreichte. Am 6. Dezember 1925 bejahten die Stimmberechtigten mit klarer Mehrheit den Artikel 34quater BV, der die Verpflichtung zur Schaffung einer AHV und die Kompetenz zur Einrichtung einer Invalidenversicherung (IV) beinhaltete. Ein Gesetz, das unter anderem das Umlageverfahren, öffentliche Kassen, das allgemeine Obligatorium, Einheitsprämien und äusserst bescheidene Einheitsrenten ab dem Jahr vorsah, in dem das 66. Altersjahr zurückgelegt wurde, scheiterte in der Volksabstimmung vom 6. Dezember 1931 deutlich. Bis zum Zweiten Weltkrieg verfügten viele europäische Industriestaaten bereits über Rentenversicherungen. In der Schweiz existierten obligatorische Altersversicherungen nur in Glarus (1916), Appenzell Ausserrhoden (1925) und Basel-Stadt (1932) sowie freiwillige in Neuenburg (1898) und Waadt (1907). Unter dem Vollmachtenregime beschloss der Bundesrat am 20. Dezember 1939 die Einrichtung der Lohnersatz-Ordnung für Wehrmänner (LVEO, später Erwerbsersatzordnung, EO), die sich mit je zwei Lohnprozenten von Arbeitnehmern und Arbeitgebern sowie einem Bundesbeitrag finanzierte und deren Organisation auf Ausgleichskassen baute.

"Für die Witwen und Waisen, für die Alten: JA". Plakat für die Abstimmung vom 6. Dezember 1931 von Jules-Ami Courvoisier (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
"Für die Witwen und Waisen, für die Alten: JA". Plakat für die Abstimmung vom 6. Dezember 1931 von Jules-Ami Courvoisier (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).

Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) forderte 1940, dieses System zu gegebener Zeit in eine AHV zu überführen. Ein im Wesentlichen von Arbeitnehmerverbänden und der Sozialdemokratischen Partei (SP), aber auch von der Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP) getragenes Komitee reichte 1942 in diesem Sinne eine Initiative ein. Abseits standen gewerbliche, bäuerliche, katholische und Arbeitgeber-Organisationen. Die erst im Mai 1944 eingesetzte Expertenkommission legte schon im März 1945 ihren Bericht vor. Dieser sah das Rentenalter 65, abgestufte Renten, Ausgleichskassen, eine Finanzierung schwergewichtig nach dem Umlageverfahren und über Lohnprozente sowie ein Obligatorium für sämtliche in der Schweiz niedergelassenen natürlichen Personen und für jene Auslandschweizer vor, die bei in der Schweiz domizilierten Arbeitgebern angestellt waren. Weil die LVEO nach Beendigung des Aktivdienstes wegfiel, war für 1946-1947 eine Übergangsordnung nötig. Für die AHV hielten sich Bundesrat und Parlament weitgehend an den Experten-Entwurf. Am 20. Dezember 1946 billigten beide Kammern das Gesetz mit wenigen Gegenstimmen. Das von Rechtsliberalen ergriffene und von Unternehmer- und katholisch-konservativen, nicht aber christlichsozialen Kreisen unterstützte Referendum scheiterte am 6. Juli 1947 im Verhältnis von 4 zu 1, womit das AHV-Gesetz am 1. Januar 1948 in Kraft treten konnte.

Die Entwicklung der AHV seit 1948

Seit ihrer Einführung stand die AHV mehrmals im Zentrum der politischen Auseinandersetzung. Das Gesetz unterlag nebst kleineren Änderungen nicht weniger als zehn Revisionen. In den vier Revisionen der 1950er Jahre (1950, 1953, 1955, 1956) wurden vor allem die ungenügenden Renten angehoben (2. und 4. Revision), die Lage der vor 1883 geborenen Übergangsgeneration verbessert (1., 2. und 3.), die Beitragspflicht nach dem 65. Altersjahr abgeschafft (2.), das rentenbildende Einkommen erhöht (4.) und das Rentenalter der Frauen auf 63 gesenkt (4.). Danach wuchs der ausserparlamentarische Druck, wurden doch 1958-1970 nicht weniger als acht Initiativen eingereicht, die bei vier Revisionen (1961, 1963, 1968, 1972) den Hintergrund bildeten. Die Renten, die aus der Anzahl der Beitragsjahre und der Höhe des versicherten Erwerbseinkommens errechnet wurden und ein festgelegtes Minimum sowie ein ursprünglich über dreimal, seit 1969 doppelt so hohes Maximum aufweisen, erfuhren mehrere, zum Teil massive Erhöhungen, stiegen aber 1954-1972 nur unwesentlich stärker als die Erwerbseinkommen (AHV-Lohnindex).

Bei der 7. und 8. Revision mussten erstmals die Beitragssätze erhöht werden. Weil die AHV zur Existenzsicherung oft nicht reichte, kamen 1966 von der Bedürftigkeit abhängige Ergänzungsleistungen dazu. Ende der 1960er Jahre erreichte die Forderung nach einer Volkspension (u.a. Initiativen der PdA und der SP) breiten Anklang. Um Gegensteuer zu geben, verabschiedete das Parlament 1972 die 8. Revision mit mehr als einer Verdoppelung der Renten bis 1975. Parallel dazu verlief die Neufassung von Artikel 34quater BV, der 1972 mit der eidgenössischen Versicherung, der beruflichen Vorsorge (Pensionskassen) und der Selbstvorsorge das Dreisäulenkonzept und die angemessene Existenzsicherung durch die AHV festschrieb.

Überblick über die Finanzen der AHV 1948-2000
Überblick über die Finanzen der AHV 1948-2000 […]

Die 9. Revision, im Gegensatz zu den früheren nicht mehr im Zeichen wirtschaftlichen Aufschwungs, brachte 1977 als erste statt Leistungsausbau Konsolidierung und als wichtigste Massnahme die Indexierung der Renten. Erstmals wurde gegen eine AHV-Revision das Referendum ergriffen, allerdings ohne Erfolg. Schliesslich verbesserte die 10. Revision 1994 durch Splitting (vom Zivilstand unabhängiger Rentenanspruch) sowie durch Erziehungs- und Betreuungsgutschriften die Stellung der Frauen, erhöhte aber im Gegenzug deren Rentenalter auf 64 Jahre (wirksam ab 2005). Dem Altersaufbau der Bevölkerung und dem unterschiedlichen Rentenalter entsprechend stellten Frauen ursprünglich über die Hälfte, heute über zwei Drittel der Altersrentner (ohne Ehepaar- und Zusatzrenten).

Die Finanzierung erfolgt hauptsächlich über die Beiträge: Lohnprozente bei Arbeitnehmern, Einkommensprozente bei selbstständiger Erwerbstätigkeit sowie Prämien von Nichterwerbstätigen (Studierende, Frühpensionierte, seit der 10. Revision auch Witwen sowie Ehefrauen von nichterwerbstätigen Männern). Dazu kommen Subventionen des Bundes (vor allem aus Steuern auf Tabak und gebrannten Wassern) und der Kantone, die 1950 ca. 25%, 1990 noch ca. 18% der Einnahmen ausmachten, sowie Zinsen. Die Überschüsse bzw. Defizite (1975-1979, 1996-1999) ergaben bis 2000 ein Kapitalkonto von 22'720 Mio. Franken, was etwa einer Jahresausgabe entspricht. Der Anteil der Kapitaldeckung verlor gegenüber der Umlage zunehmend an Gewicht. Nach wie vor wird die AHV von eidgenössischen, kantonalen, kommunalen sowie ca. 90 privaten Ausgleichskassen gemeinsam verwaltet. In den 1990er Jahren war die politische Debatte vor allem von der Frage geprägt, in welchem Masse das Wirtschaftswachstum den wachsenden Anteil der Rentner an der Bevölkerung finanziell auffangen kann.

Indikatoren zur AHV 1948-2005

JahrABCDEFGH
19484,0   402 108 247 45665 100 100
1950  2 162 306 467    98 102
1954    60      
1955  2 572 480 470  106 117
1957    75   63  
1960  2 732 682 386  112 150
1961    90      
1964  125   62  
1965  3 059 813 243  132 219
1967  138      
19695,2 200  881    
1970  3 157 - 434  156 319
1971  220      
19737,8 400      
19758,4 5003 124 923 -169  226 549
1977  525      
1980  5503 2541 000 170  254 642
1985  6903 4881 061 282  313 805
1990  8003 7731 1342 027  3541 030
1995  9703 8031  222     9  4141 190
2001 1 030   63  
2005     64  

A: Beitragssätze in Lohnprozenten für Unselbständigerwerbende (alle Änderungen); B: Monatsansätze der einfachen minimalen Alters-Vollrenten in Fr. Maximalrenten waren ursprünglich über dreimal, seit 1969 doppelt so hoch (bis 1977 alle Änderungen, danach: Indexierung); C: AHV-Beitragspflichtige in 1000; D: AHV-Rentner in 1000 (1970 keine Erhebung); E: Rechnungssaldo der AHV in Mio. Fr.; F: Rentenalter der Frauen (Männer stets 65); G: Landesindex der Konsumentenpreise; H: AHV-Lohnindex.

Indikatoren zur AHV 1948-2005 -  Zahlenspiegel der sozialen Sicherheit der Schweiz

Quellen und Literatur

  • S. Müller, Entstehung und Entwicklung der AHV von 1945 bis 1978, 1978
  • J. Sommer, Das Ringen um soziale Sicherheit in der Schweiz, 1978
  • A. Berenstein, L'assurance-vieillesse suisse, 1986
  • P. Binswanger, Gesch. der AHV, 1986
  • C. Luchsinger, Solidarität, Selbständigkeit, Bedürftigkeit, 1995
Weblinks

Zitiervorschlag

Bernard Degen: "Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV)", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 13.04.2007. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016611/2007-04-13/, konsultiert am 21.04.2024.