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Statuti

Unter dem Begriff Statuti versteht man schriftliche Aufzeichnungen, in die der Allein- oder Kollektivinhaber der rechtssetzenden Gewalt (potestas condendi statuta) vorher nur mündlich überlieferte Rechtsregeln eingehen liess oder neu aufgetretene, konkrete Situationen grundsätzlich normierte. Hier ist nur die Rede von den ab dem 12. Jahrhundert in der Lombardei und generell in Italien aufkommenden Statuti, obwohl die in vielen Gebieten nördlich der Alpen verwendeten Landrechte und Offnungen (Statutarrecht) diesen in vielfacher Hinsicht entsprachen.

Die Statuti waren nie selbstreferentiell, unabhängig davon, worauf sie sich bezogen und wie ausführlich sie waren. Sie sind vielmehr als einfache Fragmente eines komplexen und vielseitigen Rechtssystems zu sehen. Sie verweisen implizit immer auf andere Rechtsquellen, die zu ihrer Ergänzung, Korrektur und Interpretation herangezogen werden. Daher können die Statuti nicht losgelöst von den anderen, oft konkurrierenden Regelungen der damaligen Zeit betrachtet werden, die sich vielfach überschnitten und von denen sie mehr oder weniger stark beeinflusst wurden. So wollte es auch der ausgeprägte Pluralismus jenes Rechtsquellensystems, das der Gesetzeskodifikation vorausging.

Grundstein dieses Systems war das Alte Herkommen bzw. die Gewohnheit (Gewohnheitsrecht) in dem von Friedrich Carl von Savigny kanonisch formulierten Doppelsinn. Diese strukturierte das normative Umfeld, dem das Statut auf der einen oder anderen Ebene angehörte. Daher ist zu unterscheiden zwischen Statuti, die sich auf die Nutzungsrechte an materiellen Gütern bezogen, und solchen, die zivil- oder strafrechtliche Vorschriften enthielten.

Erstere regelten die Nutzung des gemeinschaftlichen oder bereits aufgeteilten Grundbesitzes sowie die angemessene Zuteilung von anderen örtlichen Ressourcen wie Wasser, Fischerei, Jagd, Säumerei, Metallgewinnung und entsprachen einer tendenziell noch autarken Wirtschaft. Die ältesten der im ganzen südlichen Alpenraum verbreiteten Statuti treten 1237 in Osco und Olivone auf. Sie wurden von örtlichen Körperschaften wie (Tal-)Gemeinden, Nachbarschaften und Degagne erlassen und waren entweder eine ausdrückliche Bestätigung alter Regelungen oder ein stillschweigender Verweis auf Althergebrachtes, auf Übung, Brauch und Regeln, die, weil als zwingend empfunden, allgemein anerkannt waren und schliesslich geltendes Recht wurden. In beiden Fällen spielt die vor allem jenseits des Statuts vorherrschende Gewohnheit eine unausgesprochene, aber bestimmende Rolle: Nur sie definiert die konkrete Bedeutung der statutarischen Regelungen, korrigiert manchmal deren Tragweite und legt deren Geltungsbereich fest. Auf sie griffen schliesslich auch die Gemeinschaftsmitglieder bei der Lösung von Streitfällen zurück (Nutzungskonflikte).

Erste Seite der "Statuti" der Leventina für die Jahre 1713, 1730 und 1755. Manuskript in italienischer Sprache (Archivio di Stato del Cantone Ticino, Bellinzona).
Erste Seite der "Statuti" der Leventina für die Jahre 1713, 1730 und 1755. Manuskript in italienischer Sprache (Archivio di Stato del Cantone Ticino, Bellinzona).

Eine andere Art von Gewohnheit umgab hingegen die Statuti, die das Zivil- und Strafrecht regelten. In ihnen widerspiegelte sich die Welt der Rechtswissenschaft (scientia iuris), die sich zwischen dem 12. und 13. Jahrhundert von Italien aus über Europa verbreitete. Die zivil- und strafrechtlichen Regelungen (statuta civilia und criminalia), welche die Landorte (burgi) und Talschaften der italienischen Schweiz vom 14. Jahrhundert an erliessen, stützten sich oft auf Vorlagen aus Como oder Mailand und unterschieden sich radikal von den Satzungen nördlich der Alpen. Sie enthielten nämlich jenes einheimische Recht (ius proprium), das sich theoretisch dem gemeinen Recht (ius commune) der Rechtswissenschaft widersetzte, praktisch aber oft bloss dessen örtliche Auslegung darstellte. Beide bildeten die Stützpfeiler eines von der Rechtswissenschaft entwickelten und dominierten Rechtsquellensystems. Dieses komplexe und allgegenwärtige System sprach den Rechtskundigen (iuris peritus) an: Als Richter, Anwalt, Fürsprecher, Vermittler oder Notar las, interpretierte und korrigierte er die Statuti gemäss dem gemeinen Recht, d.h. nach den Vorschlägen der Rechtswissenschaft, den Kommentaren und Werken der berühmten Rechtsautoren, die überall gelesen und berücksichtigt wurden. In der italienischen Schweiz geschah dies nicht etwa infolge einer imaginären Rezeption des römisch-gemeinen Rechts, sondern weil hier die Rechtswissenschaft schon im Mittelalter Fuss fasste.

Als die zwölf eidgenössischen Orte zu Beginn des 16. Jahrhunderts in den neu eroberten Vogteien südlich der Alpen ihre eigenen Verwalter einsetzten, stellten sie überrascht und entsetzt fest, dass sie sich dort mit genau dem Gegner zu messen hatten, den sie aus ihren eigenen Gebieten verjagt hatten: dem Rechtsgelehrten und der unergründlichen Wissenschaft, die jenem Wort für Wort vorgab. Ihn zu umgehen war nicht einfach, ihn unter Kontrolle zu bringen geradezu unmöglich. So begann ein auf gegenseitigem Misstrauen beruhender endloser Kampf zwischen den Herren, die die Staatsgewalt innehatten, aber keine Rechtskultur besassen, und den Untertanen, die nur zu gerne über Mittelsmänner handelten und sich im Labyrinth der rechtlichen Beweisführung versteckten. Dieses bisher wenig untersuchte Thema ist von grosser Bedeutung.

Quellen und Literatur

  • Die Rechtsqu. des Kt. Tessin, hg. von A. Heusler, 13 H., 1892-1916
  • H. Coing, Europ. Privatrecht 1, 1985
  • Statuten, Städte und Territorien zwischen MA und Neuzeit in Italien und Deutschland, hg. von G. Chittolini, D. Willoweit, 1992 (ital. 1991)
  • Dal dedalo statutario, hg. von P. Caroni, 1995
  • P. Caroni, «Sovrani e sudditi nel labirinto del diritto», in Storia della Svizzera italiana dal Cinquecento al Settecento, hg. von R. Ceschi, 2000, 581-596, 702-705
  • C. Storti Storchi, Scritti sugli statuti lombardi, 2007
  • P. Caroni, «Ius romanum in Helvetia», in Europa e Italia, 2011, 55-79
Weblinks

Zitiervorschlag

Pio Caroni: "Statuti", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 05.03.2014, übersetzt aus dem Italienischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/047841/2014-03-05/, konsultiert am 18.04.2024.