9.1.1940 St. Gallen, konfessionslos, von Endingen. Ökonomin, Gewerkschafterin, sozialdemokratische Genfer Bundesrätin und erste Bundespräsidentin.
Ruth Dreifuss wuchs als Tochter des Kaufmanns Sidney Dreifuss und der Sekretärin Jeanne geborene Bicard 1942-1945 in Bern und anschliessend in Genf auf. Ihr älterer Bruder Jean-Jacques Dreifuss lehrte als Professor für Medizin an der Universität Genf. Die Familie Dreifuss war seit dem 17. Jahrhundert in Endingen ansässig, einem der wenigen Orte, an denen sich Juden in der Eidgenossenschaft niederlassen durften (Judentum). Die Bicards stammten ursprünglich aus dem Elsass und waren ab 1871 in der Schweiz wohnhaft. Als Leiter der Flüchtlingshilfe der jüdischen Gemeinde St. Gallen arbeitete Sidney Dreifuss 1938-1939 mit Paul Grüninger bei der heimlichen Aufnahme von Flüchtlingen zusammen. Nach dem Erwerb eines Handelsdiploms 1958 absolvierte Ruth Dreifuss 1959-1961 die Genfer Sozialarbeiterschule, erlangte 1967 berufsbegleitend die Handelsmatura und schloss 1970 mit dem Lizenziat ein Studium in Wirtschaftswissenschaften (Mathematik) an der Universität Genf ab. Sie ist unverheiratet und hat keine Kinder. Dreifuss arbeitete 1961-1964 als Redaktorin der Coopzeitung, 1965-1967 als Soziologieassistentin am Centre psychosocial der Universität Genf und 1970-1972 als Assistentin an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften derselben Universität. Dreifuss war 1972-1981 wissenschaftliche Adjunktin beim Dienst für technische Zusammenarbeit (ab 1977 Direktion für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe) im Eidgenössischen Politischen Departement (ab 1979 Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten, EDA). In dieser Funktion betreute sie verschiedene Projekte in Lateinamerika, Afrika sowie Haiti und wirkte am Gesetz über die internationale Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe mit, das 1976 verabschiedet wurde.
Der Schweizerische Gewerkschaftsbund (SGB) wählte Ruth Dreifuss 1981 zu seiner Zentralsekretärin. Als solche war sie für die Beziehungen zu den Gewerkschaften der französischen Schweiz, die Gleichstellung von Frau und Mann sowie für die Sozialversicherungen und das Arbeitsrecht verantwortlich. Zudem vertrat sie die Schweizer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO). Dreifuss trat 1964 der Sozialdemokratischen Partei (SP) bei und gehörte 1989-1992 dem Berner Stadtrat an. Für die Berner SP kandidierte sie 1991 erfolglos für den Nationalrat. Nach dem Rücktritt von René Felber aus dem Bundesrat wählte die rechte Mehrheit in der Bundesversammlung am 3. März 1993 den Sozialdemokraten Francis Matthey anstelle von Christiane Brunner, der einzigen Kandidatin der SP-Fraktion, die zuvor Opfer einer regelrechten Schlammschlacht geworden war. Unter dem Druck seiner Partei verzichtete Matthey auf das Amt und die SP-Fraktion nominierte mit Christiane Brunner und Ruth Dreifuss zwei Kandidatinnen. Dreifuss wurde am 10. März mit 144 Stimmen gewählt. Ihre Wahl wurde jedoch erst durch die Verlegung des gesetzlichen Wohnorts von Bern nach Genf möglich. Die Bundesverfassung (BV) enthielt nämlich bis 1999 die sogenannte Kantonsklausel, die zwei Bundesräte aus einem Kanton nicht zuliess.
Im Bundesrat übernahm Dreifuss das Eidgenössische Departement des Innern (EDI), dem zuvor Flavio Cotti vorgestanden hatte. Zu ihren Aufgabenbereichen zählten damit die Hochschulpolitik (Universität), die wissenschaftliche Forschung, die Sozialversicherungen, das Gesundheitswesen und bis 1997 die Umwelt. Unter ihrer Verantwortung trat die 10. Revision der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV) in Kraft, die durch den zivilstandsunabhängigen Rentenanspruch sowie durch Erziehungs- und Betreuungsgutschriften die Stellung der Frauen verbesserte, gleichzeitig aber deren Rentenalter ab 2005 auf 64 Jahre erhöhte. Ebenfalls in ihre Amtszeit fällt das Gesetz über die obligatorische Krankenversicherung (KVG, in Kraft ab 1996). Die von Dreifuss lancierte Vorlage einer Mutterschaftsversicherung scheiterte 1999 am Stimmvolk (Mutterschaft); eine dahingehende Revision gelang erst 2004 nach ihrem Austritt aus dem Bundesrat. In der Kulturpolitik setzte sie sich 1996 mit der Revision des Sprachenartikels (Artikel 116 der BV von 1874; Artikel 70 der BV von 1999) für die sprachliche Vielfalt (Mehrsprachigkeit) und für die Einführung des sogenannten Kulturartikels (Artikel 69 der BV von 1999) ein. Der Kampf gegen Aids wurde von einer Reform der Drogenpolitik begleitet, die auf vier Säulen beruhte: Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression (Drogen). Dazu zählte auch die Heroinabgabe unter ärztlicher Aufsicht, was zur Revision des Betäubungsmittelgesetzes führte, die 2008 in einer Volksabstimmung angenommen wurde. Dreifuss ebnete den Weg für den vollständigen Einbezug der Schweiz in viele Bildungs- und Forschungsprogramme der Europäischen Union (EU), rief 1995 die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus ins Leben und setzte sich aktiv für die Aufklärung der Fragen nach nachrichtenlosen Vermögen von Holocaust-Opfern und nach der Rolle der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs ein (Bergier-Kommission). Ruth Dreifuss war 1998 Vizepräsidentin des Bundesrats und 1999 die erste Bundespräsidentin.
Nach ihrem Rücktritt Ende 2002 übernahm Dreifuss verschiedene internationale Mandate im Bereich des Medikamentenzugangs. Zudem engagierte sie sich für die Menschenrechte, unter anderem in der internationalen Kommission gegen die Todesstrafe und in der Weltkommission für Drogenpolitik, sowie für die Verteidigung der Rechte von Ausländern, Flüchtlingen und Sans-Papiers. Dreifuss stand in einer von Rezession und steigender Arbeitslosigkeit geprägten Zeit entschieden für die Errungenschaften des Sozialstaats ein, kämpfte für die Gleichberechtigung von Frau und Mann und verschaffte sich durch ihren Pragmatismus den Respekt der Bundesversammlung. Ihr wurde mehrfach vorgeworfen, dass die Gesundheitskosten trotz KVG weiter anstiegen. Internationale Anerkennung erlangte Dreifuss durch ihre Vorreiterrolle in der Drogenpolitik. Die überzeugte Feministin (Feminismus) gehörte zu den wenigen Mitgliedern des Bundesrats, die vor ihrer Wahl nicht in der Bundesversammlung sassen. Ruth Dreifuss war die erste sozialdemokratische Frau und die erste Person jüdischer Herkunft im Bundesrat. Ihr wurde die Ehrendoktorwürde der Universität Haifa (1999), der Hebräischen Universität Jerusalem (2000), der Universität Freiburg (2006) und der Universitäten Neuenburg und Bern (2022) verliehen.