JosephDeiss

18.1.1946 Freiburg, katholisch, von Zeihen. Professor für Volkswirtschaftslehre, Freiburger Nationalrat, christlichdemokratischer Bundesrat und Präsident der Vollversammlung der Vereinten Nationen.

Bundesrat Joseph Deiss tritt in Bern im Rahmen der Abstimmungskampagne für die bilateralen Verträge mit der Europäischen Gemeinschaft (Bilaterale I) an einer Veranstaltung der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz auf. Fotografie vom 18. März 2000 (KEYSTONE / Lukas Lehmann, Bild 2177094).
Bundesrat Joseph Deiss tritt in Bern im Rahmen der Abstimmungskampagne für die bilateralen Verträge mit der Europäischen Gemeinschaft (Bilaterale I) an einer Veranstaltung der Neuen Europäischen Bewegung Schweiz auf. Fotografie vom 18. März 2000 (KEYSTONE / Lukas Lehmann, Bild 2177094).

Joseph Deiss, Sohn des Kaufmanns Joseph Deiss und der Marie-Christine geborene Schaller, wuchs als zweites von vier Kindern zweisprachig in Freiburg auf, wo sein Vater ein Rahmenmachergeschäft führte. Sein jüngerer Bruder Nicolas Deiss war 1996-2008 Oberamtmann des Saanebezirks. Nach der Primar- und Sekundarschule in Freiburg legte Joseph Deiss 1964 am Kollegium St. Michael die Matura ab. Er studierte Wirtschafts- und Sozialwissenschaften an der Universität Freiburg und erwarb 1968 das Lizenziat sowie 1972 das Doktorat. 1969 heiratete er Elisabeth (Babette) Muller, Tochter des Landschaftsbauunternehmers Henri Muller und der Jeanne Canisia geborene Rey, mit der er drei Söhne hat. 1968-1983 unterrichtete Deiss als Gymnasiallehrer am Kollegium St. Michael und 1973-1983 auch als Lehrbeauftragter an der Universität Freiburg, wo er sich 1976 habilitierte. 1983-1984 wirkte er dort als ausserordentlicher und 1984-1999 als ordentlicher Professor für Volkswirtschaftslehre (1996-1998 Dekan). 1993-1996 war er im Nebenamt als eidgenössischer Preisüberwacher tätig.

Die politische Laufbahn von Deiss begann 1981 als Mitglied der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) im Freiburger Grossen Rat, dem er bis 1991 angehörte und den er in seinem letzten Amtsjahr präsidierte. In dieser Zeit leitete er unter anderem die Kommission zur Revision des Schulgesetzes. 1982-1996 war er Gemeindeammann seiner Wohngemeinde Barberêche. 1991 erfolgte die Wahl in den Nationalrat (Bundesversammlung); das Mandat hatte er bis zu seiner Wahl in den Bundesrat 1999 inne. Im Parlament galt sein Interesse insbesondere wirtschafts- und sozialpolitischen Fragen und den internationalen Beziehungen der Schweiz. Deiss präsidierte die Kommission für die Totalrevision der Bundesverfassung und amtierte 1995-1996 als Vizepräsident der Aussenpolitischen Kommission. Seine Zweisprachigkeit verschaffte ihm auf beiden Seiten der Sprachgrenze Achtung. Als Konsenspolitiker war er ein typischer Vertreter der Zentristen innerhalb der CVP.

Nach dem Rücktritt der beiden CVP-Bundesräte Flavio Cotti und Arnold Koller wurde Deiss am 11. März 1999 zusammen mit Ruth Metzler-Arnold in den Bundesrat gewählt; die Partei hatte sich vorgängig aktiv für einen Frauen- und einen Männersitz im Bundesrat entschieden. In einer Kampfwahl, zuletzt gegen den Zuger Peter Hess, erreichte er im sechsten Wahlgang mit nur einer Stimme Vorsprung das absolute Mehr von 120 Stimmen. Er übernahm von Cotti das Departement für Auswärtige Angelegenheiten (EDA), wo er sich mit Tatkraft dem Dossier zur Europäischen Gemeinschaft (EG) widmete. In der Volksabstimmung vom Mai 2000 erreichte er die Zustimmung zu den bilateralen Verträgen, die in der Folge erweitert wurden, wodurch das in den vorangehenden Jahren stagnierende Wirtschaftswachstum angekurbelt werden konnte. Die Schweiz ratifizierte 2000 auch die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords sowie 2001 das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs. Seinen grössten Erfolg im EDA verbuchte Deiss mit dem Beitritt zu den Vereinten Nationen (UNO), dem das Schweizer Stimmvolk 2002 mit 54,6% zustimmte. In der Folge gliederte sich die Schweiz mit einer Reihe von Abkommen in die UNO ein.

Aussenminister Joseph Deiss (Bildmitte) unterhält sich mit Bundespräsident Kaspar Villiger während der Generalversammlung der Vereinten Nationen, welche die Schweiz kurz vorher als 190. Mitglied aufgenommen hat. Fotografie vom 10. September 2002 (KEYSTONE / Alessandro della Valle, Bild 10079865).
Aussenminister Joseph Deiss (Bildmitte) unterhält sich mit Bundespräsident Kaspar Villiger während der Generalversammlung der Vereinten Nationen, welche die Schweiz kurz vorher als 190. Mitglied aufgenommen hat. Fotografie vom 10. September 2002 (KEYSTONE / Alessandro della Valle, Bild 10079865).

Am 1. Januar 2003 übernahm Deiss das Volkswirtschaftsdepartement (EVD) als Nachfolger von Pascal Couchepin, der nach dem Rücktritt von Ruth Dreifuss 2002 in das Departement des Innern (EDI) wechselte. Als Wirtschaftswissenschaftler leitete Deiss das EVD mit solider Dossierkenntnis; zu seinen strategischen Zielen gehörten der Ausbau der multinationalen Beziehungen innerhalb der Welthandelsorganisation (WTO), die Integration in den europäischen Binnenmarkt und die Förderung bilateraler Freihandelsabkommen mit aussereuropäischen Staaten. Die Stimmberechtigten nahmen im Juni 2005 die Teilnahme am Abkommen von Schengen und Dublin sowie drei Monate später die Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf die neuen Mitgliedstaaten der EG an. Als weiteres Grossprojekt gelang Deiss durch die Revision des Kartellgesetzes 2004, des Fachhochschulgesetzes 2005 und des Binnenmarktgesetzes 2006 die Dynamisierung von Binnenwirtschaft und Innovationsförderung. Nach seiner Wiederwahl 2003 rückte Deiss 2004 anstelle seiner abgewählten Kollegin Ruth Metzler-Arnold ins Amt des Bundespräsidenten nach, ohne dass er zuvor Vizepräsident gewesen wäre.

Deiss reichte am 27. April 2006, zur Überraschung der Öffentlichkeit, seinen Rücktritt ein. Ab Mitte der Legislatur 2003-2007 hatte sich das Klima im Bundesratskollegium verschlechtert, der von Deiss angestrebte Freihandelsvertrag mit den USA war auf Widerstand gestossen, durch Verbreitung von vertraulichen Informationen war die Kollegialität in Frage gestellt worden und der Umgangston hatte mit Christoph Blocher rauere Züge angenommen; mit dem Amtsantritt von Letzterem war Deiss nun einziger Vertreter der CVP im Bundesrat. Als seine Nachfolgerin wurde am 14. Juni 2006 Doris Leuthard gewählt. In seinen sieben Amtsjahren führte Deiss die Schweiz in die UNO, stellte die Beziehungen mit Europa auf eine solide Grundlage und stärkte die Wirtschaft durch ein enges Netz bilateraler Freihandelsabkommen.

Ansprache von alt Bundesrat Joseph Deiss als Präsident der UNO-Generalversammlung vor der Vereinigten Bundesversammlung in Bern. Video vom 15. Dezember 2010 (Parlamentsdienste; parlament.ch).
Ansprache von alt Bundesrat Joseph Deiss als Präsident der UNO-Generalversammlung vor der Vereinigten Bundesversammlung in Bern. Video vom 15. Dezember 2010 (Parlamentsdienste; parlament.ch). […]

Nach seinem Rücktritt aus dem Bundesrat lehrte Deiss 2007-2011 als Gastprofessor erneut an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Freiburg. Einen weiteren Höhepunkt seiner Laufbahn erlebte er, als er auf Vorschlag der Schweiz zum Präsidenten der 65. Generalversammlung der UNO von September 2010 bis September 2011 gewählt wurde und damit die höchste jemals von einem Schweizer ausgeübte Funktion innerhalb der UNO übernahm. Damit repräsentierte der ehemalige Vorsteher des Aussendepartements sein Land während eines Jahres auf der Weltbühne. Seine Schaffenskraft und seriöse Arbeitsweise wurden innerhalb der UNO hoch geschätzt. Ab 2019 engagierte sich Deiss wieder stärker in der Europadiskussion. Er trat für ein Rahmenabkommen der Schweiz mit der Europäischen Union (EU) ein und befürwortete den EU-Beitritt der Schweiz.

Joseph Deiss wurden zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen zuteil, darunter die Ehrenbürgerschaften von Barberêche (1999) und Zeihen (2007). Zudem erhielt er die Ehrendoktorwürde der Universitäten Sofia (2003) und Neuenburg (2007) sowie der Business School Lausanne (2008). Er ist Träger des Ordens der französischen Ehrenlegion (2007) und des japanischen Verdienstordens der Aufgehenden Sonne (2008). Die Europäische Bewegung Schweiz verlieh ihm 2021 den Europapreis.

Quellen und Literatur

  • Deiss, Joseph: La théorie pure des termes de l’échange international, 1972.
  • Deiss, Joseph: Economie politique et politique économique de la Suisse, 1979 (19885).
  • Deiss, Joseph: Monnaie et prix internationaux. Une théorie séquentielle des marchés, 1979.
  • Deiss, Joseph: Einführung in die Volkswirtschaftslehre. Analyse der schweizerischen Volkswirtschaft, 1983 (französisch 1982).
  • Deiss, Joseph; Gugler, Philippe: Politique économique et sociale, 2012 (20202).
  • Deiss, Joseph: Nouvelles lettres d'Italie. Fribourg-Rome à pied par la Via Francigena, 2019.
  • Deiss, Joseph: Aus dem Bauch des Pottwals. Bunte Erinnerungen eines Bundesrates, 2020 (französisch 2018).
  • Cramatte, Jean-Luc; Ruffieux, Louis; Gemmingen, Hubertus von: Joseph Deiss. Conseiller fédéral / Bundesrat, 1999.
  • Renevey, Nicolas: «Le parcours de Joseph Deiss. Du Collège St-Michel au Conseil fédéral», in: Kollegiumsbote, 52/1, 1999, S. 1-3.
  • Hug, Karl-Heinz; Kappeler, Beat; Zenhäusern, Martin: Joseph Deiss und die Schweiz, 2006.
  • Dorand, Jean-Pierre: «Joseph Deiss», in: Altermatt, Urs (Hg.): Das Bundesratslexikon, 2019, S. 659-665.
Weblinks
Normdateien
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VIAF

Zitiervorschlag

Ernst Tremp: "Deiss, Joseph", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 02.03.2022. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/043253/2022-03-02/, konsultiert am 04.10.2024.