Der Begriff Protestantismus umfasst die historischen Erscheinungsformen des Christentums, die in unterschiedlicher Weise die Reformation des 16. Jahrhunderts aufnehmen. Er geht auf den Reichstag von Speyer 1529 zurück. Dort wehrte sich die evangelische Minderheit mit dem reichsrechtlichen Mittel der protestatio gegen die katholische Mehrheit, die den einstimmigen Reichstagsbeschluss von 1526 aufhob, der das Wormser Edikt ausgesetzt und die Einführung der Reformation ermöglicht hatte. Der Einwand betraf einen reichspolitischen Vorgang und nicht die katholische Kirche. Die evangelischen Stände wurden als protestantes bezeichnet. Das Substantiv Protestantismus kam im 18. Jahrhundert auf und wurde im 19. Jahrhundert analog zum Katholizismus verwendet. Das Adjektiv protestantisch wird oft synonym zu evangelisch benutzt. Anders als der Katholizismus hat der Protestantismus sowohl im Bekenntnis als auch in der Organisation eine vielfältige Gestalt. Er umfasst die evangelisch-reformierten Kirchen (Zwinglianismus, Calvinismus), die lutherische Kirche, die Täufer und die anglikanische Kirche sowie die nachreformatorischen Kirchen, evangelische Freikirchen und Gruppen (Freikirchen und Sekten). Die Schweiz ist neben Deutschland eines der Ursprungsländer des Protestantismus
Reformation und Konfessionalisierung (1523-1712)
Das Streben der eidgenössischen Orte nach Autonomie, die humanistische Kritik an der Ständegesellschaft und ein latenter Antiklerikalismus der Bevölkerung begünstigten die Reformation in Zürich (1523), St. Gallen (1524), Bern (1528), Basel und Schaffhausen (1529) sowie Genf (1536). Der städtische Rat entschied über die Einführung der Reformation und beanspruchte die Autorität in geistlichen Angelegenheiten, was die Täufer ablehnten. Mit der Umsetzung der Reformation entwickelten sich charakteristische Gremien: Die Pfarrer trafen sich in Synoden, welche die Bischöfe ersetzten, versammelten sich zur theologischen Arbeit (Prophezei, congrégation) und wachten mit Ratsherren über die Sittenzucht (Sittengerichte). Nach der Niederlage der Protestanten besiegelte der Zweite Kappeler Landfrieden 1531 die konfessionelle Zweiteilung der Eidgenossenschaft.
Während der Konfessionalisierung (Konfessionalismus) bildeten sich in den protestantischen Territorien Obrigkeitskirchen heraus. Die weltliche Obrigkeit genehmigte Kirchenordnungen und Bekenntnisschriften, die Kirche vermittelte Lehre und Normen in Gottesdienst und Unterricht (Predigt, Kirchenlied, Katechismus). Eigene Bekenntnisse hielten zur Orientierung und Abgrenzung die Lehre fest (Basel 1534, Genf 1536). Überregionale Geltung erlangten das erste und zweite Helvetische Bekenntnis von 1536 bzw. 1566, der Consensus tigurinus von 1549 und für die Täufer die Schleitheimer Artikel von 1527. Zur Ausbildung der protestantischen Eliten wurden Akademien gegründet. Anfang des 17. Jahrhunderts prägte die protestantische Orthodoxie alle protestantischen Kirchen der Eidgenossenschaft. Der Zweite Villmergerkrieg 1712 brachte den Protestanten die konfessionelle Parität.
Pietismus und Aufklärung (1690-1815)
Die Bewegungen des Pietismus und der Aufklärung versuchten die protestantische Schultheologie zu überwinden und betonten das sittliche Leben gegenüber der orthodoxen Lehre. Der Pietismus kam Ende des 17. Jahrhunderts auf, wurde von den Obrigkeiten heftig bekämpft, schliesslich aber in die Kirchen eingegliedert. Es bildeten sich pietistische Gemeinschaften wie die Herrnhuter Brüdergemeine, die Heimberger Brüder oder die Inspirierten. Samuel König oder Beat Ludwig von Muralt kamen als radikale Pietisten im Ausland zu Ansehen.
Auch das von Jean-Jacques Rousseau, Albrecht von Haller und Johann Kaspar Lavater verbreitete Gedankengut der Aufklärung fand in den protestantischen Kirchen rege Aufnahme. Die Autorität der Kirchen und die Verbindlichkeit der Bekenntnisse wurden kritisiert und die individuelle Gestaltung des Glaubens gefördert. Inhalte des Glaubens waren Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Vernunft, Erfahrung, Gewissen und Natur fanden in Theologie und Frömmigkeit erhöhte Beachtung. In der 1761 bzw. 1762 gegründeten Helvetischen Gesellschaft sammelten sich aufklärerische Kräfte, die den politischen Zusammenhalt fördern und die konfessionelle Zweiteilung aufheben wollten. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war die Dominanz der protestantischen Orthodoxie überwunden, eine Mehrheit der Pfarrer war aufklärerisch gesinnt. Pietismus und Aufklärung individualisierten die Frömmigkeit und relativierten die Autorität der etablierten Kirchen. Damit bereiteten sie die tiefgreifenden institutionellen Veränderungen des Protestantismus im 19. Jahrhundert vor.
Die Helvetische Republik 1798 führte zur Erschütterung der staatskirchlichen Verhältnisse. Die Verbindungen zwischen Kirche und Staat wurden gelöst. Die Kirchen sollten das sittliche Verhalten fördern, der säkularisierte Staat die bürgerlichen Rechte sichern. Glaubens-, Gewissens- und Kultusfreiheit waren in der gesamten Republik gewährleistet. Erstmals wurden die Täufer offiziell anerkannt. Während der Mediation und Restauration dagegen verstärkten sich, unterstützt durch Liberalismus und Radikalismus, die staatskirchlichen Tendenzen. Die etablierten protestantischen Kirchen konnten überall ihre Stellung halten. Die Aufsicht über das Schulwesen aber blieb ihnen entzogen.
Erweckung, Pluralisierung und Ökumene (seit 1815)
Die Erweckungsbewegungen kämpften für eine Erneuerung des Protestantismus und propagierten traditionelle Glaubensinhalte wie Autorität der Bibel, Sündhaftigkeit des Menschen und persönliche Heilszueignung. Zahlreiche Vereine verfolgten neben den Kirchen religiöse, pädagogische oder karitative Zwecke. In Basel gingen aus der Deutschen Christentumsgesellschaft (1780) die Basler Bibelgesellschaft 1804 oder die Basler Mission 1815 hervor. In Genf suchten Kreise des Réveil nach Alternativen zum rationalistischen Klima in Kirche und Akademie. Während es in der deutschen Schweiz zu keinen Trennungen kam, entstanden in der französischen Schweiz mehrere von der Nationalkirche unabhängige Freikirchen (Genf, Waadt, Neuenburg, Berner Jura).
Die Demokratisierung nach 1848 veränderte die Gestalt des Protestantismus. Es entstanden Landeskirchen mit kantonalen Kirchenräten (Exekutive) und Synoden (Legislative), in welchen die Konflikte zwischen Liberalen und Konservativen ausgetragen wurden. Die liberalen Reformer, zum Beispiel Alois Emanuel Biedermann, setzten sich für eine zeitgemässe Interpretation von Bibel und Bekenntnis sowie eine entsprechende Ausgestaltung von Liturgie und Katechismus ein. Sie erreichten die Aufhebung der Verpflichtung auf das apostolische Glaubensbekenntnis (Apostolikumsstreit). Die konservativen Positiven wie Christoph Johannes Riggenbach engagierten sich für die überlieferte Lehre und die traditionelle Kirchlichkeit, während die Vermittler wie Karl Rudolf Hagenbach als kirchliche Mitte einen Ausgleich zwischen den Parteien suchten. Ab dem 20. Jahrhundert waren die Religiös-Sozialen, zu denen Hermann Kutter und Leonhard Ragaz gehörten, eine kirchenpolitische Kraft, die sich für das Gespräch mit der Sozialdemokratie einsetzte. Unter dem Eindruck der Katastrophe des Ersten Weltkriegs vertraten sie eine antimilitaristisch-pazifistische Haltung und kämpften für eine gerechtere Gesellschaft. Dieses «Richtungswesen» prägte den Protestantismus bis weit in das 20. Jahrhundert. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts kamen andere protestantische Gruppen in die Schweiz: unter anderem Methodisten, Darbysten, Baptisten, Chrischona-Gemeinden, Adventisten, die Heilsarmee und die neuapostolische Kirche.
Nach dem Ersten Weltkrieg suchten Exponenten der sogenannten dialektischen Theologie wie Karl Barth, Emil Brunner und Eduard Thurneysen einen theologischen Neuansatz. Die kantonalen Kirchen gründeten 1920 den Schweizerischen Evangelischen Kirchenbund (SEK), um ihre Anliegen gegenüber Bundesbehörden, katholischer Bischofskonferenz und internationalen ökumenischen Gremien vorzubringen. 1940 entschied sich der SEK für den Beitritt zum Ökumenischen Rat der Kirchen. Nach dem Zweiten Weltkrieg engagierte sich der Protestantismus in sozialethischen, entwicklungspolitischen und ökologischen Bereichen. Theologinnen wurden seit Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend als hauptamtliche Pfarrerinnen gewählt. Die Ökumene führte zu mehreren formellen Einigungen zwischen den Konfessionen.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts fand sich der Protestantismus in einer multireligiösen Gesellschaft wieder. Individualisierung und Pluralisierung der Weltanschauungen und Lebensstile haben die Bindungen an kirchliche Institutionen und Traditionen gelöst. Der Anteil der Reformierten an der Schweizer Bevölkerung ist stark gesunken (1950: 56%, 2000: 33%). Wie die Gesellschaft ist der Protestantismus vielfältiger geworden. Nach wie vor in die ökumenischen Gremien eingebunden, fordert ihn international, national und kantonal der gesellschaftliche Wandel, vor allem in den Begegnungen mit anderen Konfessionen und Religionen.
Quellen und Literatur
- R. Pfister, Kirchengesch. der Schweiz 2, 1974; 3, 1984
- Ökumen. Kirchengesch. der Schweiz, hg. von L. Vischer et al., 1994 (21998)
- Storia religiosa della Svizzera, hg. von F. Citterio, L. Vaccaro, 1996
- TRE 30, 682-712
- Religion in Gesch. und Gegenwart 7, 42004, 1064-1071
- P. Aerne, Religiöse Sozialisten, Jungreformierte und Feldprediger, 2006