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Rätoromanisch

"Rätoromanisch – Nationalsprache". Themenheft der Zürcher Illustrierten vom 11. Februar 1938, mit einer Fotoreportage von Albert Steiner (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
"Rätoromanisch – Nationalsprache". Themenheft der Zürcher Illustrierten vom 11. Februar 1938, mit einer Fotoreportage von Albert Steiner (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern). […]

Mit der eidgenössischen Volksabstimmung von 1938 über die Revision der Artikel 107 und 116 der Bundesverfassung (BV) ist Rätoromanisch neben Deutsch, Französisch und Italienisch zur vierten Landessprache der Schweiz geworden. Im dreisprachigen Kanton Graubünden wurde Rätoromanisch durch die Verfassungen von 1880 und 1892 offizielle Sprache des Kantons. Rätoromanisch bezeichnet in der Schweiz die Sprache der Rätoromanen Graubündens, eine Varietät der romanischen Sprachen (d.h. der vom Latein abstammenden Sprachen), die sich deutlich von derjenigen der oberitalienischen Nachbarn (inklusive Italienischbünden) abhebt. In romanistischen Handbüchern und in Lexika wird Rätoromanisch oft als Überbegriff für die drei Sprachgruppen Bündnerromanisch, Dolomitenladinisch und Friaulisch verwendet, eine Sichtweise, die innerhalb der Wissenschaft kontrovers diskutiert wird. Die von italienischen Forschern vor allem im Ersten Weltkrieg vertretene Auffassung, dass das Rätoromanische nicht eine eigene romanische Sprache, sondern ein alpinlombardischer Dialekt sei, ist nicht primär aus linguistischer Sicht unzutreffend, sondern vielmehr deshalb, weil es sich aufgrund seiner Geschichte zu einer eigenständigen Sprache mit jahrhundertealter Schrifttradition und einem entsprechenden Selbstverständnis entwickelt hat. Das Rätoromanisch Graubündens (Bündnerromanisch, umgangssprachlich auch als Romanisch bezeichnet) stellt innerhalb der romanischen Sprachfamilie eine konservative Randsprache dar, die viele archaische Elemente bewahrt. Daneben hat auch der seit dem Mittelalter bestehende Kontakt mit dem Deutschen die Sprache geprägt.

Verbreitung

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sprach noch die Mehrzahl der bündnerischen Bevölkerung rätoromanisch, 1860 wies die Volkszählung erstmals eine deutschsprachige Mehrheit im Kanton Graubünden aus. Die Volkszählungen von 1990 und 2000 fragten nicht mehr nach der Muttersprache, sondern einerseits nach der am besten beherrschten Sprache, andererseits nach der in bestimmten Lebensbereichen (zu Hause, in der Schule, am Arbeitsplatz) am häufigsten verwendeten Sprache. 1990 gaben 39'632 Personen (0,6%) der schweizerischen Bevölkerung Rätoromanisch als bestbeherrschte Sprache an, 66'356 (1,0%) als am häufigsten verwendete Sprache. Im Jahr 2000 gingen die Zahlen auf 35'095 (0,5%) bzw. 60'816 (0,8%) zurück. Innerhalb des Kantons Graubünden nannten 1990 29'679 Personen (17,0%) Rätoromanisch als bestbeherrschte Sprache, 41'092 (23,6%) als am häufigsten verwendete Sprache. 2000 waren es noch 27'038 (14,5%) bzw. 40'257 (21,5%).

In soziolinguistischer Hinsicht steht die heute allgemein verbreitete rätoromanisch-deutsche Zweisprachigkeit im Vordergrund. Es gibt keine erwachsenen Rätoromanen mehr, die nicht auch kompetente Deutschsprecher sind. Sowohl im rätoromanischen als auch im deutschen Bereich liegt eine Diglossiesituation vor: Eine hochsprachliche Varietät, die in formelleren Situationen angewandt wird, steht einer umgangsprachlichen Varietät gegenüber, die im familiären und alltäglichen Gebrauch vorherrscht. Im Deutschen nehmen Hochdeutsch und Schweizerdeutsch diese Positionen ein, im Rätoromanischen die Regionalschriftsprache und der Ortsdialekt (Dialekte). Die Sprecher des Rätoromanischen sind somit mit einer Art doppelter Diglossie konfrontiert. Die neue, 1982 eingeführte überregionale Schriftsprache Rumantsch Grischun fügt der komplizierten Sprachsituation eine weitere Varietät hinzu.

Geschichte

Die Eroberung der alpinen Gebiete, die später die römische Provinz Raetia bildeten, durch Drusus und Tiberius 15 v.Chr. kann als Anfangspunkt der Geschichte des Rätoromanischen gelten. Obschon wir über die Zeit und die Modalitäten der Romanisierung Rätiens wenig wissen, war mit der Eingliederung der Alpen ins Römische Reich die Voraussetzung für die spätere sprachliche Entwicklung gegeben. Über die Sprachverhältnisse, die die Römer im Alpenraum vorfanden, ist wenig bekannt. Wahrscheinlich gehörten die indoeuropäischen Kelten und wohl nicht-indoeuropäischen Räter zu den wichtigsten dort angesiedelten Völkern. Die Spuren dieser vorrömischen Sprachen lassen sich im späteren Rätoromanisch fast ausschliesslich in der Toponomastik (die meisten Dorfnamen sind vorrömisch) und im Wortschatz der alpinen Lebenswelt (Gelände, Fauna und Flora, Alpwirtschaft) erkennen.

Das Rätoromanische basiert im Wesentlichen auf dem Latein, das die einheimische Bevölkerung allmählich von den in Rätien tätigen Römern (Soldaten, Beamten), eventuell auch von romanisierten Kelten, die im 4. und 5. Jahrhundert vor den Germanen in die rätischen Berge flüchteten, übernahm. Sowohl unter der römischen Herrschaft (bis zum Untergang Westroms 476) und einer kurzen Phase unter den Ostgoten (bis 536/537) als auch unter der darauffolgenden Herrschaft der merowingischen Franken genoss Rätien eine weitgehende politische Selbstbestimmung, die der Entwicklung der einheimischen Sprache förderlich war. Auch die Christianisierung, die mit der Eingliederung Rätiens in das Römische Reich begonnen hatte (ein Bischof von Chur, Asinio, ist erstmals 451 bezeugt), trug zur Herausbildung des Rätoromanischen bei. Nach Abschluss der Romanisierung ging das lateinische Sprachgebiet im Alpenraum weit über das Gebiet des heutigen Bündnerromanischen hinaus. Es umfasste ausser den heute rätoromanischen Gebieten Chur und Umgebung, die Bündner Herrschaft von Chur rheinabwärts bis zur Kantonsgrenze, den Walensee, das Glarner- und Sarganserland, das St. Galler Rheintal bis zum Bodensee, ferner Liechtenstein, Vorarlberg, Teile Bayerns und Tirols und den Vinschgau, der bis zum 16. Jahrhundert die Brücke zwischen Bünderromanisch und Dolomitenladinisch bildete.

Karl der Grosse beendete um 800 die Periode der weitgehenden Selbstständigkeit Churrätiens, in der geistliche und weltliche Macht oft in einer Familie oder sogar in einer Person (in der Dynastie der einheimischen Zacconen/Viktoriden) vereinigt gewesen war, indem er mit der Grafschaftsverfassung von 806 die beiden Bereiche voneinander trennte. Diese Neuerung war folgenschwer für das Schicksal des Rätoromanischen: Der Graf war von da an ein Deutschsprachiger, und mit ihm kamen Gefolgsleute ins Land, die ebenfalls Deutsch sprachen. Die «Wende nach Norden» wurde noch verstärkt durch weitere Reorganisationen in der Mitte des 9. Jahrhunderts. Im Vertrag von Verdun 843 wurde Rätien dem ostfränkischen Reich Ludwigs des Deutschen zugeteilt. Gleichzeitig wurde das Bistum Chur von der Kirchenprovinz Mailand abgelöst und in die Kirchenprovinz Mainz eingegliedert. Von da an sassen fast ausschliesslich Deutschsprachige auf dem Churer Bischofsstuhl. Diese Vorgänge sind mindestens teilweise dafür verantwortlich, dass sich im rätischen Mittelalter kein kulturelles Zentrum rätoromanischer Prägung bilden konnte. Chur, das für diese Rolle prädestiniert gewesen wäre, war in seiner Oberschicht weitgehend germanisiert, obschon Rätoromanisch bis zum Stadtbrand von 1464 die allgemeine Umgangssprache war.

Neben dieser Germanisierung von innen wirkte schon ab der Spätantike eine Germanisierungswelle von aussen auf das rätoromanische Territorium: Vom ausgehenden 5. Jahrhundert an rückten die Alemannen stetig das Rheintal aufwärts vor. Die Ortsnamenforschung zeigt im Gebiet nördlich von Chur eine lange Phase der Zweisprachigkeit, die erst im 12. Jahrhundert mit dem Sprachwechsel zum Deutschen endete. Ein weiterer Germanisierungsschub ging von den Walsern aus, die ab dem Ende des 13. Jahrhunderts auf Einladung einheimischer Feudalherren in Graubünden siedelten. Zwischen dem 14. und dem 16. Jahrhundert wurden Davos, das Schanfigg und das Prättigau germanisiert.

Frontispiz der sogenannten Bibel von Scuol, die von Jacob Anton Vulpius und Jachen Dorta senior übersetzt und von Jachen Dorta junior in Scuol gedruckt wurde, 1679 (Fundaziun Tscharner, Zernez; Fotografie Ivo Illuminato Andri).
Frontispiz der sogenannten Bibel von Scuol, die von Jacob Anton Vulpius und Jachen Dorta senior übersetzt und von Jachen Dorta junior in Scuol gedruckt wurde, 1679 (Fundaziun Tscharner, Zernez; Fotografie Ivo Illuminato Andri). […]

Im 15. Jahrhundert herrschte auf der Ebene der Mündlichkeit im grössten Teil der Drei Bünde (mit Ausnahme des Rheintals nördlich von Chur, der Hauptstadt Chur und den Walsergebieten) Rätoromanisch vor. Im schriftlichen Gebrauch löste jedoch Deutsch das Lateinische als Amts- und Verwaltungssprache ab. Im Oberengadin und in den italienischsprachigen Südtälern blieb die Notariatssprache bis in die Neuzeit hinein lateinisch.

Bibelübersetzungen ins Rätoromanische
Bibelübersetzungen ins Rätoromanische […]

In den ersten zwei Jahrzehnten des 16. Jahrhunderts werden die Anfänge einer rätoromanischen Schrifttradition fassbar: mit dem «Stattüt e trastütt da queus d'Engadinna d'suott», einem Strafgesetz für das Unterengadin von 1519 (nach einer nicht mehr auffindbaren Vorlage von 1508), und dem Vertrag «Contrat da l'an 1519» zwischen Kaiser Maximilian, dem Grafen von Tirol und dem Churer Bischof Paul Ziegler. Zuerst im Engadin, später in der Sutselva und der Surselva entstand im Zusammenhang mit der Reformation und der Katholischen Reform im 16. und 17. Jahrhundert ein beachtliches Schrifttum in einheimischer Sprache (Rätoromanische Literatur). Dass diese Tradition von Anfang an in Oberengadinisch, Unterengadinisch, Sutselvisch und Surselvisch gespalten ist, hängt einerseits mit den konfessionellen Gegensätzen zusammen, andererseits mit dem Fehlen eines Zentrums im rätoromanischen Raum, was auch die Spärlichkeit von rätoromanischen Schriftzeugnissen aus dem Mittelalter erklärt.

Obschon im Freistaat der Drei Bünde ab 1794 und dann ab 1803 im Kanton Graubünden offiziell das Prinzip der Dreisprachigkeit galt, verlor Rätoromanisch als Schriftsprache zusehends an Prestige. Im mündlichen Gebrauch setzte im 19. Jahrhundert mit Tourismus und Industrialisierung der bis heute andauernde Schwund des Rätoromanischen ein. Im Gegenzug begannen Intellektuelle und Schriftsteller, die Rätoromanen für die Gefährdung ihrer Sprache zu sensibilisieren. In den 1830er und 1840er Jahren erschienen die ersten rätoromanischen Schulbücher. Im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden verschiedene Sprach- und Kulturvereine gegründet, die sich der Pflege des Rätoromanischen widmen: 1885 die Societad Retorumantscha, welche die «Annalas» und den «Dicziunari Rumantsch Grischun» herausgibt, und 1919 die Lia Rumantscha als Dachorganisation aller rätoromanischen Regionalverbände.

Dialekte und Schriftsprachen zu Beginn des 21. Jahrhunderts

Das Bündnerromanische zerfällt in fünf Dialektgebiete, die jeweils eine eigene Schriftsprache besitzen, welche die oft stark divergierenden Ortsdialekte überdacht. Diese fünf Einheiten werden geläufig als Idiome bezeichnet. Von Westen nach Osten sind dies: das Surselvische (sursilvan) im Vorderrheintal und Lugnez, das Sutselvische (sutsilvan) in Teilen des Einzugsgebiets des Hinterrheins (Schams, Domleschg), das Surmeirische (surmiran) im Albulatal (Sutsés) und Oberhalbstein (Sursés), das Oberengadinische (puter) und das Unterengadinische (vallader, einschliesslich Münstertal).

Die linguistischen Unterschiede zwischen den Dialektgebieten auf lautlicher, grammatikalischer und lexikaler Ebene sind beträchtlich. Eine Verständigung zwischen einem Münstertaler und einem Surselver ist nicht unmittelbar gegeben. Dialektologisch besteht im Gesamtgebiet ein differenziertes Kontinuum, in dem benachbarte, zum Teil aber auch getrennte Teilgebiete durch gemeinsame Züge verbunden sind. Das Surselvische, das oft sprachgeschichtlich ältere Zustände bewahrt, ist andererseits besonders stark vom Deutschen beeinflusst. Das Engadin (zum Teil auch das Surmeir) weist eine stärkere Prägung durch die italienische Nachbarschaft auf.

Die 1982 vom Zürcher Romanisten Heinrich Schmid konzipierte einheitliche Schriftsprache Rumantsch Grischun (RG), die seither kontinuierlich ausgebaut wird, dient Bund und Kanton Graubünden seit 1997 als offizielle Sprache in der Kommunikation mit den Rätoromanen. Sie versteht sich als eine Kompromisssprache, die auf dem grössten gemeinsamen Nenner zwischen den drei wichtigsten Schriftidiomen Surselvisch, Surmeirisch und Unterengadinisch beruht, ohne indes die kleineren Idiome (puter und sutsilvan) ausser Acht zu lassen. Angestrebt wurde Vereinfachung und Verständlichkeit von allen Einzelidiomen her. Zudem sollte jede Region möglichst wenig von ihren Eigenheiten opfern müssen. Diese Prinzipien führten zur Eliminierung aller dialektal auffälligen Züge, so zum Beispiel der für das Unterengadinische charakteristischen Laute ü und ö (engadin. ün – RG wie surselvisch in für «ein»; engadinisch ögl – RG wie surselvisch egl für «Auge») oder der im Surselvischen geltenden Alternanzen vom Typus iev/ovs (RG ov/ovs für «Ei/Eier»). In der Orthografie wurde versucht, möglichst viel vom vertrauten Schriftbild zu bewahren. Daher die Kompromissregelung: ch (Schreibung des Engadins) am Wortanfang, tg (Schreibung der Surselva und Mittelbündens) im Wortinnern und im Auslaut (chaval für «Pferd», spetgar für «warten», notg für «Nacht»).

Im Sommer 2003 beschloss der Grosse Rat des Kantons Graubünden, rätoromanische Lehrmittel ab 2005 nur noch auf Rumantsch Grischun herauszugeben. Damit war der Kurs vorgegeben, die neue Standardsprache als einzige Schriftsprache in den Schulen einzuführen, was heftige Reaktionen auslöste. Drei Gruppen von Gemeinden (im Münstertal, in Mittelbünden und in der unteren und mittleren Surselva) führten im Spätsommer 2007 Rumantsch Grischun als Schulsprache ein.

Quellen und Literatur

  • A. Decurtins, «Il lungatg romontsch», in Romanica Raetica 9, 1993, 9-27
  • M. Gross, Romanisch: facts & figures, 22004
  • J.-J. Furer, Die aktuelle Lage des Romanischen, 2005
  • R. Coray, Von der Mumma Romontscha zum Retortenbaby Rumantsch Grischun, 2008
  • M. Grünert et al., Das Funktionieren der Dreisprachigkeit im Kt. Graubünden, 2008
  • R. Liver, Rätotomanisch, eine Einführung in das Bündnerromanische, 22010 (mit Bibl.)
Weblinks
Weitere Links
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Kurzinformationen
Kontext Ladin, Puter, Rumantsch Grischun, Surmiran, Sursilvan, Sutsilvan, Vallader

Zitiervorschlag

Ricarda Liver: "Rätoromanisch", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 19.06.2012. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/024594/2012-06-19/, konsultiert am 07.10.2024.