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Arbeitsanstalten

Zwangsarbeitsanstalten

Der Forschungsbegriff Arbeitsanstalten bezeichnet kantonal, kommunal oder privat getragene Einrichtungen, in welchen Jugendliche und Erwachsene im Rahmen administrativer Versorgungen Arbeit unter Zwang zu leisten hatten. Diese Form der Freiheitsentziehung entstand ca. um die Mitte des 19. Jahrhunderts vor dem Hintergrund einer restriktiveren Armenpolitik (Armut, Fürsorge) und wurde bis in die 1980er Jahre angewandt. Sie hatte keinen direkten Bezug zu einer Straftat und wurde von einer Verwaltungsbehörde verfügt. Aus Sicht zeitgenössischer Juristen und Sozialpolitiker sollte sie dazu dienen, ein als normabweichend taxiertes Verhalten zu sanktionieren und die Eingewiesenen zur Arbeit zu erziehen. Zwangsarbeit war aufgrund des internationalen Übereinkommens Nr. 29 über Zwangs- oder Pflichtarbeit seit 1941 in der Schweiz zwar verboten, wurde jedoch weiterhin praktiziert.

Arbeitsanstalten lassen sich nicht immer klar von anderen Haft- und Versorgungseinrichtungen des heterogenen Schweizer Anstaltswesens unterscheiden, zumal ihre Bezeichnungen und Funktionen variierten. Nur knapp zwei Dutzend Einrichtungen können als eigentliche Zwangsarbeitsanstalten bezeichnet werden, die allein der «Erziehung zur Arbeit» auf administrativrechtlichem Weg dienten, darunter Kalchrain (Hüttwilen, 1851 gegründet), Bitzi (Mosnang, 1871), St. Johannsen (Gals, 1884), Sedel (Ebikon, 1888) und Kaltbach (Schwyz, 1902). Weit verbreitet waren hingegen multifunktionale Anstalten (ca. 400-500), in welchen Internierte aus unterschiedlichen Einweisungsgründen (Strafrecht, Zivilrecht, administrative Versorgung/kantonale Einweisungsgesetze) gemeinsam untergebracht wurden. Beispiele hierfür sind Tobel (Tobel-Tägerschen, 1811), Bärau (Langnau im Emmental, 1849), Realta (1840), Uitikon (1873/1874), Hindelbank (1866), die Mittelländische Armen-Verpflegungsanstalt in Riggisberg (1881), die Zwangserziehungsanstalt in Aarburg (1893) und Bellechasse (1898). Dessen Komplex enthielt etwa ein Gefängnis, eine Trinkerheilanstalt (Alkoholismus) und eine Arbeitserziehungsanstalt für Frauen und Männer, zeitweise auch für Jugendliche.

Träger und Anstaltsgebäude

Verantwortlich für die Arbeitsanstalten waren Kantone, Bezirke, Gemeinden oder private – oft konfessionell ausgerichtete – Trägerschaften. In Ergänzung zu den Bestimmungen des Zivilgesetzbuchs (ZGB, 1912) verfügte jeder Kanton über eigene gesetzliche Grundlagen, nach denen er Einweisungen vornehmen konnte. Dies führte zu einer grossen Bandbreite an Zugriffsmöglichkeiten. Ebenso unterschieden sich die Steuerungs- und Aufsichtsmechanismen von Kanton zu Kanton. Finanziert wurden die Anstalten aus Arbeitserträgen der Internierten, Kostgeldern (darin eingeschlossen auch die Unterstützung durch Verwandte) und staatlichen Beiträgen. Sie waren chronisch unterfinanziert, was sich auf die Lebensbedingungen der internierten Personen (u.a. mangelhaftes Essen) niederschlug. Anstalten mit privaten Trägerschaften wiesen tendenziell weniger Plätze auf, während staatlich getragene, multifunktionale Anstalten Kapazitäten für bis zu 550 Personen besassen.

Insassen der Anstalt von Bellechasse bei der Feldarbeit und der Rückkehr in die Unterkunft. Fotografien einer unveröffentlichten Bildreportage von Paul Senn, um 1950 (Bernische Stiftung für Fotografie, Film und Video, Bern) © Gottfried Keller-Stiftung.
Insassen der Anstalt von Bellechasse bei der Feldarbeit und der Rückkehr in die Unterkunft. Fotografien einer unveröffentlichten Bildreportage von Paul Senn, um 1950 (Bernische Stiftung für Fotografie, Film und Video, Bern) © Gottfried Keller-Stiftung.

Entsprechend ihrer unterschiedlichen Entstehungs- und Gründungsgeschichten hatten Arbeitsanstalten keine einheitliche Erscheinungsform. Einzelne gingen auf mittelalterliche Spitäler sowie Arbeits- und Zuchthäuser des 17. Jahrhunderts (Schellenwerke) zurück. Im 19. Jahrhundert wurden zudem oftmals alte Gebäude wie Klöster (z.B. Kalchrain, St. Johannsen, Tobel), Herrschaftssitze (z.B. Hindelbank, Uitikon) oder Festungen (z.B. Aarburg) umgenutzt und im Lauf der Jahrzehnte baulich an die sich verändernden Bedürfnisse angepasst. Andere Anstalten, etwa Bellechasse und Murimoos (Muri AG, 1933), entstanden aus Barackensiedlungen, die massgeblich durch die Gefangenen selbst erweitert wurden. Neubauten multifunktionaler Einrichtungen entstanden im Auftrag der kantonalen Strafvollzugsbehörden, so St. Jakob (St. Gallen, 1839) und die Strafanstalt in Lenzburg (1864), aber auch der kommunalen Fürsorge wie Gmünden (Teufen AR, 1884). Die Bestimmungen des schweizerischen Strafgesetzbuchs (1942) hatten mittelfristig vielerorts Baumassnahmen zur Folge, die eine Trennung der Gefangenenkategorien ermöglichen und veraltete Infrastrukturen ersetzen oder ergänzen sollten. Mit den baulichen Anpassungen reduzierten sich in der Regel die Kapazitäten der einzelnen Einrichtungen, während die Kosten der Gefangenenbetreuung zulasten des Bundes und der Kantone anstiegen. Sofern alte Gebäude nicht abgerissen wurden, wurden sie für das wachsende Angebot an Freizeitaktivitäten und Therapiemöglichkeiten oder für Verwaltungsaufgaben genutzt.

Alltag in der Anstalt

Die Arbeitspflicht, die sich im Spannungsfeld von pädagogisch-disziplinierenden Ansprüchen und wirtschaftlichem Nutzen bewegte, bildete stets den Kern des Anstaltsalltags. Aus Sicht von Politik und Behörden sollte diese die Gefangenen an regelmässige, harte Arbeit gewöhnen und sie so befähigen, nach der Anstaltsinternierung den Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Frauen übten bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts überwiegend Tätigkeiten wie waschen, nähen, bügeln und generell Haushalts- und Gartenarbeiten (Hausarbeit) aus. Auch eventuelle Lehrangebote für weibliche Jugendliche bewegten sich in diesen Bereichen. Für Männer und männliche Jugendliche war die Auswahl etwas grösser und mit Tätigkeiten wie jenen in der Schreinerei, Schlosserei, Schneiderei, Schuhmacherei, Korbflechterei, Holzverarbeitung, Land- und Forstwirtschaft und Gärtnerei hauptsächlich auf Handwerksberufe hin orientiert. Die Arbeitsleistung der Internierten diente einesteils der Selbstversorgung der Anstalt, minimierte andernteils mit den Einnahmen von externen Auftraggebern, etwa aus der Textil- oder Elektroindustrie, die Betriebskosten. Verdienstanteile (Pekulium) wurden bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts nur in geringer Höhe an die Insassinnen und Insassen entrichtet; einzelne Anstalten zahlten diese gar nicht aus. Einen Teil der gesprochenen Beträge konnten die Gefangenen als Taschengeld für besondere Anschaffungen (z.B. Toilettenartikel, Tabakwaren) verwenden. Manche Anstalten wie Aarburg oder Uitikon erweiterten ab Mitte des 20. Jahrhunderts die Möglichkeiten für die berufliche Bildung durch externe Lehrlingsstellen, wobei Einrichtungen für weibliche Jugendliche, beispielsweise das Mädchenheim in Richterswil (1881), diese Entwicklung zeitlich verzögert nachvollzogen.

Luftaufnahme der Arbeitsanstalt Realta, 1956, und Insassen bei der Kartoffelernte, im Hintergrund die Burgruine Alt-Süns, um 1950 (Staatsarchiv Graubünden, Chur, StAGR 2015/056).
Luftaufnahme der Arbeitsanstalt Realta, 1956, und Insassen bei der Kartoffelernte, im Hintergrund die Burgruine Alt-Süns, um 1950 (Staatsarchiv Graubünden, Chur, StAGR 2015/056).

Über die Zustände und den Alltag in den Arbeitsanstalten geben Selbstzeugnisse mehrerer Betroffener aus dem 20. Jahrhundert Aufschluss. Alle Einrichtungen funktionierten nach einem System von Sanktionen und Vergünstigungen, wobei dieses in unterschiedlichem Grad ausdifferenziert war. Durch die sozialen Hierarchien (persönliche Beziehungen, Gruppenstatus der Gefangenen usw.) vorgegebene informelle Normen und Regeln prägten den Anstaltsalltag und boten viel Raum für die willkürliche Auslegung der offiziellen Regelwerke (kantonale Verordnungen, Reglemente, Hausordnungen). Besuche, Urlaube, Schreiberlaubnisse und andere Abwechslungen im gewohnten Tagesablauf wurden zur Belohnung gewährt beziehungsweise zur Strafe entzogen. Immer wieder wurde bekannt, dass Anstalten Strafpraktiken anwandten, die zuweilen den Charakter von Folter hatten (Essensentzug, Isolationshaft, Prügel), und administrativ Internierte sexuell oder psychisch missbraucht wurden. Solche Verstösse blieben oftmals ohne Konsequenzen für die Verantwortlichen. Auch Vorwürfe wegen mangelnder Aufsicht fanden kaum Gehör.

Administrativ Internierte lebten in den multifunktionalen Anstalten mit Strafgefangenen unter dem gleichen Regime, sowohl während der Arbeits- und Freizeit als auch während der Mahlzeiten und der Nachtruhe in den Schlafsälen. Eine spezifische Infrastruktur für die einzelnen Gefangenenkategorien oder für die Trennung von älteren und jüngeren Gefangenen war aus Behördensicht lange Zeit kaum nötig, und die Auslastung der Anstalten war eher gewährleistet, wenn eine möglichst diverse Klientel aufgenommen wurde. Die Einzelunterbringung praktizierten vor allem Strafanstalten (z.B. Lenzburg); in anderen Anstaltstypen setzte sie sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vermehrt durch. In kleineren kommunalen Einrichtungen wie in Kalchrain und Uitikon (bis 1926) sowie in Bürgerheimen und Armenhäusern bestanden oft keine gesonderten Frauenabteilungen. Dort, wo sie existierten, etwa in Bellechasse, Bitzi (bis 1952), Gmünden, Lenzburg oder Regensdorf, war die vollständige Trennung der Geschlechter im Anstaltsbetrieb selten gewährleistet.

Junge Frauen bei der Arbeit in der Erziehungsanstalt Lärchenheim in Lutzenberg. Fotografien von Reto Hügin, 25. März 1970 (Ringier Bildarchiv, RBA1-1-8848_2) © Staatsarchiv Aargau / Ringier Bildarchiv.
Junge Frauen bei der Arbeit in der Erziehungsanstalt Lärchenheim in Lutzenberg. Fotografien von Reto Hügin, 25. März 1970 (Ringier Bildarchiv, RBA1-1-8848_2) © Staatsarchiv Aargau / Ringier Bildarchiv. […]

Das Besuchsrecht und das Recht auf privaten Briefverkehr wurden in praktisch allen Anstalten im Lauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sukzessive erweitert. Gleichzeitig etablierte sich der Anspruch der Insassinnen und Insassen auf Urlaube, die – meist gegen Ende der Internierungszeit – der Arbeits- und Wohnungssuche oder Verwandtenbesuchen dienten. Im Sinn der Resozialisierung kamen zudem Modelle der stufenweisen Entlassung in Halbfreiheit und in betreute Wohngemeinschaften oder Wohnheime auf. Ebenso verbreiteten sich neue therapeutische Ansätze, etwa sozialpädagogische und psychotherapeutische Programme. Die Behandlung mit Psychopharmaka liess den Medikamentenkonsum in den Anstalten ansteigen, während Sanktionen wie Kostschmälerung (Essensentzug) allmählich verschwanden. Herausforderungen für die Anstaltsleitungen ergaben sich nach 1950 durch neue Gruppen von Eingewiesenen. In Hindelbank machte beispielsweise die Aufnahme zunehmend jüngerer, als verhaltensauffällig taxierter weiblicher Jugendlicher und ab den 1970er Jahren vermehrt substanzenabhängiger Frauen (Drogen) Anpassungen im Anstaltsalltag notwendig. Nach dem Ende der administrativen Versorgunspraxis 1981 verlegten manche Einrichtungen wie Murimoos oder Richterswil ihren Fokus auf die Betreuung von Menschen mit Beeinträchtigungen auf Grundlage der Invalidenversicherung.

Quellen und Literatur

Weblinks

Zitiervorschlag

Kevin Heiniger; Loretta Seglias: "Arbeitsanstalten", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 22.02.2024. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/060531/2024-02-22/, konsultiert am 17.01.2025.