Winterthur
Version vom: 28.08.2015
Vedute der Stadt Winterthur von Norden. Ölgemälde eines unbekannten Künstlers, 1648 (Winterthurer Bibliotheken, Sammlung Winterthur).
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Autorin/Autor:
Meinrad Suter
Politische Gemeinde des Kantons Zürich, Bezirk Winterthur, seit 1803 Bezirkshauptort. Die Stadt an der Eulach liegt im Übergangsgebiet zwischen dem mittelländisch geprägten Weinland und dem voralpinen Tösstal des Zürcher Oberlands. Sie ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt, vor allem an der Achse in die Ostschweiz. Nach der 1922 durchgeführten Eingemeindung von Oberwinterthur, Seen, Töss, Veltheim und Wülflingen war Winterthur die siebt-, seit 1960 ist es die sechstgrösste Stadt der Schweiz. Die Altstadt und die ehemaligen Vororte bilden den Kern einer Agglomeration von zwölf Gemeinden mit 139'731 Einwohnern (2010). 294 Vitudurum (Oberwinterthur), 843 Venterdura (Oberwinterthur oder Winterthur), 1180 Niderunwinterture, 1209 Winterturo. Französisch Winterthour. Siedlungskontinuität besteht im Gebiet der Altstadt wohl seit dem 6. Jahrhundert. Unter den Grafen von Kyburg entwickelte sich Winterthur zur Stadt, die 1264 von den nachfolgenden Stadtherren, den Grafen von Habsburg, neue Stadtrechtsprivilegien erhielt. Nachdem Winterthur 1417-1442 reichsfrei war, verpfändeten es die österreichischen Herzöge 1467 an die Stadt Zürich. Bis 1798 blieb Winterthur eine zürcherische Munizipal- oder Landstadt. 1798-1803 war es Distriktshauptort. Stürmisch entwickelten sich in Winterthur im 19. Jahrhundert die Textil- und vor allem die Maschinenindustrie. Zentralörtliche Aufgaben erfüllt die Stadt in den Bereichen Gesundheit, höhere Bildung, Musik, Theater und Museen.
Ur- und Frühzeit bis Hochmittelalter
Autorin/Autor:
Meinrad Suter
Erste gesicherte menschliche Spuren, so ein auf etwa 3000 v.Chr. datiertes Grubenhaus in Oberwinterthur, stammen aus der Jungsteinzeit. Spuren bronzezeitlicher Siedlungen sind in Oberwinterthur, Seen und der Altstadt nachgewiesen. Aus der Mittel- bzw. Spätbronzezeit datieren Depotfunde in Wülflingen und Veltheim. Die Eisenzeit ist durch Gräber in Oberwinterthur (um 800 v.Chr.), auf dem Eschenberg (800-450 v.Chr.) und in Töss sowie durch geringe Siedlungsspuren nahe der Altstadt (ab 450 v.Chr.) archäologisch belegt. Hinweise auf eine grössere frühzeitliche Siedlung fehlen, obgleich der Weg durch das Mittelland wohl bereits damals über das spätere Winterthur führte.
Siedlungskontinuität besteht in Oberwinterthur seit dem ersten vorchristlichen Jahrzehnt. Hier entstand das römische Vitudurum, das zur Provinz Germania Superior gehörte und 294 gegen Alemanneneinfälle befestigt wurde. Im Umkreis lagen mehrere grosse Gutshöfe, unter anderem in Neftenbach und Hettlingen. Auch im Gebiet der Altstadt ist römische Siedlungstätigkeit nachgewiesen. Die Marktgasse könnte auf die römische Strasse zurückgehen, der wichtigsten Verbindung zwischen Genfer- und Bodensee.
Den Römern folgten zu Beginn des 6. Jahrhunderts die Franken. Im 6./7. Jahrhundert wurde in Oberwinterthur ein erstes christliches Gotteshaus gebaut. Im Bereich der Altstadt fanden sich aus dieser Zeit romanische und fränkische Gräber sowie Spuren einer dazugehörigen Siedlung. Nach der Einwanderung der Alemannen entstanden im 7./8. Jahrhundert auch in Wülflingen, Veltheim und der späteren Altstadt Gotteshäuser. Im Früh- oder Hochmittelalter verlagerte sich das Siedlungszentrum von Oberwinterthur in die Eulachebene. Welche der beiden Siedlungen im 9. Jahrhundert als Winterthur bezeichnet wurde, bleibt aber unklar. Die älteste Urkunde im Stadtarchiv von 1180 unterscheidet Nieder- von Oberwinterthur.
Winterthur gehörte ab dem 10. Jahrhundert zum Herzogtum Schwaben, das 919 die Expansion Burgunds in der Schlacht bei Winterthur vereitelte. Um 1000 diente das Gotteshaus als Grablege einer Adelsfamilie, deren Namen unbekannt ist. Im 11. Jahrhundert werden Grafen von Winterthur erwähnt, deren Erbe im Gebiet von Kyburg und Winterthur durch Heirat an die Grafen von Dillingen gelangte. Ihre Nachfahren, die Linie der Grafen von Kyburg, entwickelten sich in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts zum mächtigsten Dynastengeschlecht der Ostschweiz. Sie blieben bis zu ihrem Aussterben 1264 Stadtherren und Förderer von Winterthur. Das um 1000 aus Hofgruppen um Gotteshaus und Friedhof bestehende Niederwinterthur liessen sie bis um 1200 planmässig zu einer befestigten Stadt mit Häusern aus Stein und einer Wasserversorgung zwischen heutigem Graben und Neumarkt ausbauen. Das St. Laurentius geweihte, mehrfach vergrösserte und mit einer Taufanlage versehene Gotteshaus wurde 1180 von Oberwinterthur abgetrennt und zur Pfarrkirche erhoben. Die Siedlung dürfte bereits städtische Rechte besessen haben und Marktort gewesen sein.
Herrschaft und Politik vom Hochmittelalter bis zum 18. Jahrhundert
Herrschaftsverhältnisse
Autorin/Autor:
Meinrad Suter
Im Zusammenhang mit der Erbschaftsregelung der Kyburger zerstörten die Winterthurer 1263/1264 eine Festung auf dem Heiligberg. Diese wurde nicht wiederaufgebaut und ihr Standort ist unbekannt. Im Juni 1264 stellte Rudolf von Habsburg, der spätere König, der Stadt einen Stadtrechtsbrief aus, womit er die gegenseitigen Pflichten und Rechte schriftlich festlegte. In den folgenden 200 Jahren stand Winterthur als habsburgische Landstadt im Spannungsfeld zwischen ihrem Stadtherrn, dem Reich und der Stadt Zürich, die ihr Herrschaftsgebiet stark ausweitete. Winterthur wurde auf der Seite Habsburgs in Kriege verwickelt, wiederholt verpfändet und mit Schulden belastet. 1292 fügten die Truppen Herzog Albrechts den Zürchern bei Winterthur eine Niederlage zu.
Neue Möglichkeiten eröffneten sich der Stadt im Konflikt zwischen Herzog Friedrich IV. von Habsburg und dem Reich unter dem Luxemburger König Sigismund. Neben zahlreichen Privilegien, die der König eidgenössischen Orten erteilte, verlieh er dem österreichischen Winterthur 1417 die Reichsfreiheit. Dazu gehörten die hohe und die niedere Gerichtsbarkeit sowie das Steuerrecht. Zudem erwarb Winterthur von den Freiherren von Rosenegg 1424 die Zollhoheit. Vor 1434 erlangte es die niedere, später auch die hohe Gerichtsbarkeit über das Dorf Hettlingen. Die Rückkehr der Habsburger auf den Königsthron zwang die Stadt 1442 zur erneuten Unterwerfung unter den früheren Stadtherrn. Während der Eroberung des Thurgaus belagerten eidgenössische Truppen 1460 auch die Stadt Winterthur. Für 10'000 Gulden verpfändete sie Herzog Sigismund von Habsburg 1467 an die Stadt Zürich, wobei ihre herkömmlichen Rechte und Freiheiten gewahrt werden sollten, so vor allem die innere Autonomie.
1467-1798 war Winterthur eine zürcherische Munizipalstadt (Landstadt). Die grössten Schulden tilgte sie dank des Steuer- und Zollprivilegs bis 1547, Belagerungen musste sie keine mehr erdulden. Allerdings war der Stadt Zürich als Landesherrin zu huldigen und dem militärischen Aufgebot Folge zu leisten. Auch die Kollatur von Winterthur ging 1467 an Zürich, das in der Folge den ersten Stadtpfarrer stellte.
Die Spannung zwischen innerer Autonomie und äusserer Abhängigkeit, dies bei einem wirtschaftlichen und kulturellen Potenzial, in dem Winterthur manch regierendem eidgenössischen Ort nicht nachstand, führte zu Konflikten. So musste die Stadt, nachdem sie 1544 von Kaiser Karl V. die Bestätigung und Erweiterung ihrer Privilegien erlangt hatte, die kaiserliche Urkunde 1549 an Zürich aushändigen. Diese wurde mit einem Schwert durchstochen und so für ungültig erklärt. Ab 1667 hatten die Winterthurer Stadtbürger der Zürcher Obrigkeit wieder den jährlichen Gehorsamseid zu leisten, was zuvor nicht mehr geschehen war. Im 17. und 18. Jahrhundert wurden Versuche der Stadt Winterthur unterbunden, sich weitere Herrschaftsrechte zu sichern oder ihr Territorium auszuweiten. Im sogenannten Fabrikhandel 1715-1719 auferlegte Zürich der Munizipalstadt Fabrikationsbeschränkungen in der aufkommenden Textilindustrie, da sich Winterthurs Freiheit nur auf die im 15. Jahrhundert bekannten, nicht auf neue Wirtschaftszweige beziehe; auch die Errichtung einer Buchdruckerei blieb Winterthur verwehrt. Im Januar 1723 wurde der Winterthurer Schultheiss Hans Georg Steiner vorübergehend in Zürich in Haft gesetzt, weil ihm unerlaubte Beziehungen zum Haus Habsburg vorgeworfen wurden. Der verletzte Korporationsstolz liess noch Ende des 18. Jahrhunderts Stimmen laut werden, welche die Loslösung von Zürich forderten.
Kommunale Verfassung und Institutionen
Autorin/Autor:
Meinrad Suter
Schultheiss, Rat und Bürgerschaft sind ab 1230 fassbar. Der von Rudolf von Habsburg 1264 am Tag des heiligen Albanus, dem 22. Juni, ausgestellte Stadtrechtsbrief befreite die Bürger von fremden Herren und Gerichten und sicherte ihnen Rechte bei der Wahl des Schultheissen zu, dem Vertreter des Stadtherrn. Das Stadtrecht, der Freiheitsbrief von 1275, mit dem die Bürger gleich den Dienstleuten des Stadtherrn das Lehensrecht erhielten, und die Satzungen von 1297 mit ihren straf-, schuld- sowie erbrechtlichen Bestimmungen bildeten die Grundlage für die Rechtsprechung. Sie wurden der Albanigemeinde (der Bürgerversammlung) noch bis 1760 alljährlich vorgelesen.
Bedeutenden Einfluss übten in Winterthur bis zur Erlangung der Reichsfreiheit 1417 der Stadtherr und seine adligen Gefolgsleute wie die Herren von Sal und von Huntzikon aus, die über mehrere Generationen hinweg den Schultheissen stellten. Die Versuche der städtischen Handwerker, 1342, 1352 und 1410 eine Zunftordnung zu errichten, scheiterten. Die fünf Zünfte mit ihren Stuben blieben gesellschaftliche Einrichtungen ohne institutionelle Macht. 1417 wurden Schultheiss und Rat Nachfolger des Stadtherrn. Sie konnten auch nach dem Übergang an Zürich 1467 im Inneren weitgehend unabhängig handeln.
Das Regiment bestand aus Schultheiss, Kleinem und Grossem Rat sowie dem Stadtgericht und umfasste mit der Kanzlei 68 Personen. Die Rechte der Bürgerschaft beschränkten sich im 17. und 18. Jahrhundert auf die Wahl des Schultheissen. Der Schultheiss war im Wechsel mit dem Altschultheissen für ein Jahr Repräsentant der Stadt. Beide bildeten zusammen mit elf Ratsherren den Kleinen Rat. Dieser tagte dreimal wöchentlich, ergänzte sich bei Vakanzen selbst, wählte die Grossräte und bereitete die Gesetze vor. Er vergab auch die niederen Ämter an die Stadtbürger und war Verwaltungs- sowie Frevelgericht. Kleinräte standen den meisten der Stadtämter vor, von denen das Seckel- und das Spitalamt die wichtigsten waren. Der 40-köpfige Grosse Rat tagte nur wenige Male jährlich zusammen mit dem Kleinen Rat. Der vereinigte Rat urteilte als Blutgericht, erliess die Gesetze und wählte die Vorsteher der städtischen Ämter. Klein- und Grossräte bildeten weitere Gerichtsorgane, unter anderem beaufsichtigten sie mit den beiden ersten Pfarrern als Ehegericht das kirchliche und sittliche Leben. Zu Angehörigen des Regiments, ohne Ratsherr zu sein, konnten die Bürger als Stadtrichter werden. Das Stadtgericht urteilte unter dem Vorsitz eines Grossrats über Schuldstreitigkeiten.
Von den Kommissionen war die Rechenstube, die als oberste Finanzbehörde über den Ämtern stand, die bedeutendste. Bereits im 15. Jahrhundert bezog die Stadt eine jährliche Bürgersteuer. Ab dem 16. Jahrhundert wurde Winterthur zu einer vermögenden Gemeinde, die ihr Geld, soweit dies Zürich zuliess, in Herrschaftsrechten und Grundrenten anlegte. So kaufte sie 1583 verschiedene Güter von Hans Ulrich von Hinwil, 1598 die Mörsburg mit dem Meieramt Oberwinterthur, 1629 die Gerichtsherrschaft Pfungen und 1649 das Schloss Widen. Hingegen unterband die Zürcher Obrigkeit 1587 den Erwerb von Schloss und Herrschaft Hegi.
Wirtschaft und Gesellschaft vom Hochmittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts
Die Stadt und ihre Einwohner
Autorin/Autor:
Meinrad Suter
Die im Stadtrechtsbrief von 1264 als Teile des städtischen Friedkreises erwähnten Vorstädte waren um 1300 in die Befestigungsanlagen einbezogen. Ab 1482 gehörten sie zum Sprengel der Stadtkirche. König Friedrich III. vergrösserte 1442 den Friedkreis der Stadt; dieser reichte fortan ca. 1 km über die Stadtmauern hinaus. Baulich erfuhr Winterthur bis ins 19. Jahrhundert keine Erweiterung mehr. Die Befestigung wurde aber im 17. Jahrhundert verstärkt. Ausserhalb der Stadtmauern lagen an der Eulach mehrere Mühlen und Bleichen, im Norden die Kapelle und das Siechenhaus St. Georgen.
Kirchlich löste Winterthur nach 1275 Dinhard als Dekanatsort ab. 1334-1337 war es Sitz des Bischofs von Konstanz, Nikolaus von Frauenfeld, der im Streit mit der dortigen Bürgerschaft lag. Ab 1260 ist am Kirchhof eine Sammlung von Beginen erwähnt, die mit dem Dominikanerorden verbunden war und zu Beginn des 14. Jahrhunderts von den Zürcher Predigern betreut wurde. In Stadtnähe entstanden um 1225 das Chorherrenstift Heiligberg und 1233 das Kloster Töss, beide gestiftet von den Grafen von Kyburg. Die 1318 errichtete Kapelle und Einsiedelei auf dem Beerenberg bei Wülflingen stand bei ihrem Ausbau zum Kloster Mariazell in den 1360er Jahren unter dem Schutz der Herzöge von Österreich. Sämtliche Klöster wurden in der Reformation, der sich Winterthur ohne Widerstand anschloss, 1523-1527 aufgehoben.
Der innere Ausbau der Stadt, unterbrochen durch mehrere Brandkatastrophen, scheint um 1350 vorerst zu einem Abschluss gekommen zu sein. Um 1300 dürfte bereits ein Spital bestanden haben. Die Armenfürsorge wurde schon vor der Reformation vor allem durch die Stadt besorgt. Judenpogrome sollen gemäss chronikalischer Überlieferung 1349 und 1401 stattgefunden haben.
Im 15. Jahrhundert zählte die Stadt etwa 2200 Einwohner. 1437 liess sie ein neues Rathaus bauen. Zwischen 1486 und 1518 erfolgte der Ausbau der Stadtkirche. 1503 wurde das als Waaghalle und Kaufhaus dienende Waaghaus sowie 1541 das Zürcher Amtshaus erstellt. Bis 1600 stieg die Zahl der Einwohner auf etwa 2400 und bis Ende des 18. Jahrhunderts auf etwa 3000, darunter rund 400 Nichtbürger, vornehmlich Dienstpersonal. Ab dem 17. Jahrhundert nahm Winterthur kaum noch Neubürger auf. Im 18. Jahrhundert entstanden vor allem an der Marktgasse bedeutende Bürgerhäuser. Hier wurde das Rathaus 1782-1784 vollständig erneuert und das obere Spital 1788-1790 ausgebaut. Ausserhalb der Stadt liessen reiche Bürger Landsitze errichten, so unter anderem die Häuser zum Schanzengarten (um 1740), zur Pflanzschule (1771-1772) oder zum Lindengut (um 1790).
Nach 1500 waren vergleichsweise viele Familien an der städtischen Regierung beteiligt, weil die hohe Sterblichkeit das Entstehen von Ratsgeschlechtern verhinderte; allein der Pestzug von 1611 raffte annähernd die Hälfte der Bevölkerung dahin. Zwischen 1650 und 1730 bildete sich eine neue Führungsschicht einiger weniger wohlhabender Familien wie der Biedermann, Ernst, Hegner, Künzli, Steiner, Sulzer und Ziegler sowie später der Reinhart. Sie bestimmten im Rat die Geschicke der Stadt und förderten, oft am Pietismus orientiert, Kultur und Bildung. Das 1629 gegründete Musikkollegium pflegte zunächst den Kirchengesang, später intensiv die weltliche Instrumentalmusik. Die Stadtbibliothek entstand 1660, die Reihe der von ihr herausgegebenen Neujahrsblätter 1665. Die Schulreform 1664 brachte den obligatorischen Unterricht und wandelte die Lateinschule in ein Gymnasium um. Weitere Reformen förderten 1774 die weltliche Ausrichtung des Lehrplans und beseitigten 1789 das Schulgeld. Die führenden Familien unterhielten enge Beziehungen zur Welt der Aufklärung und zum "geistigen Zürich" um Johann Jakob Bodmer und Johann Kaspar Lavater. Die in Winterthur aufgewachsenen Anton Graff und Johann Georg Sulzer waren für die Malerei bzw. für die Philosophie von europäischer Bedeutung.
Wirtschaft
Autorin/Autor:
Meinrad Suter
Die Urkunde von 1180 erwähnt ausser adligen Dienstleuten und Bauern insbesondere auch mercatores (Händler, Kaufleute), zu denen wohl die Handwerker zu zählen sind. Die Stadt genoss vermutlich bereits unter den Grafen von Kyburg Marktrecht und Gewerbefreiheiten, die dann im Stadtrechtsbrief von 1264 erweitert wurden. Dieser bestätigte unter anderem die Nutzungsrechte im Eschenbergwald, womit die Holzversorgung der Stadt gesichert und deren reicher Waldbesitz begründet wurde.
Werkstätten von Handwerkern, vor allem Hafnereien und Webkeller, sind archäologisch für das 14. Jahrhundert bezeugt. Auf seinem Höhepunkt stand das Handwerk im 16. und 17. Jahrhundert. Einen ausgezeichneten Ruf genossen die Ofenbauer Pfau, die Uhrmacher Liechti und die Glasmaler Jäggli. Das Marktrecht privilegierte das städtische Handwerk im Umkreis von zwei Stunden, verhinderte aber nicht dessen Stagnation im 18. Jahrhundert. Für die mehrheitlich aus Handwerkern bestehende Bürgerschaft blieb die Landwirtschaft bis ins 19. Jahrhundert als Nebenerwerb wichtig. Verbreitet war der Besitz von Rebland an den Hängen um Winterthur. Die Aufhebung der Allmend vor der Stadt gelang 1802 nur gegen Widerstand.
Die ersten protoindustriellen, von der Stadt geförderten Betriebe stellten im 16. und 17. Jahrhundert Hanfschnüre für den Export her. Im 17. Jahrhundert erwirtschafteten Fabrikanten und Kaufleute durch die Herstellung von Tuch und den Handel mit Leinwand, später mit Wolltüchern sowie vor allem mit Salz grosse Vermögen. Das Monopol für die Salzeinfuhr aus Bayern und Tirol in die Eidgenossenschaft lag zeitweise in der Hand der Winterthurer Familie Steiner. Die Steiner eröffneten in Winterthur um 1680 eine Manufaktur zur Fertigung von Gold- und Silberfäden und exportierten diese bis nach Indien. Um 1700 folgte die Verarbeitung von Baumwolle und Seide. Gleichzeitig aber wurde die weitere protoindustrielle Entwicklung durch Zürich unterbunden. Nach dem Fabrikhandel 1715-1719 war den Winterthurer Unternehmern gleich wie den ländlichen Verlegern nur noch die Rohverarbeitung von Baumwolle erlaubt, die Seidenfabrikation verboten. Der Aufbau einer Zürich konkurrierenden Textilindustrie blieb ihnen damit verwehrt, nicht aber der Ausbau der Handelsbeziehungen mit nichtzürcherischen Gebieten. Die Stadt entwickelte sich zur führenden Rohstofflieferantin der Ostschweizer Textilfabrikationsgebiete. Nach 1750 betätigten sich 15 bis 20 Firmen im Fernhandel, unter anderem mit Kolonialwaren, Wolle, Baumwolle und Baumwollgespinsten. Ferner entstand 1778 das Laboratorium als erste chemische Fabrik der Schweiz.
1790 waren rund 80 der 600 Aktivbürger im Handel tätig und Winterthur galt als eine der wirtschaftlich blühendsten Städte der Schweiz. 1801 wurden 280 Handwerksbetriebe sowie 125 Handelshäuser, Spezereiläden oder Ellenwarenhandlungen unterschiedlicher Grösse gezählt.
Politik und Verwaltung ab 1798
Kommunale Verfassung und Behörden
Autorin/Autor:
Meinrad Suter
Die Helvetische Revolution beendete am 5. Februar 1798 die Herrschaft der Stadt Zürich. Der Rat von Winterthur übergab am 7. Februar 1798 seine Macht der Bürgerschaft und entliess Hettlingen aus der Untertänigkeit. Die von den Ortsbürgern gewählte provisorische Stadtregierung wurde 1799 von einer Gemeindekammer und einer Munizipalität abgelöst. Die Gemeindeordnungen von 1803 und 1816 erliess der Kanton Zürich, jene von 1831 und 1839 gab sich die Bürgerschaft im Rahmen der kantonalen Vorschriften. Zu Kontroversen führten nach 1810 die noch nicht völlig geheimen Stadtratswahlen und die Kompetenzen der Gemeindeversammlung. 1816 waren die Wahlen geheim, aber das Recht der Bürgerschaft beschränkte sich auf die Einsetzung eines Wahlkollegiums, das den engeren Stadtrat wählte, und auf die Bewilligung von kommunalen Steuern. Erst ab 1831 entschied die Gemeindeversammlung in allen wichtigen Wahl- und Sachgeschäften. 1839 wurde die Verwaltung der bisherigen Ämter in je ein Armen-, Kirchen-, Schul- sowie Gemeindegut zusammengefasst und die Rechnungsführung zentralisiert.
Mehrere um 1860 erlassene kantonale Gesetze stärkten in Winterthur die Primarschul- und die Kirchgemeinde. Die Ablösung der Bürger- durch die Einwohnergemeinde 1866 verdoppelte auf kommunaler Ebene die Zahl der Stimmberechtigten. Bürgersache blieb bis 1913 die Stadtbibliothek, bis 1928 das Armenwesen und bis 2006 die Erteilung des Bürgerrechts. Die Industrialisierung und das starke Bevölkerungswachstum waren Gründe für die neuen Gemeindeordnungen von 1873, 1880 und 1895. 1873 wurde die Urnenwahl des Stadtrats eingeführt. 1880 trat ein Gemeindeausschuss von 31 Mitgliedern mit parlamentarischen Funktionen zwischen den Stadtrat und die Gemeindeversammlung. Dieser wurde 1895 durch einen Grossen Stadtrat von 45 Mitgliedern ersetzt.
Die Gemeindeordnung von 1921 beseitigte die Gemeindeversammlung und schuf im Hinblick auf die Eingemeindung einen Stadtrat von sieben sowie einen Grossen Gemeinderat von 60 Mitgliedern. Auch machte sie den Weg frei zum Entscheid an der Urne für Sachgeschäfte. 1922 wurden Oberwinterthur, Seen, Töss, Veltheim und Wülflingen eingemeindet und die gleichnamigen Stadtkreise gebildet. Das um 1960 erneut einsetzende starke Wachstum führte Ende 1972 zur Erhöhung der Finanzkompetenzen der Behörden und zur Schaffung des Stadtkreises Mattenbach. Die Gemeindeordnung von 1989 richtete sich nach dem Modell der wirkungsorientierten Verwaltungsführung aus.
Politische und soziale Kräfte
Autorin/Autor:
Meinrad Suter
Verschiedene Bürgerbewegungen zeugen in Winterthur vom 1798 einsetzenden demokratischen Leben. Zunächst helvetisch gesinnt, lehnte Winterthur spätestens nach dem Gefecht zwischen österreichischen und französischen Truppen im Zweiten Koalitionskrieg bei Winterthur Ende Mai 1799 die Helvetische Republik grossmehrheitlich ab. Zu einer sozialen Umwälzung führte die Helvetik nicht, ebenso verlief die Ablösung der politisch führenden Persönlichkeiten fliessend. Zwischen 1798 und 1803 waren der letzte Schultheiss Christoph Ziegler sowie die früheren Kleinräte Hans Ulrich Kaufmann und Johann Heinrich Steiner Präsidenten der Stadtbehörden.
Gespannt war das Verhältnis zum Kanton Zürich nach 1803, weil Winterthur zwar bedeutende Lasten trug, anders als die Hauptstadt aber keine städtischen Sonderrechte erhielt. Um die Dominanz Zürichs zu brechen, trat Winterthur 1830 auf die Seite der Landschaft, war nach dem Straussenhandel und Züriputsch 1839 Zentrum der Opposition und setzte sich für einen starken Bundesstaat ein. 1836 wurde das liberale Wochenblatt "Der Landbote" gegründet. Das "Literarische Comptoir" verlegte 1841-1845 radikale politische und theologische Schriften. Der Winterthurer Jonas Furrer wurde 1845 zum Bürgermeister des Kantons Zürich und 1848 zum ersten Bundespräsidenten gewählt. Die Kantonsverfassung von 1869 unterzeichneten Johann Jakob Sulzer als Präsident und Ludwig Forrer als Erster Sekretär des Verfassungsrats, die Bundesverfassung von 1874 Gottlieb Ziegler als Nationalratspräsident. Diese Verfassungen waren eine Folge der von Winterthur ausgegangenen Demokratischen Bewegung, die das sogenannte System von Alfred Escher, dessen wirtschaftspolitische Machtkonzentration, überwanden. Der politische Aufstieg endete 1878 mit dem Konkurs der von Winterthur getragenen Schweizerischen Nationalbahn. Zwar verfügte die demokratisch und sozial orientierte sogenannte Ecole de Winterthour um Ludwig Forrer, Bundesrat 1903-1917, noch immer über Einfluss, aber eine besondere politische Kraft war Winterthur keine mehr.
Der im Inneren bis um 1860 vorherrschende alte Ortsbürgergeist wurde durch die Interessen einzelner Gruppen wie der Fabrikanten, des Gewerbes und der Arbeiterschaft sowie von den aufkommenden politischen Parteien des Industriezeitalters abgelöst. Gegen die Demokraten regte sich eine liberale Opposition. 1871 wurde eine erste Arbeiterunion gegründet. Zwar traten die Klassengegensätze weniger scharf hervor als andernorts – der Arbeitsfrieden in der Schweiz wurde durch das Abkommen der Maschinenindustrie mit den Gewerkschaften im Lohnstreit bei Sulzer 1937 angebahnt – aber heftige Arbeitskämpfe, namentlich der Bauarbeiter 1909-1910 und 1919-1920, gab es auch in Winterthur.
Im 20. Jahrhundert zeichneten sich die politischen Verhältnisse durch Stabilität aus. Stärkste Einzelkraft war erstmals 1895 die Sozialdemokratische Partei (SP), seit der Einführung des Proporzes 1919 stets; die Mehrheit im Gemeinde- und Stadtrat aber blieb lange bürgerlich. Die Stadtpräsidenten, oft lange im Amt (so Rudolf Geilinger 1879-1911, Hans Sträuli 1911-1930, Hans Rüegg 1939-1966 und Urs Widmer 1966-1990), gehörten 1858-2002 den Demokraten bzw. Freisinnigen an, die sich in Winterthur erst 1971 zur Freisinnig-Demokratischen Partei vereinigten. 2006-2014 stellten die SP und die Grüne Partei die Mehrheit im Stadtrat.
Keinen Erfolg hatten die Kommunistische Partei und die rechtsradikalen Fronten, die 1922-1934 sowie 1946-1958 bzw. 1934-1938 einige wenige Gemeinderäte stellten. 1934 kam es zu einem Zusammenstoss zwischen Frontisten und Arbeitern in Töss. 1942 ging die Polizei gegen Kommunisten vor. Für Aufsehen sorgte nach 1970 das Divine Light Zentrum, das unter anderem den Bombenanschlag gegen Regierungsrat Jakob Stucki in Seuzach zu verantworten hatte. Eigentliche Jugendunruhen gab es in Winterthur keine, wohl aber 1970-1984 Jugendproteste und zuletzt während der Achtziger Bewegung auch Straftaten, die als "Winterthurer Ereignisse" bekannt wurden.
Finanzen, städtische Werke und Infrastruktur
Autorin/Autor:
Meinrad Suter
Die Helvetik belastete Winterthur durch Einquartierungen und Requisitionen stark. Um 1850 galt die Stadt als die wohlhabendste Gemeinde im Kanton Zürich. Die Haupteinnahmen bildeten die Erträge des Gemeindeguts und eine Vermögenssteuer, die 1807-1839 sowie ab 1875 erhoben wurde. Stadtbürger erhielten bis 1869 den Bürgernutzen. Ein kantonales Gesetz ermöglichte 1894 die Einführung von kommunalen Einkommenssteuern.
Die grossen Vorhaben in der Wachstumsphase nach 1860, vor allem aber das Scheitern des ehrgeizigen, mit Gemeindegeldern finanzierten Schweizerischen Nationalbahnprojekts führten zum Ende des "reichen" Winterthur. Der Konkurs der Nationalbahn 1878 stürzte die Stadt in Schulden, die erst 1953 getilgt waren. Sobald bedeutende finanzielle Aufgaben anstanden wie nach der Eingemeindung 1922 und in der Krise nach 1930, stieg die ungedeckte Schuld, aber auch erneut in der Wachstumsphase nach 1955, in den Rezessionen nach 1972 und 1980 sowie in der Strukturkrise nach 1990. Stets lag die Steuerkraft pro Einwohner seit 1956 unter dem kantonalen Mittel. In der Regel war Winterthur auf den kantonalen Finanzausgleich angewiesen, was die kommunale Autonomie einschränkte. Seit 2012 erhält die Stadt einen Zentrumslastenausgleich, sieht sich aber durch das seit 2000 anhaltende Bevölkerungswachstum und den damit einhergehenden Infrastrukturausbau erneut vor finanzielle Probleme gestellt.
Die städtischen Werke entstanden 1872 mit der Übernahme der 1859 errichteten Gasfabrik. Die Öllampen von 1821 wurden 1860 durch Gaslaternen abgelöst. Mit dem Anschluss an das Verbundnetz für Gas endete 1969 die städtische Gasproduktion. 1827-1841 wurde der durch die Gassen fliessende Stadtbach eingedolt und das Abwasser durch weitere damals angelegte Kanäle in die Eulach geleitet. Ab 1873 ersetzte die Hauswasserversorgung jene an den öffentlichen Brunnen. Ein neues Kanalnetz entstand ab 1886, ein erstes Klärbecken 1893. Die Kläranlage Hard nahm 1951 den Betrieb auf, die Kehrichtverbrennungsanlage 1965, die damit die Deponien unter anderem in Dättnau (bis 1959) und Riet bei Oberwinterthur (ab 1914) ablöste. Sie produziert seit 1985 auch Fernwärme und seit 2009 Strom. 1972 wurden das 1904 gegründete Elektrizitäts-, das Gas- und das Wasserwerk zu den städtischen Werken zusammengefasst.
Die Erschliessung der stadtnahen Gemeinden begann mit der 1898 eröffneten elektrischen Tramlinie nach Töss. 1915 wurde Wülflingen, 1922 Seen und 1931 Oberwinterthur an das Tramnetz der städtischen Strassenbahn angeschlossen. 1938-1951 ersetzten nach und nach Trolleybusse das Tram.
Die 1864-1915 betriebene Bad- und Waschanstalt in der Altstadt gilt als erstes Hallenbad, das 1911 eröffnete Bad Geiselweid als erstes grosses künstliches Freibad der Schweiz. Dieses ergänzte die Stadt 1974 mit einem Hallenbad. Das Natureisfeld Zelgli wurde 1956 durch die Kunsteisbahn abgelöst und diese wiederum 2002 durch die Eishalle Deutweg. Die ab 1837 bestehende Schiessanlage auf der Schützenwiese wurde 1870 in die Äckerwiesen und von dort 1958 ins Ohrbühl verlegt. Auf der Schützenwiese richtete der FC Winterthur 1911 den Fussballplatz ein, die Tennisplätze entstanden 1927 und die erste Eulachhalle 1971.
Winterthur war ab 1849 eidgenössischer Waffenplatz, bis 1900 der Kavallerie, die 1861-1862 eine Kaserne erhielt, und 1926-1971 der Radfahrertruppen. Die 1894 vom Bund errichteten und 1917 erweiterten eidgenössischen Zeughäuser wurden 2005 geschlossen. Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich nahm seine Tätigkeit in Winterthur 1995 auf und 2008 verlegte die internationale Organisation Club of Rome ihren Sitz von Hamburg nach Winterthur.
Wirtschaft und Gesellschaft ab 1798
Siedlung und Bevölkerung
Autorin/Autor:
Meinrad Suter
1835 beschloss die Gemeinde die Entfestigung der Stadt. Bis 1840 waren die meisten und bis 1871 alle Wehranlagen beseitigt. Vor der Stadt entstanden Wohnhäuser in durchgrünter Lage. 1845 wurde Winterthur in einer Beschreibung des Kantons Zürich als eine besonders schöne Stadt der Schweiz beschrieben. Mit der Totalbereinigung des Grundkatasters und der Vermessung des Stadtbanns 1860-1862 sowie mit Bauordnungen für die Neuwiesen 1862 und für das Tössfeld 1873 setzte die Planung neuer Stadtteile ein. 1870-1910 wuchs die Bevölkerung innerhalb der Altstadt von 5500 auf 7000 und ausserhalb von 3900 auf 18'200 Einwohner.
Zwischen 1880 und 1910 entwickelte sich Winterthur von einer industrialisierten Gewerbestadt zur Industriestadt. Die Fabriken der Giesserei Sulzer an der Zürcherstrasse Richtung Töss, die Schweizerische Lokomotiv- und Maschinenfabrik mit den Reihenhäusern für die Arbeiterfamilien im Tössfeld sowie die Fabrikgebäude und Arbeiterhäuser von Rieter in Töss bildeten das grösste Industriegebiet der Schweiz. Auch Veltheim verschmolz mit Winterthur. Nördlich der Stadt entstanden Villenquartiere und ein beachtenswertes Ensemble öffentlicher Bauten, unter anderem mit dem Altstadtschulhaus (1861-1864) von Ferdinand Stadler, dem Stadthaus (1864-1869) von Gottfried Semper und dem Kunstmuseum (1913-1916) von Robert Rittmeyer. Der Stadtpark wurde 1900-1905 angelegt. Ein bedeutender Eingriff in das Stadtbild war die Eindolung der Eulach am Untertor 1911-1912.
Die Eingemeindung 1922 verdoppelte die Bevölkerungszahl auf 50'000. Die weitere Siedlungsentwicklung folgte der Gartenstadtidee. Neue Wohnquartiere liessen die Stadt mit Wülflingen und mit Oberwinterthur, wo die Firma Sulzer ab 1911 weitere grosse Industrieanlagen errichtete, zusammenwachsen. Nach 1960 schob sich das Mattenbachquartier mit den ersten Hochhäusern (1960-1963) im Gutschick zwischen die Stadt und Seen, die Zahl von 80'000 Einwohnern wurde überschritten. Das 1966 von Sulzer als Firmensitz erstellte Hochhaus westlich des Bahnhofs blieb bis 2003 mit gut 92 m das höchste Gebäude der Schweiz.
1973 zählte Winterthur 94'100 Einwohner, nach der folgenden Krise 1985 noch 86'000. Die Deindustrialisierung durch den Wegzug der Schwerindustrie aus Winterthur brachte nach 1990 die Umnutzung grosser Industriebrachen. Das Sulzer-Areal im Tössfeld wurde zu einem gemischt genutzten Stadtteil, in Bahnhofsnähe entstanden Dienstleistungsbauten, unter anderen das von der Swisscom 1996-1999 errichtete Geschäftshochhaus. 2000-2012 stieg die Einwohnerzahl durch Zuwanderung von 91'000 auf 106'000. In Oberwinterthur plant die Stadt mit der Zone Neuhegi-Grüze ein zweites urbanes Zentrum, dessen Kern das ehemalige Sulzer-Gelände bildet und dessen Überbauung mit Wohn- und Geschäftshäusern voranschreitet.
Die meisten Bürger von Winterthur verfügten im 19. Jahrhundert über eine gesicherte Existenz oder konnten in Not auf Unterstützung durch die Stadt zählen. Schlechter gestellt waren die Niedergelassenen, die 1850 bereits die Mehrheit bildeten. Zur Bekämpfung der Armut in der Stadt und auf dem Land gründeten Winterthurer Honoratioren 1812 eine private Hülfsgesellschaft. Die Krankenanstalt ging 1872 von der Bürgergemeinde an die politische Gemeinde über. Sie erhielt 1876 einen Neubau im äusseren Lind und wurde 1886 zum Kantonsspital umgewandelt. Im gleichen Jahr richtete Winterthur eine städtische Einwohnerkrankenpflege ein. Das Waisenhaus und die Altersheime wurden 1929 als Folge des neuen kantonalen Armenrechts zu Institutionen der politischen Gemeinde.
Massnahmen gegen die Arbeitslosigkeit ergriff Winterthur früher als andere Städte, indem es 1897 das Arbeitsamt, 1927 die Arbeitslosenkasse und 1931 auch eine mit einem teilweisen Versicherungsobligatorium verbundene Krankenkasse gründete. Wichtig waren diese Einrichtungen in der grossen Krise nach 1930, als 25% der Berufstätigen in Winterthur ganz oder teilweise von Arbeitslosigkeit betroffen waren (1934).
Die Stadt begegnete der Wohnungsnot im 20. Jahrhundert durch den Erwerb von Boden und vor allem durch die Förderung des privaten sowie genossenschaftlichen Wohnungsbaus. Auf Initiative der Hülfsgesellschaft wurde 1872 die Gesellschaft zur Erstellung billiger Wohnhäuser gegründet. Die Bautätigkeit war in der Zwischenkriegszeit weitgehend von den subventionierten Genossenschaften getragen.
Stadtentwicklung von Winterthur 1850-2000
[…]
Der Ausbau der städtischen sozialen Dienste setzte nach 1960 ein, wegen der Alterung der Bevölkerung zunächst in der Altersfürsorge. 1963 wurde das Jugendhaus an der Steinberggasse als eines der ersten derartigen Häuser in der Schweiz eröffnet, 1971 eine städtische Beratungsstelle für Jugendliche eingerichtet, die sich stark mit Drogenproblemen zu befassen hatte. Die Rezession nach 1973-1974 traf oft Ausländer und Alleinstehende. Nach 1990 stiegen die Sozialausgaben erneut, ohne dass in den konjunkturstarken Jahren eine Besserung eingetreten wäre. Das ehemals industrielle Winterthur war von der Strukturkrise besonders betroffen.
Wirtschaft und Verkehr
Autorin/Autor:
Meinrad Suter
Die neue Gewerbe- und Niederlassungsfreiheit ermöglichte 1802 den Bau der mechanischen Spinnerei im Hard in Wülflingen, der ersten allein durch Wasserkraft betriebenen Fabrik in der Schweiz. Anders als die Fabrikanten und Handelsherren, die 1801 eine kaufmännische Gesellschaft gründeten, lehnten die städtischen Handwerker die Gewerbefreiheit noch 1831 ab, taten sich aber 1833 unter Führung des Unternehmers Jakob Ziegler in einem Verein zur Förderung von Handwerk und Industrie zusammen. Unter dem Gewerbe nahm im 19. Jahrhundert die Lithografie eine besondere Stellung ein, vor allem die von Jakob Melchior Ziegler und Johann Ulrich Wurster 1842 gegründete Kartenanstalt Wurster & Cie.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts war Winterthur einer der wichtigsten Handelsplätze für Rohbaumwolle. Winterthurer Firmen produzierten nun auch Baumwollprodukte für den Export. Das 1851 gegründete Handelshaus der Gebrüder Volkart entwickelte sich zur Pionierin des Handels mit Indien. Die 1862 zu dessen Finanzierung ebenso wie der Industrie und der Eisenbahn gegründete Bank in Winterthur fusionierte 1912 mit der Toggenburger Bank zur Schweizerischen Bankgesellschaft. Weltweite Bedeutung erlangten die 1875 gegründeten Winterthur Versicherungen (seit 2007 AXA Winterthur).
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelte sich Winterthur zu einem Eisenbahnknotenpunkt. Eröffnet wurden 1855 die Strecken Winterthur-Romanshorn und Winterthur-Oerlikon, 1856 der Anschluss nach Zürich und Winterthur-St. Gallen, 1857 die Rheinfallbahn Winterthur-Schaffhausen, 1875 die Nationalbahn Winterthur-Etzwilen-Singen und Etzwilen-Stein am Rhein, 1875 die Tösstalbahn Winterthur-Bauma-Rapperswil und schliesslich 1876 Winterthur-Töss-Bülach-Koblenz. Im Bereich des Strassenverkehrs erhielt Winterthur 1968 gleich vier Anschlüsse an die Autobahn A1 Zürich-St. Gallen, von der es im Westen und Norden umfahren wird; kurz nach Winterthur verzweigt sich diese nach Frauenfeld (1972), Schaffhausen (1996) und Konstanz (2002). Die Eröffnung des Zürcher S-Bahn-Netzes 1990 vergrösserte die Pendlerströme markant. Die Altstadt ist seit 1987 verkehrsfrei.
Um 1910 war Winterthur eine Industriestadt, in der die Maschinenindustrie den Baumwollhandel und die Textilfabrikation als wichtigsten Wirtschaftszweig abgelöst hatte. Rieter mit seinen Spinnereimaschinen, Sulzer mit den Dieselmotoren und die SLM (seit 2005 Stadler Winterthur AG) mit dem Lokomotivbau wurden zu weltweit tätigen Unternehmen, welche die Stadt im 20. Jahrhundert stark prägten. Bedeutend waren ferner mittelgrosse Firmen wie die 1843 entstandene Brauerei Haldengut oder die 1845 gegründete Stahlbaufabrik Geilinger.
Die Demokraten förderten das Genossenschaftswesen. Gegründet wurden 1868 der Konsumverein Winterthur und 1886 der Volg als erster Verband landwirtschaftlicher Genossenschaften in der Schweiz. 1906 schlossen sich auch die Milchproduzenten von 237 Genossenschaften zum Verband nordostschweizerischer Käserei- und Milchgenossenschaften zusammen und nahmen Sitz in Winterthur.
Wegen der einseitigen Exportorientierung der grossen Firmen traf die Krise der 1930er Jahre Winterthur hart. Die Industrie stand in der Hochkonjunktur nach 1960 auf ihrem Höhepunkt, und noch 1980 beschäftigte diese über 50% der Erwerbstätigen. Massiv wirkte sich die Deindustrialisierung mit dem Ende der Schwerindustrie nach 1990 aus, sie bedeutete das Ende langer wirtschaftlicher Kontinuität. 1985-2001 sank die Zahl der Beschäftigten im 2. Sektor von 23'005 auf 11'656. Die grossen, mit dem Namen der Stadt verbundenen Unternehmen wurden geteilt, änderten ihre Geschäftsfelder und ihre Besitzer oder verschwanden. Das Firmenimperium Erb, das aus einer 1920 gegründeten Autowerkstätte hervorgegangen war, ging 2003 Konkurs. An Bedeutung gewannen die Hightechindustrie (Medizintechnik, Mechatronik und Präzisionsinstrumente) sowie die Bereiche Gesundheit und Bildung. Der Technopark Winterthur wurde 2002 gegründet. Die grössten Arbeitgeberinnen waren 2012 die Stadtverwaltung und die AXA Winterthur.
Kirche, Bildung und Kultur
Autorin/Autor:
Meinrad Suter
Die Verselbstständigung der reformierten Kirchgemeinde war ein längerer, nicht immer konfliktfreier Prozess. Eine Kirchenpflege wurde 1800 geschaffen, aber der Stadtpräsident blieb bis zur Eingemeindung 1922 Leiter der Kirchgemeindeversammlung. Danach bestanden die Kirchgemeinden der Stadt und der eingemeindeten Vororte fort. Sie bilden seit 1932 einen Verband, dem sich 1963 die neue Kirchgemeinde Mattenbach anschloss.
Zur 1862 entstandenen katholischen Kirchgemeinde St. Peter und Paul, bis 1963 neben Dietikon und Rheinau die einzige im Kanton Zürich mit öffentlich-rechtlicher Anerkennung, gehörten 2012 die acht städtischen Pfarreien, unter ihnen die 1946 gegründete Missione Cattolica. 2011 waren 12% der Bevölkerung Muslime, die für ihre Verstorbenen ein eigenes Grabfeld beim Friedhof Rosenberg erhielten.
Die Bürgerschule galt um 1840 als vorbildlich, weniger die 1810-1860 bestehende Schule für die nicht eingebürgerten Ansässen. Auf der Volksschulstufe beseitigte das kantonale Schulgesetz 1859 letzte Sonderrechte. 1880 wurden die Schulgemeinden mit der politischen Gemeinde vereinigt. Das 1862 aus dem Knabengymnasium und der Industrieschule entstandene städtische Gymnasium wurde 1919 kantonalisiert, die Mädchenschule 1975. Eine Gewerbeschule entstand 1835. Verschiedene Trägerschaften schufen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitere Berufs- und Fortbildungsschulen, der Kanton gründete 1874 das Technikum. Das Berufslager Hard für arbeitslose Metallarbeiter, die spätere Technische Fachschule, wurde 1935 eröffnet. Eine Stärkung der höheren Bildung erfuhr die Stadt nach 1996 durch die Verlegung von Fachhochschulen nach Winterthur. Seit 2007 ist sie Hauptstandort der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, in die das Technikum integriert wurde.
Als einzige der Zünfte überlebte nach 1830 die Herrenstube. Durch Mäzenatentum und Kunstsinn vieler seiner Bürger gefördert, genoss Winterthur bereits 1850 den Ruf, eine kulturfreudige Stadt zu sein. 1840-1850 verfasste der Rektor Johann Conrad Troll die achtbändige "Geschichte der Stadt Winterthur nach Urkunden". 1848 erfolgte die Gründung des Kunstvereins. Bedeutend war der musikalische Verlag von Jakob Melchior Rieter, der unter anderem Werke von Johannes Brahms herausgab. Das Musikkollegium schuf 1873 die Musikschule und war 1875 Mitgründerin des Stadtorchesters. In der damaligen Aufbruchszeit entstanden 1874 auch der naturwissenschaftliche, der historische und der technische, ferner 1917 der literarische Verein. Das Gewerbemuseum entstand 1875 im Zusammenhang mit dem Technikum. Das 1862 erbaute Casino, das über einen Saal verfügte, kaufte die Stadt 1878 und nutzte es bis zur Einweihung des Stadttheaters 1979. Exponenten der Kleinkunstszene schufen 2002 das Casinotheater. Mitte des 20. Jahrhunderts vermachte Oskar Reinhart Teile seiner Gemäldesammlungen der Stadt (Stiftung), das Römerholz 1970 der Eidgenossenschaft. Neuere kulturelle Institutionen sind unter anderem das Technorama (1982), das Fotomuseum (1993) und die Fotostiftung (2003).
Das seit 1971 am letzten Juniwochenende durchgeführte Albanifest erinnert in neuer Form als Stadtfest an die bis 1866 am Albanitag abgehaltene Bürgergemeinde. Seit 1976 finden die Winterthurer Musikfestwochen mit Open-Air-Konzerten aus Rock, Pop und Klassik in der Altstadt statt.
Quellen und Literatur
- StadtA Winterthur
- StadtB Winterthur, Handschriften- und Bilderslg.
- Die Chronik des Laurencius Bosshart von Winterthur 1185-1532, hg. von K. Hauser, 1905
- Die Chronik Johanns von Winterthur, hg. von F. Baethgen, C. Brun, 1924
- SSRQ ZH NF I/2/1, 2022
Allgemeines- Kdm ZH 6, 1952
- INSA 10, 19-195
- GKZ, 1-3
- HS IV/5, 1006-1018; IX/2, 737-741, 759-765
Ur- und Frühgeschichte- M. Graf et al., Hintergrund – Untergrund, 2000
Mittelalter und frühe Neuzeit- M. Rozycki, Die Handwerker und ihre Vereinigungen im alten Winterthur bis 1798, 1946
- W. Ganz, Winterthur: Einführung in seine Gesch. von den Anfängen bis 1798, 1960
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- A. Bihrer, «Winterthur als Bischofsstadt», in ZTb 2004, 2003, 117-134
19. und 20. Jahrhundert- P. Witzig, Beitr. zur Wirtschaftsgesch. der Stadt Winterthur im 19. Jh., 1929
- A. Häberle, 100 Jahre Gewerbeverband Winterthur und Umgebung, 1874-1974, 1974
- H.M. Stückelberger, Gesch. der evang.-ref. Kirchgem. Winterthur von 1798 bis 1950, 1977
- W. Ganz, Gesch. der Stadt Winterthur vom Durchbruch der Helvetik 1798 bis zur Stadtvereinigung 1922, 1979
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- M.-H. Schertenleib, Die Eulach im 19. und 20. Jh., 1988
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- H. Schaufelberger, Die Stadt Winterthur im 20. Jh., 1991
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Zitiervorschlag
Meinrad Suter: "Winterthur", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 28.08.2015. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/000157/2015-08-28/, konsultiert am 09.12.2024.