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Produktionsgenossenschaften

Als Produktionsgenossenschaften werden Genossenschaften bezeichnet, in denen die Genossenschafter nicht nur Eigentümer, sondern zugleich Mitarbeiter des Genossenschaftsbetriebs sind. Diese Doppeleigenschaft der Mitglieder als Arbeitgeber und Arbeitnehmer unterscheidet die Produktionsgenossenschaften von den Konsumgenossenschaften (Konsumvereine) und von Verwertungsgenossenschaften (Landwirtschaftliche Genossenschaften). Die Abgrenzungen sind jedoch fliessend (Genossenschaftsbewegung). Eine vollständige Identität von Arbeitnehmern und Arbeitgebern mit kollektiven Führungsstrukturen, wie dies in Modellen von Arbeiterräten und in alternativen Selbstverwaltungsbetrieben der Neuen Linken angestrebt wird, ist in den Produktionsgenossenschaften eher eine Ausnahme.

Arbeiter der Spenglergenossenschaft Zürich. Fotografie, 1909 (Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich).
Arbeiter der Spenglergenossenschaft Zürich. Fotografie, 1909 (Schweizerisches Sozialarchiv, Zürich). […]

Die Idee der Produktionsgenossenschaften stammt aus frühsozialistischen und sozialreformerischen Konzepten, die sich mit der Lösung der sozialen Frage befassten. Dabei kam Robert Owen mit seinem genossenschaftlichen Modell eine Pionierrolle zu. Unter dem Einfluss der französischen Frühsozialisten Charles Fourier (mit seiner Utopie der phalanstère) und Louis Blanc, der die ateliers sociaux (Produktionsgenossenschaften mit Staatshilfe) propagierte, entstanden in den 1840er Jahren vor allem in der französischen Schweiz die ersten Produktionsgenossenschaften der Schweiz. Auch das Gedankengut von Ferdinand Lassalle und Hermann Schulze-Delitzsch war richtungsweisend. Bedeutsam war ferner die Tradition genossenschaftlicher Selbsthilfe in bäuerlichen Allmend- und Alpkorporationen (Korporationen), nach deren Vorbild auch im Tal Käsereigenossenschaften entstanden waren. 1846 schlug Johann Jakob Treichler die Einrichtung von Sozialwerkstätten vor. Karl Bürkli, Pierre Coullery und Johann Philipp Becker propagierten ab den 1850er Jahren die genossenschaftlichen Modelle. Einzelne, im handwerklichen Bereich (Schneider, Näherinnen, Schuhmacher, Bäcker) entstandene Produktionsgenossenschaften hatten jedoch nur kurzen Bestand. Eine Welle von Neugründungen setzte unter dem Einfluss der Ersten Internationale nach 1864 ein, nicht zuletzt auf Anregungen von Karl Bürkli. Viele dieser Produktionsgenossenschaften verschwanden bereits in der Krise der 1870er Jahre wieder, einerseits aufgrund ihrer schlechten materiellen Voraussetzungen, andererseits wegen Absatzschwierigkeiten. Im Tessin schlugen die wenigen Versuche, Produktionsgenossenschaften zu gründen, fehl. Weitere Neugründungen erfolgten zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zahlreiche Produktionsgenossenschaften entstanden während Arbeitskämpfen und wurden von Gewerkschaften gefördert, so auch die 1907 aus Anlass eines Streiks in Zürich gegründete Spenglergenossenschaft Sada, die bis 2002 bestand und dann in eine Aktiengesellschaft umgewandelt wurde. Die Produktionsgenossenschaften boten Streikenden und ausgesperrten Arbeitern einen Verdienst und entlasteten die Streikkassen. In der Arbeiterbewegung war dies jedoch nicht unumstritten, weil die bestreikten Unternehmer entlastet wurden, zumal sie nicht mehr gezwungen waren, ihre Termine mit den Kunden einzuhalten. Von 80 zwischen 1864 und 1914 gegründeten Produktionsgenossenschaften bestand 1914 nur noch die Hälfte. Erfolgreich waren die Produktionsgenossenschaften im Druckereigewerbe und vor allem in der wenig kapitalintensiven Baubranche (Maler, Gipser, Zimmerei, Hoch- und Tiefbau, Spengler, Dachdecker).

1932 wurde auf Initiative des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes der Schweizerische Verband Sozialer Baubetriebe (VSB) gegründet, der seit 1975 Verband Schweizerischer Produktivgenossenschaften (VSP) heisst. In den Nachkriegsjahren erlebte der VSB im Zeichen des sozialen Wohnungsbaus eine Blüte. Die Mitgliederzahl stieg bis 1953 auf 46 Betriebe, nahm dann aber bis 1995 auf 22 ab. Der Anteil der Gesamtzahl der in Industrie und Gewerbe Beschäftigten blieb selbst beim Höchststand (1964: 2350 Personen) mit 1,7‰ marginal und sank bis 1995 mit 1001 Beschäftigten unter 1‰. Realistischerweise sahen die Produktionsgenossenschaften ihre Bedeutung nicht im eigenen volkswirtschaftlichen Gewicht oder gar im Beitrag zur Überwindung des Kapitalismus, sondern in ihrer Funktion als «korrigierender Faktor» (Geschäftsbericht 1940) und in ihrer Vorreiterrolle bei der Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen. Während die Produktionsgenossenschaften von der Krise der 1970er Jahre nachhaltig betroffen waren, entwickelte sich in der linken und alternativen Szene eine Selbstverwaltungsbewegung, die eher im Dienstleistungsbereich (Genossenschaften in Gastronomie, Buchhandel und Bankwesen) verwurzelt war.

Quellen und Literatur

  • P. Abrecht, Die Produktionsgenossenschaften in der Schweiz, 1953
  • A. Lasserre, «Les coopératives de production en Suisse: l'exemple du Canton de Vaud au XIXe s.», in Le mouvement social 68, 1969, 77-95
  • Inseln der Zukunft?, hg. von T. Holenweger, 1979
  • O. Lezzi, 50 Jahre Verband Schweiz. Produktivgenossenschaften, 1982
Weblinks

Zitiervorschlag

Ruedi Brassel-Moser: "Produktionsgenossenschaften", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 14.12.2011. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/025744/2011-12-14/, konsultiert am 29.03.2024.