29.12.1871 Airolo, 23.1.1940 Bern, katholisch, von Airolo. Sohn des Sigismondo, des für den Posttransport zwischen Faido und dem Gotthard-Hospiz verantwortlichen Hoteliers und katholisch-konservativen Tessiner Grossrats, und der Paolina geborene Dazzoni. Neffe des Giovanni Dazzoni. 1899 Agostina Andreazzi, von Dongio (heute Gemeinde Acquarossa). Bis 1887 Gymnasium am Collegio Papio in Ascona, 1887-1889 am Kollegium St. Michael in Freiburg. Rechtsstudium an den Universitäten Freiburg, München und Heidelberg. 1893 Dr. iur. Von 1895 bis zur Wahl in den Bundesrat war Giuseppe Motta Anwalt und Notar in Airolo, unter anderem Rechtsberater der mit der Motor AG (Brown, Boveri & Cie.) verbundenen Gotthardwerke von Bodio und der Granitwerke. Nach seiner Wahl 1895 in den Tessiner Grossrat wurde er rasch zu einer Führungsgestalt der katholisch-konservativen Partei und setzte sich für deren Modernisierung und Laisierung ein. In einer Rede von 1907 forderte er die Tessiner Parteien zur Aufgabe der unfruchtbaren Polemiken und zur Zusammenarbeit im Interesse des Kantons auf. 1899 wurde er Mitglied des Nationalrats, in dem er sich unter anderem für das Asylrecht für Personen und deren Meinungsfreiheit sowie für das Proporzsystem einsetzte, das er für eine natürliche Weiterentwicklung der demokratischen Idee hielt.
1908 war Motta erstmals Bundesratskandidat und wurde 1911, nach dem Tod von Josef Anton Schobinger im November, erneut vorgeschlagen. Die Tessiner Parteien unterstützten ihn geschlossen, ebenso viele Deutschschweizer Politiker, die den italienischsprachigen Kanton stärker an die übrige Schweiz anbinden wollten. Letztere waren über den wiederauflebenden Nationalismus in Italien besorgt und im Zweifel über die politische Loyalität der Tessiner. Am 14. Dezember 1911 wurde Motta mit 184 von 206 Stimmen glanzvoll gewählt. Er folgte Robert Comtesse als Vorsteher des Finanz- und Zolldepartements. Der Erste Weltkrieg und die gewaltigen Kosten der Mobilisierung zwangen den Bundesrat zu einer Reihe von unpopulären fiskalischen Massnahmen: Kriegssteuer, Kriegsgewinnsteuer und Stempelabgabe. 1918 bekämpfte Motta vehement die sozialdemokratische Initiative zur Einführung einer direkten Bundessteuer, die vom Volk knapp abgelehnt wurde, war aber in der Folge gezwungen, eine zweite ausserordentliche Kriegssteuer zu erheben. Kurz nach dem Landesstreik von 1918 vertrat er vor dem Ständerat eine Politik der sozialen Solidarität, die sich sowohl gegen revolutionäre Ideen als auch gegen reaktionären Übereifer stellte.
1920 wurde Giuseppe Motta zum Bundespräsidenten gewählt – ein Amt, das er auch 1915, 1927, 1932 und 1937 innehatte – und übernahm das Politische Departement, das er bis zu seinem Tod leitete. Sogleich wurde er mit der schwierigen Frage des Beitritts zum Völkerbund konfrontiert, für den sich bereits sein Vorgänger Felix Calonder eingesetzt hatte. Wiederholt verfocht Motta den Beitritt gegenüber den Verantwortlichen der Konservativen Volkspartei und der katholischen Hierarchie und beeinflusste damit sicherlich die Meinung der katholischen Stimmbevölkerung. Die Zustimmung des Volkes am 16. Mai 1920 zum Beitritt zum Völkerbund markierte den Beginn der sogenannten differenziellen Neutralität. In seinen viel beachteten Reden im Genfer Völkerbundspalast setzte sich Motta mehrmals für die Universalität des Völkerbunds sowie für das Prinzip der internationalen Schiedsgerichtsbarkeit ein.
In der Debatte über die Beziehungen der Schweiz zu Moskau, welche die Öffentlichkeit aufwühlte, bejahte Motta die De-Jure-Anerkennung der UdSSR. Das 1927 in Berlin mit der Sowjetunion unterzeichnete Abkommen schien eine Annäherung anzukündigen, doch veranlassten die heftigen Reaktionen der Öffentlichkeit, vor allem in der Romandie, den Bundesrat zu mehr Zurückhaltung. Als 1934 die UdSSR dem Völkerbund formell ein Beitrittsgesuch stellte, trat Motta vorerst für eine Stimmenthaltung der schweizerischen Delegation ein, doch zwang auch in diesem Fall der öffentliche Druck Motta und seine Delegation, schliesslich gegen die Aufnahme der UdSSR zu stimmen. Den Beziehungen zu Italien, die auf offizieller Ebene von einem herzlichen Klima geprägt waren, widmete Motta besondere Aufmerksamkeit. Weder die häufigen Zwischenfälle unter antifaschistischen Flüchtlingen und italienischen Faschisten in der Schweiz noch die Propaganda des Irredentismus vermochten das gute Verhältnis zu Rom, das für den Chef der Schweizer Diplomatie vor dem Schutz des Asylrechts Vorrang hatte, grundsätzlich zu trüben. Der italienische Überfall auf Äthiopien und die vom Völkerbund gegen Italien verhängten Wirtschaftssanktionen brachten Motta in eine heikle Lage, doch wogen in seinem Urteil die Verteidigung der Neutralität und die Handelsinteressen der Schweiz letztlich mehr als die Beschlüsse des Völkerbunds. Die Sanktionen wurden nur in sehr beschränktem Masse, sozusagen symbolisch, eingehalten. Auf Vorschlag Mottas im Bundesrat anerkannte die Schweiz im Dezember 1936 als erstes neutrales Land de jure die Annexion Äthiopiens durch Italien. Die Krise des Völkerbunds und Referendumsdrohungen gegen den Verbleib der Schweiz in der Organisation bewogen Motta, die Beziehungen zur Staatengemeinschaft zu lockern. Schliesslich befreite der Völkerbundsrat im Mai 1938 die Schweiz von jeglicher Sanktionsverpflichtung, indem er nach dem Austritt Italiens aus dem Völkerbund die Rückkehr der Schweiz zur sogenannten integralen Neutralität bestätigte.
Die Beziehungen der Schweiz zum Dritten Reich waren vor allem durch den umfangreichen Warenverkehr und die beträchtlichen Schweizer Investitionen in Deutschland geprägt, auf die Motta jedoch keinen grossen Einfluss nehmen konnte. Auf diplomatischer Ebene versuchte er in erster Linie, von Hitler die offizielle Anerkennung der schweizerischen Neutralität zu erhalten. Auch wenn Motta im Wesentlichen eine Politik des Modus Vivendi verfolgte, mangelte es seiner politischen Linie gegenüber dem bedrohlichen Nachbarn im Norden doch nicht an Festigkeit; so erreichte er zum Beispiel die Freilassung des Journalisten Berthold Jacob, den die Gestapo 1935 in Basel entführt hatte. Ende 1938 bezog Motta Stellung gegen die Auswüchse der nationalsozialistischen Presse, die der öffentlichen Meinung in der Schweiz eine Art "totalitäre" Neutralität aufzwingen wollte.
In den zwanzig Amtsjahren als Chef des Politischen Departements, der sogenannten Ära Motta, nahm der Tessiner auf die Aussenpolitik Berns einen direkten und persönlichen Einfluss, der jedoch nicht überbewertet werden darf. Trotz seiner antikommunistischen und antisozialistischen Haltung war Motta, etwa in den Beziehungen zu Moskau, kein Befürworter der härteren Linie, auch wenn er eine solche Politik öffentlich vertreten musste. In der Regel hielt er sich an das Kollegialprinzip. Eine persönliche Note kam hingegen in den Beziehungen zu Italien und zum Völkerbund zum Ausdruck. In seinem politischen Handeln äusserte sich ein Bemühen um eine Synthese von Idealismus und politischem Realismus. Doch das bedrohliche internationale Umfeld der 1930er Jahre und die Krise des Völkerbunds zwangen ihn, das Gewicht auf die Realpolitik zu legen, um die Beziehungen zum Dritten Reich und zu Italien um jeden Preis zu wahren.