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WilhelmTell

Tells Apfelschuss auf einem Holzrelief (Lindenholz, polychrom) aus einer Luzerner Werkstatt, Hans Küng zugeschrieben (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich, Depositum der Gottfried Keller-Stiftung).
Tells Apfelschuss auf einem Holzrelief (Lindenholz, polychrom) aus einer Luzerner Werkstatt, Hans Küng zugeschrieben (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich, Depositum der Gottfried Keller-Stiftung). […]

Legendärer Held der Befreiungstradition, dessen Wirken erstmals im «Weissen Buch von Sarnen», einem Kopiarbuch um 1470, und im «Lied von der Entstehung der Eidgenossenschaft» («Tellenlied» um 1477) fassbar ist. Die Geschichte Tells fand Eingang in die Chroniken von Melchior Russ, Petermann Etterlin (erstmals gedruckt 1507) und Heinrich Brennwald und war damit gelehrten Kreisen bekannt. Ihre für Jahrhunderte gültige Fassung erhielt sie durch Aegidius Tschudi, der sie auf das Jahr 1307 datierte und sie als wichtiges Element der Befreiungstradition zwischen dem Rütlischwur und dem Burgenbruch einbettete. Tschudis «Chronicon Helveticum» wurde jedoch erst 1734-1736 publiziert. Vor allem über Josias Simlers «De Republica Helvetiorum libri duo», dessen Werk 1576 erstmals erschien und immer neu aufgelegt wurde, erreichte Tschudis Fassung bis ins 18. Jahrhundert hinein ein breites Publikum.

Dass im 16. Jahrhundert die Geschichte Tells weit über die gelehrte Welt hinaus bekannt war, bezeugen Abbildungen auf allen denkbaren Bildträgern sowie Gedenkstätten im öffentlichen Raum. Die Tellskapelle zwischen Sisikon und Flüelen am Vierwaldstättersee, in Erinnerung an den Sprung Tells aus Gesslers Schiff, ist bereits im frühen 16. Jahrhundert belegt. Eine Tellskapelle wurde ebenfalls 1582 in Bürglen (UR), dem angeblichen Wohnort Tells, erbaut, 1638 diejenige bei der Hohlen Gasse. Von 1583 stammt ein erstes Denkmal in Altdorf (UR). Zur Verbreitung der Tellsgeschichte trugen die volkstümlichen Theateraufführungen in der Innerschweiz bei. Als ältestes dieser Stücke in der Tradition der Fasnachtsspiele gilt das «Urner Tellenspiel», das um 1512 belegt ist und bis ins 18. Jahrhundert mindestens zwölf Druckauflagen erfuhr. In unzähligen Flugschriften wurde auf Tell rekurriert, der nun als Stifter der eidgenössischen Freiheit angesehen wurde. Im 17. Jahrhundert trat Tell in den Hintergrund, und zwar einerseits, weil die eidgenössischen Mythen während der konfessionellen Konflikte erodierten und an sinnstiftender Kraft verloren, andererseits, weil sich nun auch die Untertanen in ihren Aufständen gegen die Obrigkeit auf Tell und die Urschweizer Befreiungstradition beriefen, so 1653 im Bauernkrieg (Drei Tellen). Die Beschwörung Tells im politischen Diskurs beschränkte sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts mit wenigen Ausnahmen auf die katholische Innerschweiz.

Das Verhältnis der frühen Aufklärer gegenüber Tell blieb ambivalent: Der erwachende neue Patriotismus konnte auf die Befreiungsgeschichte und damit auf Tell nicht verzichten, doch wurden Zweifel an der Historizität der Person Tells – die vereinzelt bereits im 16. und 17. Jahrhundert geäussert worden waren – im Kreis der Gelehrten immer lauter. Nicht wenige verurteilten überdies den Tyrannenmord als unpassende Episode innnerhalb der Gründungsgeschichte der Eidgenossenschaft. Dennoch kam es zum Skandal, als Uriel Freudenberger und Gottlieb Emanuel von Haller 1760 anonym die Schrift «Der Wilhelm Tell, ein dänisches Mährgen» veröffentlichten und darin behaupteten, die Geschichte Tells sei der nordischen Sagenwelt entnommen. Diese Sichtweise erwies sich, zumindest für die breite Öffentlichkeit, als unannehmbar. Die Schriften Johann Kaspar Lavaters und Johannes von Müllers leiteten Ende des 18. Jahrhunderts eine neue Tellbegeisterung ein. Die patriotischen Gesellschaften, allen voran die Helvetische Gesellschaft, entwickelten einen eigentlichen Tellkult. Dabei kam es zu einer Akzentverschiebung: Sie stellten auf unzähligen Bildern weniger den Tyrannenmörder als den aufopfernden Vater und tugendhaften Bürger ins Zentrum.

Von nun an liefen die Diskussionen um Tell auf zwei Ebenen: Die Frage nach der Historizität blieb den Fachleuten vorbehalten, die immer mehr an der historischen Figur Tell zweifelten, weil sie nicht mit der urkundlichen Überlieferung zur Entstehung der Eidgenossenschaft in Einklang gebracht werden konnte. Spätestens mit den Arbeiten Joseph Eutych Kopps nach 1845, der sich im Gegensatz zu von Müller auf urkundliche Überlieferungen stützte und entsprechend die volkstümlichen Elemente der Befreiungstradition wie Tell oder den Rütlischwur verwarf, liess sich dieser Sachverhalt nicht mehr ausblenden.

Gleichzeitig wurde Tell im ausgehenden 18. Jahrhundert unabhängig von der Frage nach seiner historischen Existenz zum Freiheitshelden nicht nur der Schweiz, sondern der Revolutionen in Nordamerika und Frankreich. Er wurde zum Vorkämpfer für die Menschenrechte und zum universellen Symbol des Freiheitskampfs hochstilisiert. Die Tellbegeisterung erlebte zu Beginn der Französischen Revolution einen ersten Höhepunkt. Auch die Helvetische Republik (1798-1803) machte von der Symbolfigur reichlich Gebrauch, etwa als General Guillaume Brune 1798 eine der drei Republiken, in die er die Eidgenossenschaft aufteilen wollte, Tellgau nannte.

Das Bild Tells im 19. und 20. Jahrhundert prägte jedoch keiner so nachhaltig wie Friedrich Schiller mit seinem Drama «Wilhelm Tell» von 1804. Als Quelle dienten ihm Tschudi und von Müller. Schiller verknüpfte die Befreiungsgeschichte mit dem Mythos des unverdorbenen und tugendhaften Bergvolks, das sich den Ränkespielen einer dekadenten Zivilisation zu erwehren wusste. Diese Darstellung stiess in der Schweiz auf begeisterte Zustimmung. Der kosmopolitische Tell der Revolutionsjahre verblasste: Tell war nun untrennbar mit dem nationalen Alpenmythos verschmolzen (Alpen). Schillers Tell wurde zum beliebten Volksstück, zum eigentlichen Nationalschauspiel. Szenen aus dem Drama gehörten bald zum Repertoire des Laientheaters. In Altdorf und Interlaken werden seit 1899 bzw. 1912 regelmässig Tellspiele durchgeführt. Jede literarische oder künstlerische Aneignung der Tellgeschichte wurde von nun an auch zur schöpferischen Auseinandersetzung mit Schillers Tell

Zwei als Helden verkleidete Teilnehmer des Umzugs zur 2000-Jahr-Feier Genfs posieren auf der Mont-Blanc-Brücke. Aufnahme eines unbekannten Fotografen, Juli 1942 (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich).
Zwei als Helden verkleidete Teilnehmer des Umzugs zur 2000-Jahr-Feier Genfs posieren auf der Mont-Blanc-Brücke. Aufnahme eines unbekannten Fotografen, Juli 1942 (Schweizerisches Nationalmuseum, Zürich).

Neben der abstrakten Allegorie der Helvetia personifizierte Tell im Bundesstaat die Schweiz, deren Wehrwillen und Bürgertugenden. Daran erinnerten das 1856 in Lugano der Öffentlichkeit übergebene Tell-Denkmal von Vincenzo Vela, das 1895 in Altdorf eingeweihte Denkmal von Richard Kissling sowie das 1902 vor dem Bundesgericht in Lausanne aufgestellte Werk von Antonin Mercié. Als Personifikation des redlichen Bürgers im Kampf gegen die Arroganz der Macht wurde Tell auch zum gängigen Sujet der Karikatur, der Polemik und der politischen Propaganda aller Stossrichtungen. Als 1891 der Beschluss gefasst wurde, die Bundesfeier auf den 1. August zu legen, war dies ein Entscheid für die urkundliche Überlieferungsgeschichte der Eidgenossenschaft. Entsprechend trat die Befreiungstradition in den Hintergrund: Rütli, Tell und Burgenbruch wurden offiziell ins Reich der Sage verwiesen. Versuche, die Befreiungstradition in den Zusammenhang des Bundesbriefs von 1291 zu stellen und wenigstens die Möglichkeit eines «historischen Kerns» von Tells Geschichte zu postulieren, überzeugten letztlich nicht, auch wenn im Zuge der Geistigen Landesverteidigung die Nationalmythen bis in die 1960er Jahre hinein eine Renaissance erlebten. 1924 führten die Post-, Telefon- und Telegrafenbetriebe auf den Postautobergstrecken ein Dreiklanghorn ein, dessen Motiv der Tell-Ouvertüre aus Gioacchino Rossinis Oper entnommen worden war. 1931 wurde in Anspielung auf Tell die Armbrust als schweizerisches Ursprungszeichen eingeführt. In Bürglen (UR) entstand 1966 das Tell-Museum. Seit dem letzten Drittel des 20. Jahrhunderts verliert Tell an Bedeutung, da mittlerweile auch in weiten Bevölkerungskreisen unbestritten ist, dass es sich um eine legendäre Figur handelt.

Quellen und Literatur

  • R. Labhardt, Wilhelm Tell als Patriot und Revolutionär 1700-1800, 1947
  • L. Stunzi, Tell, 1973
  • B. Stettler, «Tschudis Bild von der Befreiung der drei Waldstätten und dessen Platz in der schweiz. Historiographie», in QSG, NF VII/3, 1980, 9-192
  • U. Windisch, F. Cornu, Tell im Alltag, 1988 (franz. 1988)
  • J.-F. Bergier, Wilhelm Tell, 1990 (franz. 1988)
  • G.P. Marchal, Schweizer Gebrauchsgesch., 2006, 255-303
  • Gfr. 160, 2007 (Themenh.: Die Erfindung des Wilhelm Tell)
  • Guillaume Tell et la libération des Suisses, hg. von J.-D. Morerod, A. Näf, 2010
Weblinks
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Zitiervorschlag

François de Capitani: "Tell, Wilhelm", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 17.12.2013. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/017475/2013-12-17/, konsultiert am 28.03.2024.