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Türkei

Situationskarte Türkei © 2010 HLS und Kohli Kartografie, Bern.
Situationskarte Türkei © 2010 HLS und Kohli Kartografie, Bern.

1923 gegründeter Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs. Dieses war vom 14. Jahrhundert an entstanden und umfasste im 17. Jahrhundert mit seinen Vasallenstaaten ein Gebiet, das von dem Balkan und der Krim im Norden über Kleinasien und die Levante bis zu der arabischen Halbinsel und dem Maghreb im Süden reichte. Der Sultan regierte das Land vom 1453 eroberten Konstantinopel (Istanbul) aus. Nach der gescheiterten Belagerung Wiens 1683 befand sich das Osmanische Reich in der Defensive; Österreich bedrängte es auf dem westlichen Balkan, im 18. Jahrhundert dann auch Russland im Schwarzmeergebiet. Im 19. Jahrhundert hatte der Vielvölkerstaat mit europäischen Kolonialmächten und nationalen Bewegungen zu kämpfen, so zum Beispiel in Griechenland, wo – auch mit Unterstützung aus der Schweiz (Philhellenismus) – 1830 ein neuer Staat entstand. 1878 schieden Serbien, Rumänien und Bosnien aus dem osmanischen Staatsverband aus. Im Ersten Weltkrieg kämpfte das Osmanische Reich unter einer jungtürkischen Komiteeregierung auf der Seite der Zentralmächte. Die Niederlage 1918 läutete sein Ende ein, auch wenn die zunehmend machtlose Sultansregierung noch bis Herbst 1922 im Amt verblieb.

«Türkei» war seit dem Aufstieg des Osmanischen Reichs eine europäische Fremdbezeichnung für das osmanische Herrschaftsgebiet im Balkan und Nahen Osten, und «Türke» meist Synonym für «Muslim», ob türkisch- oder anderssprachig. Im Osmanischen Reich selbst charakterisierte der Begriff ungebildete Leute auf dem Land. Türkische Nationalisten nahmen die Begriffe «Türke» und «Türkei» erst im frühen 20. Jahrhundert als ethnonationale Selbstbezeichnung auf und benannten ihre neue Republik entsprechend.

Der Vertrag von Lausanne von 1923, durch den die Bestimmungen des Vertrags von Sèvres von 1920 revidiert wurden, beschränkte das Gebiet der Republik Türkei abgesehen von Teilen Thrakiens auf Kleinasien. Ankara wurde 1923 zur neuen Hauptstadt erhoben; bestimmt wurde das politische Geschehen durch die kemalistische Einheitspartei. Der Kemalismus kombinierte die forcierte Modernisierung des Landes mit einem rigorosen Nationalismus. Anatolien wurde politisch, kulturell und wirtschaftlich türkisiert. Der sogenannte Laizismus eliminierte den Islam aus Politik und Recht und unterstellte dessen Ausübung staatlicher Kontrolle. Der neue Einheitsstaat räumte zwar den nichtmuslimischen Restgruppen, die nach 1923 vor allem in Istanbul noch vertreten waren, kulturelle Rechte ein, gestand aber der grössten nichttürkischen Bevölkerungsgruppe, den Kurden, weder Autonomie noch die Anerkennung als kulturelle Minderheit zu (Kurdistan). Aussenpolitisch orientierte sich die Türkei in der Zwischenkriegszeit anfänglich an der Sowjetunion, die sie – damals noch im Entstehen begriffen – im Kampf gegen die Griechen 1920-1921 unterstützt hatte.

Im Zweiten Weltkrieg blieb die Türkei neutral. Ab 1945 lehnte sie sich an den Westen an, 1952 wurde sie in die Nato (North Atlantic Treaty Organization) aufgenommen. Westliche Wirtschaftshilfe, das Mehrparteiensystem, das 1950 die Demokratische Partei an die Regierung brachte, und Schulen auch in Inner- und Ostanatolien sorgten für neue Dynamik. Ein grosser Teil der Landbevölkerung migrierte in die Städte. Ende der 1950er Jahre, nach vorübergehendem Aufschwung und Demokratisierung, geriet das Land in eine wirtschaftliche und politische Dauerkrise, die 1960, 1971 und 1980 zu Militärputschen und in den 1970er Jahren zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen führte. Links-Rechts-Polarisierung, das ethnonationale Staatsverständnis, die Wächterrolle des Militärs und der illiberale Umgang mit religiöser und ethnischer – insbesondere kurdischer – Identität blieben ungelöste Streitthemen. Seit 2003 stellt die gemässigt islamische Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung mit Recep Tayyip Erdoğan den Ministerpräsidenten. Ihr gelang es im Rahmen des Annäherungsprozesses an die Europäische Union, die Wächterrolle der Armee zurückzubinden.

Kontakte zum Osmanischen Reich

Einer der ersten überlieferten Kontakte zwischen der Schweiz und der Türkei bildet das Schreiben eines osmanischen Hofsekretärs von 1581 ans «Helvetische Reich», in dem dieser auf ein mündliches schweizerisch-osmanisches Bündnisangebot antwortete, das ein sonst unbekannt gebliebener Benedictus Angelus dem Schwager des Sultans Murad III. unterbreitet hatte. Einzelne Schweizer hielten sich ab dem späten 16. Jahrhundert in Konstantinopel auf, wie zum Beispiel 1612 der Arzt Hans Jakob Schärer aus Thalwil, Johann Rudolf Schmid von Schwarzenhorn aus Stein am Rhein, der 1629-1643 und 1648-1654 kaiserlich-österreichischer Botschafter in Istanbul war, und ab 1697 der Seelsorger Jacques Cachod aus Treyvaux. Die einzige bedeutende Gruppe im 17. und 18. Jahrhundert bildeten die Genfer Uhrmacher, die ca. ein Viertel der unter französischer Protektion stehenden Klientel ausmachte.

Erst im 19. Jahrhundert nahm die Anzahl der Schweizer in Konstantinopel und Kleinasien zu, blieb aber stets unter 1000 Personen. Neben Unternehmern, Händlern und qualifizierten Arbeitskräften migrierten auch Arbeiter. Die Hülfsgesellschaft Helvetia, die 1857 in Konstantinopel zur Betreuung fürsorgebedürftiger Landsleute ins Leben gerufen worden war, bildete einen wichtigen gesellschaftlichen Treffpunkt. Sie wurde durch die 1919 ebenfalls in Istanbul gegründete Union Suisse ergänzt, die gewisse konsularische Aufgaben erfüllte und vom Bundesrat die Eröffnung einer Gesandtschaft forderte. Georg Krug, Direktor einer Seidenspinnerei in Amasya, suchte um 1860 den Betrieb einer Fabrik, die Ansiedlung einer deutschsprachigen Gemeinde und die protestantische Mission zu verknüpfen. Doch eine nachhaltige missionarische und humanitäre Tätigkeit ging erst um 1900 aus der Armenierhilfe hervor, in der sich unter anderen Josephine Fallscheer-Zürcher, Jakob Künzler, Andreas Vischer und Beatrice Rohner engagierten. Von Bedeutung war insbesondere auch deren Berichterstattung über die Massaker an den Armeniern 1909 und vor allem 1915-1916 (Armenien).

Die Schweiz war zwar nicht diplomatisch, aber wirtschaftlich, humanitär und religiös im späten Osmanischen Reich vielfach präsent. Schweizer nutzten die konsularische Protektion durch europäische Mächte und deren in Abkommen kodifizierten rechtlichen Privilegien (sogenannte Kapitulationen), da die Eidgenossenschaft keine diplomatische Vertretung hatte.

Der Weg zur Konferenz von Lausanne

Die Schweiz wurde im ausgehenden 19. Jahrhundert für osmanisch-christliche Bulgaren und Armenier, dann auch für muslimische Jungosmanen und Jungtürken zu einem Ort des Exils, der Bildung und der politischen Agitation. Internate und Universitäten der französischen Schweiz gehörten Anfang des 20. Jahrhunderts zu den beliebtesten Bildungsdestinationen türkischsprachiger Muslime und Musliminnen. An den Universitäten Genf und Lausanne wurden 1911 Foyers Turcs gegründet, deren Mitglieder einen säkularen Nationalismus vertraten und von denen manche in der Zwischenkriegszeit zum zivilen kemalistischen Kader gehören sollten, wie zum Beispiel Mahmut Esat Bozkurt (1922-1923 und 1924-1930 Wirtschafts- bzw. Justizminister), Şükrü Saraçoğlu (1927-1930 und 1933-1938 Finanzminister, 1942-1946 Ministerpräsident), Cemal Hüsnü Taray (1942-1946 Erziehungsminister) sowie mehrere Parlamentsabgeordnete und hohe Beamte. Die Foyers Turcs unterstützten das jungtürkische Weltkriegsregime und wurden 1918 zur Plattform für die nationalistische Agitation, die sich gegen griechische und armenische Ansprüche auf Teile Kleinasiens richtete. Sie standen ab 1920 im Dienst der Ankaraer Gegenregierung gegen die Sultansregierung in Istanbul. Die liberale Opposition gegen das jungtürkische Regime, deren Führer Prinz Sabahaddin, Kemal Midhat, Süleyman Nazif und Lütfi Fikri in die Schweiz geflohen waren und die ab 1919 der Istanbuler Regierung nahestanden, verlor nach Beginn des griechisch-türkischen Kriegs im Mai 1919 an Popularität. Lausanne war 1918-1922 Zentrum der nationalistischen Agitation, die sich mit Kongress- und Vortragsveranstaltungen sowie französisch- und englischsprachigen Publikationen hervortat.

Nach dem Sieg der türkischen Nationalisten im Unabhängigkeitskrieg unter dem Weltkriegsgeneral und Führer der Ankaraer Regierung Mustafa Kemal (ab 1934 mit dem Nachnamen Atatürk ) wurde am 20. November 1922 die Friedenskonferenz von Lausanne, wo 1912 bereits eine osmanisch-italienische Friedenskonferenz getagt hatte, eröffnet. Der Vertrag von Lausanne vom 24. Juli 1923 bestätigte den türkischen Alleinanspruch auf Kleinasien und damit die Hauptforderung der Kemalisten. Zum fragwürdigen Paradigma zur «Lösung» von Minoritätskonflikten wurde der in Lausanne vereinbarte griechisch-türkische «Bevölkerungsaustausch» (1,5 Mio. ionische Griechen gegen 0,35 Mio. Muslime aus Griechenland), der die weitgehend schon erfolgte Vertreibung der Griechen, eine der grossen «ethnischen Säuberungen» des 20. Jahrhunderts, sowie – stillschweigend – auch die Vernichtung der Armenier Kleinasiens diplomatisch absegnete.

Die Schweiz und die Republik Türkei in der Weltkriegszeit

In schweizerischem wie türkischem Interesse war die Anerkennung der Regierung von Ankara, welche das Sultanat abgeschafft und ihren Widerpart in Istanbul am 1. November 1922 abgesetzt hatte, im Sommer 1923 faktisch erfolgt, zumal die Schweiz in jenen Jahren die türkischen Interessen in Deutschland, Österreich, Ungarn und Rumänien vertrat. Um ihre eigenen wirtschaftlichen Interessen zu wahren, musste die Schweiz, die keine Vertretungen im Osmanischen Reich gehabt hatte und auch kein Vertragspartner von Lausanne gewesen war, nach 1923 diplomatisch aktiv werden; der Vertrag hatte nämlich die osmanischen Kapitulationen abgeschafft, von denen auch Schweizer über die Botschaften der Grossmächte erheblich profitiert hatten. Aus den Bemühungen resultierten 1925 ein Freundschaftsvertrag mit gegenseitiger Meistbegünstigung, 1926 eine diplomatische Mission und 1928 ein Schiedsvertrag sowie die Einrichtung einer Gesandtschaft in Ankara, die 1953 zur Botschaft erhoben werden sollte. 1930 folgten ein Handels- sowie ein Niederlassungsabkommen.

Wegen der schwierigen Situation des jungen protektionistischen Staats – dieser hatte ein Kriegsjahrzehnt hinter sich und die wirtschaftlich initiativen Nichtmuslime weitgehend ausgeschaltet – blieb das Handelsvolumen in der ganzen Periode bescheiden, aber stabil; die jährliche Ein- und Ausfuhr betrug je einige Mio. Franken. Vor 1923 lagen die Importe (Agrarprodukte) weit hinter den Exporten (Textilien, Uhren, Maschinen, Chemikalien, Pharmazeutika, Schokolade, Käse) zurück. Die Weltwirtschaftskrise von 1929 wirkte sich infolge des Verfalls der Preise für Agrarprodukte, die hauptsächlichen türkischen Exportartikel, auf die türkischen Devisen negativ aus. Die Clearingabkommen der 1930er Jahre erleichterten den Import von Produkten aus der Schweiz nur beschränkt.

Buchdeckel des schweizerischen Zivilgesetzbuchs von 1907 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Buchdeckel des schweizerischen Zivilgesetzbuchs von 1907 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern). […]
Buchdeckel des türkischen Zivilgesetzbuchs von 1926 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Buchdeckel des türkischen Zivilgesetzbuchs von 1926 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern). […]

Das Freiburger Rechtsstudium des Justizministers Bozkurt war 1926 ein wichtiger Faktor bei der mit wenigen Ausnahmen wörtlichen Übernahme des Schweizerischen Zivil- und Obligationenrechts durch die Türkei. Dieses von der Scharia abgekoppelte Zivilrecht bildete das Kernstück der kemalistischen «Rechtsrevolution» und einen Grundpfeiler der Kulturrevolution, welche die Türkei aus der islamischen Tradition lösen und in die europäische Zivilisation einbinden sollte. Die gemeinsame Zivilrechtsgrundlage, an deren Einführung Schweizer Rechtsexperten beteiligt waren, bildet bis ins 21. Jahrhundert einen privilegierten Kommunikationskanal zwischen den Juristen beider Länder. Die Reform des Familienrechts in der Schweiz des späten 20. Jahrhunderts wurde in der Türkei analog nachvollzogen und führte 2002 zu einer eigenen Zivilgesetzbuchkodifikation. Universitäre Kontakte bildeten die Basis für die Freundschaft des Genfer Anthropologen Eugène Pittard und seiner Frau Noëlle Roger mit Mustafa Kemal, für die 1932 erfolgte Ernennung des Genfer Pädagogen und Bildungsdirektors Albert Malche zum Reformexperten für das höhere türkische Bildungswesen und für die Anstellung von Mitgliedern der in Zürich gegründeten Notgemeinschaft deutscher Wissenschaftler im Ausland an türkischen Universitäten ab 1933. Die Republik Türkei ihrerseits förderte den Bildungsaufenthalt von Akademikern in der Schweiz und anderen westlichen Ländern.

Titelseite der Zürcher Illustrierten vom 1. November 1935 mit dem Bericht über die erste Volkszählung in der Türkei (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern).
Titelseite der Zürcher Illustrierten vom 1. November 1935 mit dem Bericht über die erste Volkszählung in der Türkei (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern). […]

Staatspräsident Ismet Inönü stand nach dem Tod Atatürks 1938-1950 an der Spitze des autoritären Einparteienstaats. Der Zweite Weltkrieg, die militärische Mobilisierung und zusätzliche Abgaben, die vor allem die Landbevölkerung und städtische Nichtmuslime trafen, offenbarten die Schwäche der jungen etatistischen Nationalökonomie. Die diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden neutralen Ländern wurden über die ganze Kriegsdauer aufrechterhalten; die Türkei lieferte der Schweizer Regierung vertrauliche politische und strategische Informationen.

Nach 1950

Die Ausstrahlung der Schweiz und ihrer Bildungsinstitute verblich gegenüber der neuen amerikanischen Dominanz in Politik, Kultur und Hochschulbildung; privilegierte Kontakte zu Kemalisten verloren nach 1950 an Gewicht. Für Investoren aus der Schweiz eröffneten sich jedoch neue Chancen in den Bereichen Chemie, Banken, Waffenindustrie, Staudamm- und Kraftswerksbau sowie Tourismus, wenn auch erst die Liberalisierung unter Minister- und Staatspräsident Turgut Özal (1983-1993) protektionistische Restriktionen beseitigte. Die Schweiz wurde zu einem der grossen Investoren in der Türkei; 2003 rangierte sie an sechster Stelle, 2010 an vierzehnter. Ihre Exporte überstiegen wie in spätosmanischer Zeit die Importe (1963 41 Mio. gegen 37 Mio. Franken, 1980 245 Mio. gegen 102 Mio. Franken, 2011 2144 Mio. gegen 771 Mio. Franken). 1954 wurde zur Verbesserung der städtischen Warenverteilung mit Unterstützung der Migros eine staatsabhängige türkische Migros gegründet, die jedoch erst zwanzig Jahre später als Teil der türkischen Koç Holding prosperierte. Für Schweizer wurde die Türkei zu einem wichtigen Reiseziel (seit 2008 über 200'000 Touristen jährlich).

Immigration aus der Türkei

Türkische Wohnbevölkerung in der Schweiz 1930-2010
Türkische Wohnbevölkerung in der Schweiz 1930-2010 […]

Nach 1960 lösten die hohe Arbeitslosigkeit und die politisch prekäre Lage in der Türkei eine Migration und Fluchtbewegung nach Europa aus. Im späten 20. Jahrhundert nahm die Schweiz gut 100'000 Migranten und Flüchtlinge meist aus ländlichen und östlichen Gebieten der Türkei auf. Bemühungen des Arbeitsministers Bülent Ecevit und des im schweizerischen Exil aufgewachsenen türkischen Botschafters in Bern, Zeki Kuneralp, ein Anwerbeabkommen wie mit Deutschland (1961) abzuschliessen, scheiterten. Daher war die Einwanderung aus der Türkei in die Schweiz anfänglich trotz der grossen Nachfrage der Wirtschaft nach Arbeitskräften wenig geregelt. Einige Einwanderungswillige kamen über schweizerische Arbeitgeberorganisationen, viele über Verwandte, Bekannte oder Schlepper. Lange war die Beratungsstelle für türkische Arbeitskräfte in Zürich, die der ehemalige Leiter der Migros Türk in Istanbul 1961 gegründet hatte, das einzige spezifische Betreuungsangebot. Sie initiierte 1969 die erste türkischsprachige Sendung des Schweizer Radios. Nach dem Militärputsch von 1980 und der 1982 wieder eingeführten Visumspflicht für türkische Staatsangehörige war Einwanderung fast nur noch über ein Asylgesuch oder die Familienzusammenführung möglich. Im Unterschied zu anderen Einwanderergruppen nahm die türkische Kolonie in der Schweiz stetig zu, von weniger als 1000 Personen Anfang der 1960er Jahre auf knapp 40'000 1980 und mehr als 80'000 1990. Trotz des positiven Migrationssaldos und des Geburtenzuwachses nahm die Zahl der Türken in der Schweiz nicht mehr zu, da nach 1990 viele Immigranten aus der Türkei eingebürgert wurden. 2007 standen 72'633 türkischen Staatsangehörigen ohne Schweizerpass 42'123 Personen gegenüber, welche das Schweizer Bürgerrecht besassen – der Anteil an Eingebürgerten ist also hoch. Unter den türkischen Staatsangehörigen, die nach dem Putsch von 1980 einen Antrag auf Asyl in der Schweiz stellten, befanden sich überproportional viele Kurden und Aleviten.

Mit der Zuwanderung aus der Türkei gerieten spezifische Probleme der türkischen Politik und Geschichte ins Blickfeld, die in den Jahrzehnten zuvor weitgehend ausgeblendet worden waren. Die schweizerische Diplomatie ist seit den 1970er Jahren mit Fragen im Zusammenhang mit politischer Verfolgung, der Einhaltung der Menschenrechte, dem Konflikt zwischen dem türkischen Staat und den Kurden bzw. der Kurdischen Arbeiterpartei oder dem Genozid an den Armeniern konfrontiert; dazu kommen Probleme wie die Unterstellung von Grossprojekten, die aus humangeografischer oder ökologischer Sicht fragwürdig sind, unter die Exportrisikogarantie. Zur gesamtheitlichen Beziehungswirklichkeit gehören seit dem späten 20. Jahrhundert in der Schweiz die Begegnung mit einer anderen Esskultur, viele binationale Ehen, anatolischstämmige und kurdische Kulturschaffende und Lokalpolitiker sowie eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Islam. Die Türkei ist der Staat, aus dem die grösste Zahl von Muslimen in der Schweiz stammt, wobei die entsprechende religiöse Wahrnehmung in den Medien erst in den 1980er Jahren eingesetzt hat.

Quellen und Literatur

  • Diplomatische Dokumente der Schweiz, 1979-
  • J. Künzler, Dreissig Jahre Dienst am Orient, 1933
  • R. Anhegger, Ein angeblicher schweizerischer Agent an der Hohen Pforte im Jahre 1581, 1943
  • H. Widmann, Exil und Bildungshilfe: Die deutschsprachige akademische Emigration in die Türkei nach 1933, 1973
  • E. Bonjour, «Türkische und schweizerische Neutralität während des Zweiten Weltkrieges», in L'historien et les relations internationales, hg. von S. Friedländer et al., 1981, 199-213
  • B. Witschi, Schweizer auf imperialistischen Pfaden, 1987
  • Z. Kuneralp, Just a Diplomat, 1992 (türkisch 1981)
  • Zwischen Ankara und Lausanne: die Türkei unterwegs nach Europa, hg. von M. Schweizer, 2004
  • S. Sigerist, Schweizer im Orient, 2004
  • T. David, «Une autre Genève dans l'Orient», in L'horloger du Sérail, hg. von P. Dumont, R. Hildebrand, 2005, 49-67
  • H.-L. Kieser, Vorkämpfer der «Neuen Türkei», 2005
  • Revolution islamischen Rechts, hg. von H.-L. Kieser et al., 2008
  • O. Tezgören, Von «Pseudo-Touristen» zu «Pseudo-Asylanten», 2008
  • Neue Menschenlandschaften: Migration Türkei-Schweiz 1961-2011, hg. von H.-L. Kieser et al., 2011
  • F. Calislar, Diplomatiegeschichte Schweiz-Türkei, Dissertation Universität Zürich (in Vorbereitung)

Zitiervorschlag

Hans-Lukas Kieser: "Türkei", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 07.01.2014. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/003374/2014-01-07/, konsultiert am 08.10.2024.