Das Stammbaumarchiv der Psychiatrischen Klinik Waldhaus in Chur (Psychiatrie) wurde von Gottlob Pflugfelder während seiner Amtszeit als Klinikdirektor 1951-1977 angelegt und umfasst über 500 Dossiers mit Dokumenten zu Bündner Grossfamilien (Familie), darunter auch jenischen. Der Aktenbestand wurde unter der abwertenden Bezeichnung «Sippenarchiv» bekannt. Zu Beginn der 1990er Jahre wurde das Stammbaumarchiv ins Staatsarchiv Graubünden überführt.
Den Grundstock, auf dem Gottlob Pflugfelder das Archiv aufbaute, bildeten die Dokumentensammlungen von Johann Joseph Jörger und Alfred Siegfried: Jörger hatte als Gründungsdirektor der Klinik Waldhaus 1892-1930 Materialien zu Bündner Jenischen gesammelt und aufgrund seiner Untersuchungen 1919 die international beachtete Studie Psychiatrische Familiengeschichten publiziert; Siegfried hatte als langjähriger Leiter des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» der Pro Juventute Akten zu Kindern aus jenischen Familien zusammengestellt und der Klinik übergeben. Pflugfelder ergänzte diese Materialien und benutzte sie, um Gutachten über Patientinnen und Patienten anzufertigen und seine eigenen erbbiologischen Forschungen zu betreiben.
Pflugfelder stammte aus Basel und hatte 1942-1950 in der Kantonalen Heil- und Pflegeanstalt Friedmatt die Ausbildung zum Psychiater absolviert. Nach kurzer Tätigkeit in der psychiatrischen Klinik Münsterlingen, die zu diesem Zeitpunkt bereits über ein Stammbaumarchiv verfügte, hatte er 1951 die Leitung der Klinik Waldhaus übernommen, wo er sich wie sein Vorgänger der «Forschung» zu den Jenischen widmete. Pflugfelder interessierte sich für die Vererbung verschiedener Krankheiten und war der Ansicht, dass sich erbbiologische Vorgänge an den Bündner Jenischen aufgrund ihrer zahlreichen verwandtschaftlichen Verbindungen besonders gut untersuchen liessen. Nichtsesshaftigkeit war für ihn sowohl durch die Erbanlage als auch das Milieu beeinflusst, wobei er der Vererbung mehr Gewicht beimass. In den Gutachten setzte Pflugfelder die jenische Abstammung bzw. die fahrende Lebensweise (Fahrende) mit einer Krankheit gleich, begleitet mit Zuschreibungen geistiger oder moralischer Defizite. Sein Gedankengut ist in den Kontext der Eugenik einzuordnen.
Die insgesamt 502 nach Familiennamen geordneten Archivdossiers enthalten Stammbäume (Genealogie) der Grossfamilien sowie psychiatrische Gutachten, Krankengeschichten, Vormundschaftsberichte oder Korrespondenzen, die Pflugfelder neben der regulären Ablage von Patientenakten der Klinik zusammentrug. Davon können 42 ganz oder teilweise der Bevölkerungsgruppe der Jenischen zugeordnet werden. Sie enthalten Angaben zu 177 Personen. Obwohl der zahlenmässige Anteil klein ist, sind sie überdurchschnittlich umfangreich und gesondert gekennzeichnet. Verschiedentlich empfahl Pflugfelder in diesen Gutachten Entmündigungen, die Verhinderung einer Ehe (Ehehindernisse) oder die Sterilisation als eugenische Massnahmen bei meist jungen Frauen ohne Ausbildung. Die übrigen 460 Familiendossiers wurden in der Forschung bis anhin nicht systematisch ausgewertet.
1988 machte der Bündner Journalist Hans Caprez mit dem Artikel «Das grenzt an Rassismus» im Schweizerischen Beobachter auf die Existenz des Stammbaumarchivs in der Klinik Waldhaus aufmerksam. Gemeinsam mit der jenischen Schriftstellerin Mariella Mehr warf er der Klinik vor, systematisch Informationen über jenische Familien gesammelt zu haben, und forderte die Auflösung des Archivs. Als Reaktion auf die Kritik liess die Bündner Regierung eine grobe Klärung des Archivinhalts vornehmen und kam zum Schluss, dass es sich nur bedingt um ein «Jenischenarchiv» handle, da auch zahlreiche Dossiers zu nicht jenischen Familien enthalten seien. Als Klinikleiter amtierte zu diesem Zeitpunkt Benedikt Fontana, der 1977 die Nachfolge Pflugfelders angetreten hatte. Fontana hatte in den 1960er Jahren seine Dissertation mit den Mündelakten Siegfrieds aus dem Archiv verfasst und damit die jahrzehntelange Tradition der «Forschung» zu den Jenischen an der Klinik Waldhaus fortgesetzt.