Die Nahrungs- und Genussmittelindustrie umfasst ein sehr breites Spektrum, zu dem die industrielle Herstellung von Nahrungsmitteln (u.a. Brot, Teigwaren, Zucker, Produkte der Milchwirtschaft, Fleisch, Schokolade, Konserven, Kühl- und Tiefkühlprodukte), von Ölen und Fetten (Gewerbepflanzen), Kaffee, Mineralwasser (Mineralquellen), alkoholischen Getränken wie Bier, Wein (Weinbau) und Branntwein sowie die Verarbeitung von Tabak gehören. Der Sektor entwickelte sich parallel zum technischen Fortschritt, zu den verbesserten Transportmitteln, dem Wandel der Lebensgewohnheiten und den Veränderungen in der Arbeitsorganisation.
Die ersten Manufakturen
Einige Techniken der Konservierung sind sehr alt, etwa die Verarbeitung von Milch zu Käse oder die Herstellung alkoholischer Getränke wie Wein, Bier oder Branntwein. Schon seit dem Mittelalter hatten Schweizer Erzeugnisse wie der Käse grossen Erfolg im Ausland: Greyerzer, Emmentaler und Sbrinz wurden zum Beispiel auf den Schiffen der Hochseeflotten als Nahrungsmittelreserven verwendet und stellten daher als beliebte Exportprodukte im 18. Jahrhundert einen wichtigen Posten der schweizerischen Handelsbilanz dar.
Im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden an den Ufern des Genfersees einige Schokolademanufakturen, die eine Branche mit grosser Zukunft begründeten. 1819 eröffnete François-Louis Cailler in Corsier-sur-Vevey die erste Manufaktur mit einem mechanischen Produktionssystem. Die meisten dieser Manufakturen waren aber Kleinbetriebe, die für einen lokalen Markt produzierten.
Die Bierproduktion ist in der Schweiz seit dem 8. und 9. Jahrhundert bezeugt; Bierfabriken entstanden schon im 18. Jahrhundert, zum Beispiel 1717 und 1766 in Morges, 1768 in Schaffhausen, 1770 in Yverdon, 1788 in Freiburg. Die ersten Tabakmanufakturen nahmen im 19. Jahrhundert ihren Betrieb auf. Die Zigarrenherstellung begann um 1838 in Menziken. Aus den Statistiken des Kantons Aargau geht hervor, dass 1857 schon über 25 Mio. Stück produziert wurden. Zur gleichen Zeit bestanden auch einige Manufakturen in der französischen Schweiz, vorwiegend in den Kantonen Waadt und Freiburg. Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigte die Fabrik Louis Ormond in Vevey 800 Mitarbeiter und war wahrscheinlich die grösste Manufaktur in der Schweiz. 1847 wurde die Tabakfabrik Brissago gegründet.
Der internationale Durchbruch der Schweizer Nahrungs- und Genussmittelindustrie erfolgte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vor allem dank der Zugpferde Kondensmilch und Schokolade.
Die Epoche der Pioniere (1866-1914)
Die Technik der Milchkondensation wurde in der Schweiz von zwei Amerikanern, den Brüdern Charles und George Page, eingeführt. Sie gründeten 1866 in Cham die Anglo-Swiss Condensed Milk Co., die ab 1867 gezuckerte Kondensmilch herstellte und damit in der Schweiz und im Ausland grossen Erfolg hatte. Mehrere Unternehmen folgten diesem Beispiel, sie waren jedoch kurzlebig und wurden teilweise von der Anglo-Swiss übernommen. 1867 begann der deutschstämmige Apotheker Henri Nestlé, Milchpulver für Kinder herzustellen. Eine lokale Finanzgruppe übernahm 1875 die Firma, die ab 1878 auch gezuckerte Kondensmilch produzierte. Beide Unternehmen expandierten rasch: 1888 umfasste die Nestlé-Gruppe schon 13 Betriebe, die 821 Personen beschäftigten. Nach einer Zeit starker Konkurrenz fusionierten Nestlé und die Anglo-Swiss 1905. Bald merkten die Nahrungsmittelproduzenten, dass es lohnender war, die Produktion in die Bestimmungsmärkte zu verlegen, statt aus der Schweiz zu exportieren. Damit begann ein Internationalisierungsprozess, der immer noch anhält.
In der Zwischenzeit wurde auch die Schokoladeproduktion revolutioniert: 1875 erfand Daniel Peter die Milchschokolade, und 1879 kreierte Rudolf Lindt die Schmelzschokolade. Sie war ein Welterfolg: Die Schokoladeausfuhren stiegen von 502 t 1887 auf 27'262 t 1915. Dieses Niveau wurde erst 1987 wieder erreicht. Vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs beliefen sich die Ausfuhren auf rund zwei Drittel der Gesamtproduktion und erreichten damit ihren Höhepunkt. Von diesem Erfolg profitierten auch andere namhafte, zum Teil zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch bestehende Unternehmen wie Suchard in Serrières (1826), Kohler in Lausanne (1830), Cailler in Broc und Sprüngli in Zürich (1845), das 1899 mit Lindt zu (Lindt & Sprüngli) fusionierte. Von den 1880er Jahren an hielt die Schweiz den Weltrekord in der Schokoladeproduktion. Auch in diesem Fall zogen es die Unternehmen aber vor, die Produktion ins Ausland zu verlegen, anstatt die Ausfuhren zu verstärken. Trotzdem wuchs der Anteil der Nahrungsmittel an den Schweizer Gesamtausfuhren bis unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg, als er mit 15,1% fast das Niveau der Maschinenindustrie erreichte und damit die Uhrenproduktion übertraf.
Bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die industrielle Herstellung anderer Nahrungsmittel – unter anderem Teigwaren, Konserven, Salami, Wurstwaren – eher bescheiden und hatte nur regionale Bedeutung. Erst mit der Industrialisierung, in deren Verlauf die Familien immer weniger Zeit hatten, Nahrungsmittel (Ernährung) zuzubereiten, nahm die industrielle Herstellung allmählich zu. Die Sterilisierung von Früchten und Gemüse im Haushalt ging stark zurück, was in einer ersten Phase vor allem den gedörrten Nahrungsmitteln und den Büchsenprodukten Auftrieb gab (Konservenindustrie). 1866 begann Maggi in Kemptthal Fertigsuppen herzustellen; 1886 nahm die Konservenfabrik Henckell, Zeiler & Cie. (ab 1889 Henckell & Roth, Hero) ihren Betrieb auf und exportierte ab 1898 auch ins Ausland.
Auch die Bierherstellung nahm einen starken Aufschwung. Zwischen 1883 (996'000 hl) und 1911 (3,003 Mio. hl). verdreifachte sich die Produktion nahezu. In diesem Sektor kam es zu einem Konzentrationsprozess, der immer noch anhält: Während 1883 noch 483 Bierbrauereien bestanden, sank ihre Zahl 1900 auf 245 und 1911 auf 138. Die Einführung neuer Maschinen und Technologien beschleunigte diesen Prozess zusätzlich.
In der Tabakindustrie begannen die grossen Umstellungen in den 1870er Jahren, als die Zigaretten in Mode kamen. Dies begünstigte den Einsatz neuer Produktionstechniken und die Entstehung einiger Unternehmen von beachtlicher Grösse (1883 waren es 7, 1900 21). Um 1900 erfasste der technische Fortschritt auch andere Zweige der Nahrungsmittelbranche wie die Brotherstellung (Bäckerei), die dank der Einführung von Knetmaschinen und grossen Öfen industrielle Dimensionen annahm. Dasselbe galt für die Müllerei: Die ab 1876 aufgekommenen Walzmühlen waren das erste Zeichen eines raschen technischen Modernisierungs- und Konzentrationsprozesses. Zur selben Zeit begann man, die öffentlichen Schlachthöfe (Metzgerei) aus den Stadtzentren zu verlegen, und Anfang des 20. Jahrhunderts wurden sie in einigen Fällen durch Industrieanlagen ersetzt, in denen die Fleischverarbeitung zum Teil automatisiert war.
Vom Ersten Weltkrieg bis heute
Nach dem rasanten Wachstum in der Belle Epoque verlor die Nahrungs- und Genussmittelindustrie für die Schweizer Wirtschaft an Bedeutung, obschon die Zahl der Beschäftigten weiterhin anstieg. In den 1930er Jahren war die Branche stark von der Weltwirtschaftskrise betroffen: Der Ertrag aus den Ausfuhren, der 1925-1927 205,3 Mio. Franken (10,5% der gesamten schweizerischen Ausfuhren) erreicht hatte, brach 1937-1938 auf 110,9 Mio. Franken (8,5%) ein. Die Schokoladeindustrie war zudem von den protektionistischen Massnahmen vieler Länder und während des Zweiten Weltkriegs von den Einfuhrbeschränkungen für Kakao und Zucker betroffen. Diese Tendenzen gelten jedoch nicht für die Schweizer Produktionsanlagen im Ausland. Im gleichen Zeitraum expandierten nämlich verschiedene Unternehmen ausserhalb der Landesgrenzen. Das trifft insbesondere auf die Nestlé-Gruppe von Vevey zu, die allmählich zu einem multinationalen Unternehmen wurde. 1929 übernahm die Gruppe die Schokoladefabrik Peter-Cailler-Kohler und 1947 die Alimentana mit der Marke Maggi, sodass sie nun unter anderem auch Suppen, Saucen und Aromen in ihrer Produktepalette führte. Mit Beteiligungen an der Gruppe Vittel 1969 stieg Nestlé ins Mineralwassergeschäft und mit Beteiligungen an L'Oréal 1974 in den Markt für kosmetische Artikel ein. Dank zahlreicher Übernahmen war Nestlé Anfang des 21. Jahrhunderts weltweit führend im Nahrungsmittelsektor.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm die Zahl der in der Schweizer Nahrungs- und Genussmittelindustrie Beschäftigten stark zu: Sie stieg von 27'369 Personen 1945 auf 64'795 2000 (das entspricht 6,4% der im 2. Sektor Beschäftigten, das Baugewerbe ausgenommen). Gleichzeitig setzte sich der Konzentrations- und Internationalisierungsprozess fort; mehrere Unternehmen wurden von grossen Multinationalen übernommen. 1970 schlossen sich die Schokoladeproduzenten Tobler, Suchard und Ammann zur Interfood zusammen, die 1982 von der Gruppe Jacobs übernommen wurde. Diese ging 1990 in der Philip Morris auf, welche die Kraft Jacobs Suchard (seit 2000 Kraft Foods) gründete, ein Nahrungsmittelkoloss mit über 30'000 Beschäftigten in 50 Ländern. In den letzten Dezennien des 20. Jahrhunderts beschleunigte sich dieser Konzentrationsprozess. 2000 erlangte zum Beispiel der dänische Bierhersteller Carlsberg die Kontrolle über die Brauerei Feldschlösschen, während 2002 Wander in Bern von der Associated British Foods übernommen wurde.
In der Schweiz ist die Branche aber nach wie vor von kleinen und mittleren Unternehmen geprägt, die grösstenteils für den Binnenmarkt produzieren: 2000 beschäftigten von insgesamt 2621 Unternehmen der Branche 2063 (78,7%) weniger als neun Personen, und nur 34 über 250. Die Grossverteiler (u.a. Migros, Coop) verfügen zum Teil über eigene Produktionsanlagen. 2001 waren die Herstellung von Fleisch und Fleischprodukten (8876 Personen), gekühlte und tiefgekühlte Fertigprodukte bzw. "Convenience food" (5433), Schokolade (4444) und Konserven (4208) hinsichtlich der Anzahl Beschäftigter führend. Gerade die Bedeutung, die "Convenience food" und Konserven herkömmlicher Art gewonnen haben, widerspiegelt den Wandel der Ess- und Trinksitten. Dieser wiederum hängt mit dem gesellschaftlichen Wandel des Konsumverhaltens und mit den Veränderungen im Arbeitsmarkt, etwa der zunehmenden Berufstätigkeit der Frauen, zusammen. In den 1990er Jahren stagnierte die Branche. Allerdings kommt in den Zahlen zur Binnenproduktion die Bedeutung der Schweizer Nahrungs- und Genussmittelindustrie nicht vollumfänglich zum Ausdruck, da zum Beispiel der grösste Teil der im Ausland verkauften Schweizer Schokolade ausserhalb der Landesgrenzen hergestellt wird.
Quellen und Literatur
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- K. Thöne, Schweizer Bierbuch, 1985
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- M.R. Schärer, «Food History in Switzerland», in European Food History, hg. von H.J. Teuteberg, 1992, 168-198
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- F. Chiapparino, L'industria del cioccolato in Italia, Germania e Svizzera, 1997, 85-221
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- A. Steigmeier, Blauer Dunst, 2002
Kontext | Lebensmittelindustrie |