AlfredEscher

20.2.1819 Zürich, 6.12.1882 Enge (ZH), reformiert, von Zürich. Jurist, Eisenbahnpionier sowie führender Wirtschaftsliberaler und prägender Politiker während der Schweizer Staatsbildung des 19. Jahrhunderts.

Vier Porträts von Alfred Escher, 1831 bis ca. 1875 (Zentralbibliothek Zürich und ETH-Bibliothek Zürich).
Vier Porträts von Alfred Escher, 1831 bis ca. 1875 (Zentralbibliothek Zürich und ETH-Bibliothek Zürich). […]

Als Sohn des Kolonialwarenhändlers und Grossgrundbesitzers Heinrich Escher und der Lydia geborene Zollikofer von Altenklingen, aus altem sankt-gallischem Kaufmannsgeschlecht, wuchs Alfred Escher ab 1831 im Belvoir in der Enge auf, das immer sein Wohnsitz bleiben sollte. Er erhielt bis 1834 Privatunterricht, unter anderem durch Oswald Heer, und besuchte 1834-1837 das Obergymnasium. 1837 begann er ein Rechtsstudium in Zürich, das er nach Studienaufenthalten an den Universitäten Bonn und Berlin (1838-1839) 1842 mit der Promotion bei Friedrich Ludwig Keller abschloss. 1840-1841 war er Zentralpräsident der Zofingia. Nach einem Aufenthalt in Paris 1842-1843 habilitierte er sich 1844 an der Universität Zürich und lehrte bis 1847 als Privatdozent Zivilprozess- und Schweizerisches Bundesstaatsrecht (Rechtswissenschaften). 1857 heiratete Escher Auguste Uebel, Tochter des Offiziers Bruno Uebel und der Julie geborene von Geiger. Das Paar hatte zwei Töchter, Lydia und Hedwig Escher; letztere verstarb früh. Alfred Escher war der Neffe von Friedrich Ludwig und Ferdinand Escher.

Als radikaler (Radikalismus) und später liberaler Politiker (Liberalismus) erlangte Escher im Kanton Zürich früh eine einflussreiche Stellung. 1844 wurde er in den Grossen Rat (ab 1869 Kantonsrat) gewählt, dem er bis 1882 angehörte und den er zwischen 1848 und 1868 mehrmals präsidierte. 1847-1848 war er Erster Staatsschreiber und 1848-1855 Regierungsrat (1849 Bürgermeister, 1850, 1851, 1854 Präsident). Escher reorganisierte den Regierungsrat, indem er diesen auf neun Mitglieder reduzierte und in ein Direktorialsystem umwandelte (Departemente). Als Erziehungsdirektor (ab 1850) und Erziehungsrat (1845-1855, ab 1849 Präsident) führte er in den Mittelschulen moderne Sprachen und naturwissenschaftliche Fächer ein (Schulwesen). Sein Aufstieg in der Bundespolitik verlief ebenso schnell: 1845, 1846 und 1848 war er Tagsatzungsgesandter (Tagsatzung). Er befürwortete den Bundesstaat, lehnte aber Freischarenzüge und Sonderbund ab. Von 1848 bis zu seinem Tod war er Mitglied des Nationalrats (Präsident 1849-1850, 1856-1857 und 1862-1863; Bundesversammlung). Escher hatte massgeblichen Anteil an der Gründung des 1855 eröffneten Eidgenössischen Polytechnikums in Zürich (Eidgenössische Technische Hochschule, ETH); 1854-1882 war er Vizepräsident des Schulrats. Im Neuenburgerhandel 1856-1857 und im Savoyerhandel 1860 vertrat Escher mässigende Positionen und suchte mit anderen Industriellen, eine militärische Konfrontation zu verhindern.

Brief vom 24./26. November 1860 von Alfred Escher als Präsident der Schweizerischen Nordostbahn an den Regierungsrat des Kantons Zürich betreffend den Bau einer Eisenbahnlinie über den Lukmanierpass (Staatsarchiv Zürich, O 108.3.1, Nr. 62).
Brief vom 24./26. November 1860 von Alfred Escher als Präsident der Schweizerischen Nordostbahn an den Regierungsrat des Kantons Zürich betreffend den Bau einer Eisenbahnlinie über den Lukmanierpass (Staatsarchiv Zürich, O 108.3.1, Nr. 62). […]

Eschers Vater Heinrich erbte 1845 von seinem Bruder Friedrich Ludwig Escher (wahrscheinlich Vater der Albertina Escher) die Kaffeeplantage Buen Retiro bei Artemisa auf Kuba im Wert von knapp 40'000 Silberpesos (Kolonialismus). Fast die Hälfte dieses Betrags bezog sich auf den geschätzten Marktwert von 85 Sklavinnen und Sklaven (Sklaverei). Alfred Escher unterstützte seinen Vater bei der Abwicklung der Erbangelegenheiten und der Kontaktaufnahme mit Schweizer Schuldnern. Nachdem Informationen über diese Erbschaft in der Öffentlichkeit bekannt geworden waren, instrumentalisierten die politischen Gegner Alfred Eschers den Fall in der Auseinandersetzung zwischen Liberalen (um Escher) und Konservativen. Unter anderem ging der Stadtschreiber Heinrich Gysi-Schinz in der konservativen Wochenzeitung über den Vorwurf der «Sklavenhalterei» hinaus, die in den USA bis 1865 und auf Kuba bis 1886 formal erlaubt war, und argumentierte, Eschers Vater habe sein Vermögen im Sklavenhandel erworben.

Ab 1852 lobbyierte Alfred Escher im Nationalrat für den Eisenbahnbau durch Private (Eisenbahnen). 1853 gehörte er zu den Gründern der Schweizerischen Nordostbahn (NOB), der er 1853-1872 als Direktions- und 1872-1882 als Verwaltungsratspräsident vorstand. Die NOB wurde bis 1858 zur grössten Bahngesellschaft in der Ostschweiz. Um die für den Eisenbahnbau benötigten finanziellen Mittel unabhängig von ausländischem Einfluss zu organisieren, gründete Escher mit Gleichgesinnten 1856 die Schweizerische Kreditanstalt (SKA). Diese erste grosse Aktienbank für Industrie und Handel, deren Verwaltungsratspräsident Escher 1856-1877 und 1880-1882 war, trug wesentlich dazu bei, dass Zürich zum wichtigsten Industriezentrum und Finanzplatz der Schweiz wurde. 1857-1874 gehörte Escher auch dem Aufsichtsrat der Schweizerischen Rentenanstalt an. Ab den 1860er Jahren engagierte er sich – ab 1863 als Präsident der neu gegründeten Gotthardvereinigung – für den Bau der Gotthardbahn. In diesem Projekt sah er eine Aufgabe von nationaler Bedeutung. Nachdem Italien 1869 und das Deutsche Reich 1871 ihre finanzielle Beteiligung zugesagt hatten, entstand 1871 die Gotthardbahn-Gesellschaft mit Escher als Direktionspräsidenten und Leiter des Baudepartements.

Zur Gotthard-Situation. Alfred Escher mit Bundesrat Emil Welti auf einer ganzseitigen Karikatur im Nebelspalter, 1878, Nr. 21 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern; e-periodica).
Zur Gotthard-Situation. Alfred Escher mit Bundesrat Emil Welti auf einer ganzseitigen Karikatur im Nebelspalter, 1878, Nr. 21 (Schweizerische Nationalbibliothek, Bern; e-periodica). […]

Nicht nur bezüglich des Ursprungs seines Vermögens sondern auch wegen der Häufung politischer Ämter, der Verknüpfung von politischen und wirtschaftlichen Funktionen und dem konsequenten Einsatz der Macht zur Wahrung der Interessen von Besitz und Bildung stand Escher schon früh im Kreuzfeuer der Kritik (Eliten). Diese ebbte nach dem Ende der «Ära Escher» 1855 nicht ab, da Escher auch nach seinem Ausscheiden aus dem Regierungsrat das politische Geschehen im Kanton mittels seiner Parteigänger lenkte. Während die sozialistischen Kräfte um Johann Jakob Treichler und Karl Bürkli zu Beginn der 1850er Jahre noch schwach waren und 1856 mit der Wahl Treichlers in den Regierungsrat auf Seite der Liberalen einen ihrer führenden Köpfe verloren, erwuchs dem «System Escher» ab 1860 aus den benachteiligten Schichten eine starke Gegnerschaft, die als Demokratische Bewegung 1868 die Vorherrschaft des Escher'schen Wirtschaftsliberalismus im Kanton stürzte. Auf Bundesebene mündete diese Opposition in die Totalrevision der Bundesverfassung.

Eschers letzte Lebensjahre waren von Rückschlägen geprägt. 1876 geriet die NOB infolge verschärften Wettbewerbs mit der Schweizerischen Nationalbahn und der Grossen Depression in eine schwere Krise. Beim Bau der Gotthardbahn zeichneten sich ab 1875 Verzögerungen ab, die umfangreiche Nachtragskredite, unter anderem nun in Form von Bundessubventionen (Subventionen), nötig machten und Escher 1877 zum Rücktritt als Verwaltungsratspräsident der SKA und 1878 als Direktionspräsident der Gotthardbahn-Gesellschaft zwangen. Zum Durchstich des Tunnels 1880 wurde er nicht eingeladen; auf die Teilnahme an der Eröffnungsfeier 1882 verzichtete er aus gesundheitlichen Gründen.

Der intelligente und mit einer unermüdlichen Arbeitskraft ausgestattete Alfred Escher verkörperte einen neuen Typus des politischen und wirtschaftlichen Leaders, der Projekte von grosser Tragweite realisierte. Der Ausdruck «Bundesbaron», mit dem Escher und andere führende Wirtschaftsliberale bezeichnet wurden, spielte auf ein bis zur Arroganz reichendes Machtbewusstsein an, das Escher nicht fremd war. Als Exponent des Grossbürgertums setzte er Fortschritt im Interesse der Wirtschaft einseitig mit Fortschritt im Dienste der Allgemeinheit gleich und vernachlässigte die sozialen Folgen der von ihm geprägten Entwicklung.

Lugano verlieh ihm 1871 die Ehrenbürgerschaft. 1889 wurde ein mit Privatspenden von Richard Kissling geschaffenes Denkmal für Escher auf dem Bahnhofplatz von Zürich eingeweiht, dessen Unterhalt danach von der Stadt übernommen wurde. Eschers Tochter Lydia Welti gründete mit dem ererbten Vermögen die Gottfried Keller-Stiftung. Anfang des 21. Jahrhunderts wurde im Zuge der Debatte zur postkolonialen Schweiz die Frage erneut aufgeworfen, inwieweit die Familie Escher sich durch die Haltung und die Ausbeutung von versklavten Menschen bereichert hatte. Forschungsbedarf besteht zur Frage, wie Heinrich und Alfred Escher ihr umstrittenes Erbe bei der Gründung von Finanzinstitutionen investiert haben.

Postkarten mit dem Escher-Denkmal aus zwei Perspektiven: links mit Blick auf den Haupteingang des Bahnhofs Zürich, rechts mit Blick in Richtung Bahnhofstrasse. Autotypien, Anfang 20. Jahrhundert (Zentralbibliothek Zürich, Ansichtskarten, ZH, Kreis 1:K, 65; ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, PK_015407).
Postkarten mit dem Escher-Denkmal aus zwei Perspektiven: links mit Blick auf den Haupteingang des Bahnhofs Zürich, rechts mit Blick in Richtung Bahnhofstrasse. Autotypien, Anfang 20. Jahrhundert (Zentralbibliothek Zürich, Ansichtskarten, ZH, Kreis 1:K, 65; ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, PK_015407). […]

Quellen und Literatur

  • Landesbibliothek des Kantons Glarus, Glarus.
  • Schweizerisches Bundesarchiv, Bern, Alfred Escher (1819-1882).
  • Staatsarchiv Zürich, Zürich.
  • Jung, Joseph (Hg.): Alfred Eschers Briefwechsel, 6 Bde., 2008-2015.
  • Jung, Joseph (Hg.): Alfred Eschers Thronreden. 1848 bis 1868, 2021.
  • Jung, Joseph (Hg.): Digitale Briefedition Alfred Escher, 2022 (Relaunch).
Weblinks
Normdateien
GND
VIAF

Zitiervorschlag

Markus Bürgi; Michael Zeuske: "Escher, Alfred", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 26.08.2024. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/003626/2024-08-26/, konsultiert am 17.09.2024.