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Jugendunruhen

Die mit Jugendunruhen bezeichneten Ereignisse gründen auf noch mehrheitlich unpolitischen Protestbewegungen, die sich in den 1950er Jahren ankündigten (Halbstarke, Existenzialisten) und sich ab 1965 akzentuierten und gleichzeitig politisierten. Die Revolte war eine internationale Erscheinung, die stark von der amerikanischen Studenten-, Bürgerrechts- und Antikriegsbewegung beeinflusst wurde. In Frankreich ("mai 68"), den USA, Italien, Deutschland und anderen westlichen Industrieländern erreichte sie 1968 ihren Höhepunkt. Als allgemeiner Ausdruck der Unzufriedenheit und des Aufbegehrens gegen etablierte Werte der Jugend, die sich von den alten Parteien abwandte, stellten die Jugendunruhen eine Modernisierungskrise zahlreicher Gesellschaften dar. Obschon die meisten politischen Forderungen der Protestierenden nicht erfüllt wurden, waren die mentalitätsmässigen und kulturellen Folgen der Jugendunruhen von 1968 und 1980-1981 beträchtlich, etwa bezüglich der Öffnung der Lebensstile, der Geschlechterrollen und der Sexualität.

Die Unruhen von 1968

In der Nacht vom 29. auf den 30. Juni 1968 kam es in Zürich vor dem ehemaligen Globus-Gebäude zu schweren Strassenschlachten zwischen Demonstranten, die ein autonomes Jugendzentrum forderten, und der Polizei. Die Studentenbewegung richtete sich gegen die Autorität des Staates und formulierte eine radikale Kritik an der modernen Gesellschaft, ihrem Wirtschaftssystem und an traditionellen Autoritäten (Armee, Kirche, Schule, Eltern). Sie verlangte unter anderem nach partizipativer Politik und nach Solidarität mit der Dritten Welt.

Die Polizei spritzt die Demonstranten des CAC (Comité Action Cinéma) auf der Place de la Palud in Lausanne mit Wasser ab, 25. Mai 1971 (Schweizerisches Nationalmuseum, Actualités suisses Lausanne).
Die Polizei spritzt die Demonstranten des CAC (Comité Action Cinéma) auf der Place de la Palud in Lausanne mit Wasser ab, 25. Mai 1971 (Schweizerisches Nationalmuseum, Actualités suisses Lausanne). […]

In der Schweiz fanden die Proteste in Zürich ihren grössten Widerhall. Aber auch in anderen Schweizer Städten kam es in der Folge von 1968 zu zahlreichen Demonstrationen und Protestaktionen. In Genf wandten sich Gruppen um das Maison des jeunes et de la culture von Saint-Gervais und um ein Gebäude in der Strasse der Prieuré, in Lausanne das Comité action cinéma gegen die traditionelle Kulturpolitik und forderten mehr finanzielle Mittel für die alternative Kultur. Im Tessin wurde das Lehrerseminar in Locarno zum Zentrum des Protests. 1975 erreichte die Mobilisierung ausserhalb der traditionellen Politikkanäle einen vorläufigen Höhepunkt.

Die 1968er Rebellion löste eine Öffnung des politischen Systems und Reformen aus. Nach 1968 engagierten sich Bürgerinnen und Bürger auch ausserhalb der politischen Linken vermehrt in sozialen Bewegungen für ihre Anliegen. In den 1970er Jahren begab sich ein Teil der Aktivisten auf den "langen Marsch" durch die Institutionen. Sie organisierten sich in Gewerkschaften sowie in Parteien der Neuen Linken wie den Progressiven Organisationen (POCH) oder der Revolutionär-Marxistischen Liga. Andere suchten in Wohngemeinschaften und selbstverwalteten Kleinbetrieben alternative Lebensentwürfe zu konkretisieren. Einige wenige radikale Gruppen in der Schweiz unterstützten terroristische Organisationen in Italien und Deutschland (Terrorismus).

Die Unruhen der 1980er Jahre

Fast zeitgleich kam es im Frühjahr 1980 in Amsterdam, Zürich und Berlin zu erneuten Unruhen. Wie die Hausbesetzer in Deutschland, vor allem in Berlin, und die sogenannten Kraker in den Niederlanden forderten Jugendliche in der Schweiz Freiräume ausserhalb der staatlichen Strukturen.

In Zürich organisierte die Aktionsgruppe Rote Fabrik am 31. Mai 1980 eine Demonstration gegen einen Kredit für den geplanten Umbau des Opernhauses. Der Polizeieinsatz gegen die Kundgebung löste den Opernhauskrawall aus. Die Zürcher Protestbewegung kämpfte während fast zwei Jahren, teilweise unterstützt von linken Parteien, Intellektuellen und Künstlern, für den Aufbau eines autonomen Jugendzentrums. Ihre Kritik richtete sich gegen die städtischen Behörden, welche den etablierten Kulturbetrieb mit grossen öffentlichen Mitteln förderten, während für die Jugendlichen nicht ausreichend Räume und Treffpunkte realisiert wurden.

Auch in Basel, Bülach, St. Gallen, Winterthur, Luzern, Zug und weiteren Städten kam es 1980 zu Auseinandersetzungen zwischen Behörden, Polizei und Demonstranten. In Bern und Lausanne (Lôzane bouge) kämpfte die Bewegung ebenfalls für autonome Jugendzentren.

Während die Protestgeneration von 1968 eine Veränderung der ganzen Gesellschaft propagierte, verweigerte sich die 1980er Bewegung weitgehend dem politischen Dialog und setzte sich damit vom theoretisch orientierten Widerstand der Studenten von 1968 ab. Ein Grossteil der bürgerlichen Politiker und der Presse wertete die jugendliche Protestbewegung als das Werk von wenigen theoretisch geschulten Anstiftern und einigen hundert irregeleiteten Mitläufern und "Chaoten" und forderte eine konsequente Durchsetzung der Rechtsordnung gegen die häufig unbewilligten Demonstrationen.

In Zürich wurde das zeitweilig zur Verfügung gestellte autonome Jugendzentrum 1981 wieder geschlossen. Die Protestbewegung, die sich auf eine gewaltsame Auseinandersetzung mit den städtischen Behörden eingelassen hatte, zerfiel 1982 infolge der massiven Repression von Behörden, Justiz und Polizei und der eigenen Verweigerungsstrategie.

Von der 1980er Bewegung gingen zahlreiche Impulse auf Politik, Kunst und Grafik aus; sie sensibilisierte die Gesellschaft für Anliegen der Jugendlichen und förderte den Aufbau von unabhängigen Medien- und Kulturprojekten (Jugendpolitik). Eine kleinere Mobilisierung dieser Bewegung forderte in den 1980er Jahren in Bern die kulturelle Nutzung der städtischen Reitschule. 1985 wurde das Gaswerkareal mit Zelten und Hütten besetzt (Zaffaraya) und zwei Jahre später polizeilich geräumt. In Basel kam es 1988 zu Demonstrationen und zur Besetzung des Geländes der Alten Stadtgärtnerei. In Genf distanzierten sich bürgerliche Politiker zu Beginn der 1980er Jahre vom gewohnheitsmässigen Einsatz harter Polizeimethoden bei Demonstrationen wie in den Städten Bern und Zürich.

Quellen und Literatur

  • Suisse en mouvement, hg. von A. Deriaz et al., 1981
  • A.-C. Menétrey, La vie ... vite: Lausanne bouge 1980-1981, 1982
  • H. Kriesi, Die Zürcher Bewegung, 1984
  • D. Gros, Dissidents du quotidien: la scène alternative genevoise 1968-1987, 1987
  • GKZ 3, 350-458
  • H. Kriesi et al., New Social Movements in Western Europe 5, 1995
  • D. Wisler, Drei Gruppen der Neuen Linken auf der Suche nach der Revolution, 1996
  • A Walk on the Wild Side: Jugendszenen der Schweiz von den 30er Jahren bis heute, Ausstellungskat. Lenzburg, 1997
  • M. Giugni, F. Passy, Histoires de mobilisation politique en Suisse, 1997
  • 1968. Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, hg. von I. Gilcher-Holtey, 1998
  • M. Stanga, Abbiamo seguito la nostra coscienza e siamo stati "fuorilegge": la contestazione studentesca del 1968 nelle scuole secondarie del canton Ticino, Liz. Freiburg, 2000
  • H. Nigg, Wir wollen alles, und zwar subito!, 2001
  • Bern 68, hg. von B.C. Schär et al., 2008
  • Zürich 68, hg. von E. Hebeisen et al., 2008
  • 1968-1978, hg. von J.M. Schaufelbuehl, 2009
Weblinks

Zitiervorschlag

Marco Tackenberg: "Jugendunruhen", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 24.03.2011. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/017349/2011-03-24/, konsultiert am 29.03.2024.