18.10.1939 Muralto, 16.12.2020 Locarno, katholisch, von Prato-Sornico. Anwalt, Tessiner Staats- und Nationalrat, christlichdemokratischer Bundesrat.

Flavio Cotti war der ältere von zwei Söhnen des Stoffhändlers Leone Cotti und der Telefonistin und späteren Hausfrau Agnese geborene Chiappini. Er besuchte die Grundschule in Locarno und das Collegio Papio in Ascona, wechselte dann ans Benediktiner-Gymnasium in Sarnen und legte dort 1958 die Matura ab. Nach einem Aufenthalt in der französischen Schweiz studierte er Rechtswissenschaften an der Universität Freiburg und erwarb 1962 das Lizenziat. Er gehörte der katholischen Studentenvereinigung Lepontia an und war 1961-1962 Vizepräsident des Schweizerischen Studentenvereins (StV). 1965 eröffnete er in Locarno sein eigenes Anwalts- und Notariatsbüro, nachdem er als Studienabgänger in der Anwaltskanzlei eines Verwandten gearbeitet hatte. Im Jahr darauf heiratete er Renata Naretto, die Tochter des Kaufmanns Giovanni Naretto und der Hausfrau Hermine geborene Von Ah. Das Paar hatte eine Tochter.
Cotti, getragen von christlichdemokratischen und föderalistischen Werten, begann seine politische Karriere als Präsident der jungen Konservativ-Christlichsozialen Volkspartei des Kantons Tessin. Während seiner Amtszeit 1962-1967 setzte er sich insbesondere für eine Modernisierung der Partei ein, ähnlich, wie dies zeitgleich auch in den freisinnigen und sozialdemokratischen Jungparteien angestrebt wurde. Seine Sitze im Gemeinderat von Locarno (ab 1964) und im Tessiner Grossrat (ab 1967) gab er 1975 auf, als ihm im Alter von nur 36 Jahren die Wahl in die Kantonsregierung gelang, in der er bis 1983 dem Volkswirtschafts-, dem Justiz- und dem Militärdepartement sowie während weniger Monate dem Departement des Innern vorstand; 1977 und 1981 präsidierte er den Staatsrat.
Mit der Wirtschaftskrise Mitte der 1970er Jahre verstärkte der Bund die Aufsicht über die Kantone. Als Tessiner Volkswirtschaftsdirektor versuchte Cotti gegen Ende 1975, eine moderate Lockerung der sogenannten Lex Furgler zu erreichen, die den Erwerb von Liegenschaften durch Personen mit Wohnsitz im Ausland einschränkte (Ausverkauf der Heimat) – allerdings mit mässigem Erfolg. Unter seiner Ägide wurde im September 1976 ein neues Gesetz zur Förderung von Industrie und Gewerbe angenommen und 1977 das innovative Bundesgesetz über Investitionshilfen für Berggebiete von 1974 ergänzt und umgesetzt. 1978 erreichte Cotti die Verbesserung des seit 1970 geltenden Gesetzes über den Tourismus, wodurch der Branche erhebliche finanzielle Mittel zukamen und sich die Beteiligten auf eine umfassende Strategie einigten, die auch den Wintertourismus berücksichtigte. Seine Äusserungen zur kantonalen Planung und zum Finanzplan fanden Eingang in die Massnahmen zur Überwindung der Wirtschaftskrise. Schliesslich sind ihm die Verabschiedung des Gesetzes zur Förderung der Landwirtschaft 1982 sowie die Reform des Notariatsgesetzes 1983 zu verdanken.
Am 30. April 1981 wurde Flavio Cotti – in einer für den Kanton finanziell und politisch noch immer angespannten Situation – zum Präsidenten der Tessiner Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) gewählt. Die von ihm angestrengten Reformen erlaubten der Partei, ihre Wählerschaft – rund ein Drittel der Tessiner Stimmbürgerinnen und Stimmbürger – noch einige Jahre zu halten. Am 23. Oktober 1983 erfolgte die Wahl in den Nationalrat (Bundesversammlung), dem auch sein Cousin Gianfranco Cotti angehörte. Bereits im Februar des folgenden Jahres ernannte ihn die Delegiertenversammlung einstimmig zum Präsidenten der CVP Schweiz, ein Amt, das ihm gute Chancen auf einen Sitz in der Landesregierung eröffnete. Als im Herbst 1986 die beiden CVP-Mitglieder Kurt Furgler (St. Gallen) und Alphons Egli (Luzern) überraschend ihren Rücktritt aus dem Bundesrat ankündigten, schlug die Partei Arnold Koller für die Ostschweiz und, für den zweiten Sitz, Cotti als Nachfolger vor. Letzterer sollte der italienischen Schweiz die Rückkehr in die Exekutive sichern, in der sie seit dem Ausscheiden von Nello Celio 1973 nicht mehr vertreten war. Sowohl Koller als auch Cotti wurden am 10. Dezember 1986 erwartungsgemäss im ersten Wahlgang gewählt. Mit 163 von 239 Stimmen (absolutes Mehr 120) setzte sich Cotti klar gegen seine Parteikollegin Judith Stamm (Luzerner Nationalrätin, 33 Stimmen) sowie seine Parteikollegen Fulvio Caccia (Tessiner Staatsrat, 26) und Markus Kündig (Zürcher Ständerat, 13) durch. Stamm hatte mit ihrer Kandidatur nicht zuletzt gegen den Entscheid der CVP protestiert, trotz der Doppelvakanz keine Frau zu nominieren.
Cotti übernahm von Egli die Leitung des Departements des Innern (EDI), das er umfassend reorganisierte. 1989 schuf er das Bundesamt für Umwelt, Wald und Landschaft (Buwal) durch Fusion der beiden Vorgängerinstitutionen und erreichte in den 1990er Jahren greifbare Verbesserungen im Gewässer-, Wald- und Moorschutz sowie in der Luftreinhaltung (Umwelt). Mit dem Bundesgesetz von 1991 verhalf er den Eidgenössischen Technischen Hochschulen in Zürich und Lausanne zu mehr Autonomie und schuf so die Voraussetzungen, dass diese sich zu weltweit führenden Universitäten entwickeln konnten. Im gleichen Jahr öffnete, unter anderem dank der Schenkung des literarischen Nachlasses von Friedrich Dürrenmatt, das Schweizerische Literaturarchiv in der Landesbibliothek seine Tore. Ausserdem brachte Cotti noch 1991 die Revision des Artikels 70 der Bundesverfassung über die Sprachen zu einem raschen Abschluss, der ihm besonders am Herzen lag. Als Verantwortlicher für das soziale Zusammenleben im Land setzte er schliesslich wichtige Akzente im von seinem Vorgänger übernommenen und anspruchsvollen Dossier zur 10. Revision der Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV).

Anfang 1993 gab René Felber, Vorsteher des Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA), aus gesundheitlichen Gründen seinen Rücktritt bekannt. Als dessen Nachfolger zogen die Bundesratsmitglieder Cotti dem ebenfalls interessierten Koller vor. Cottis Departementsübernahme erfolgte zu einem Zeitpunkt grosser Veränderungen in Europa, die mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und dem schnellen Wachstum der Europäischen Gemeinschaft (EG) einhergingen. In der Schweiz hatten der Rücktritt von Bundesrätin Elisabeth Kopp 1989 und die Fichenaffäre 1990 das Vertrauen in die Behörden erschüttert; der rasche Aufstieg der Schweizerischen Volkspartei (SVP) führte zu einer Polarisierung der politischen Debatte insbesondere in den Bereichen der Asyl- und der Europapolitik. Das EDA befand sich bei seinem Amtsantritt ausserdem in einer tiefgreifenden Reorganisation, aus der 1995 die Direktion für Entwicklungszusammenarbeit, humanitäre Hilfe und technische Zusammenarbeit mit Zentral- und Osteuropa, DEHZO (ab 1996 Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit, DEZA) resultierte. Die Rotationen in den Botschaften sorgten für Unzufriedenheit und der Departementsvorsteher wurde für seinen Führungsstil kritisiert. Nach dem Nein zum Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) 1992 gelang es Cotti in der nun folgenden Phase der Verunsicherung in der schweizerischen Europapolitik nicht, auf der Suche nach einer Alternative die Stimmberechtigten von einer Öffnungspolitik zu überzeugen – anders als seinerzeit Giuseppe Motta anlässlich des Beitritts zum Völkerbund. Einem vollständigen EG-Beitritt, dessen Verhandlungen 1998 eingestellt wurden, zog er den bilateralen Weg als Kompromiss vor. Diesen hielt er nicht nur für realistisch, sondern auch für geeignet, um den nationalen Zusammenhalt zu wahren. Bei einigen Abkommen stiess er allerdings auf Hindernisse und sah sich mit dem Widerstand der SVP konfrontiert.
Mit dem Streit um die sogenannten nachrichtenlosen Vermögen 1995 musste Cotti einen beispiellosen weltweiten Imageschaden der Schweiz bewältigen. Sein Departement reagierte 1996 mit der Einsetzung einer Taskforce Schweiz – Zweiter Weltkrieg und der Schaffung einer Unabhängigen Expertenkommission unter der Leitung von Jean-François Bergier, die das Verhalten der Schweiz während des Zweiten Weltkriegs untersuchte. Ihre Arbeit sollte zu einer umfassenden historischen Neubeurteilung führen. Die internationale Kritik ebbte 1998 ab, als die involvierten Schweizer Banken und die jüdischen Organisationen sich auf Entschädigungszahlungen einigen konnten. Die Ernennung Cottis zum Präsidenten der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) 1996 erlaubte es ihm, die internationale Präsenz der Schweiz in der Europa- und in der Sicherheitspolitik zu stärken und damit einen Teil der Probleme der schweizerischen Aussenpolitik zu kompensieren.
Als Bundespräsident 1991 und 1998 stellte Cotti anlässlich der Feierlichkeiten zum 700-Jahr-Jubiläum der Eidgenossenschaft beziehungsweis zum 150-jährigen Bestehen des Bundesstaats in seinen Festreden grundsätzliche Analysen zum schweizerischen Politiksystem an und unterstrich leidenschaftlich die Bedeutung der Mehrsprachigkeit für das Land. Anfang 1999 gaben sowohl Cotti als auch Koller ihre Demission auf Ende April bekannt. Cotti zog sich ins Tessin zurück und äusserte sich fortan nicht mehr zu Fragen der eidgenössischen Politik. Er übernahm einzig einige wenige ausgewählte Verwaltungsrats- und Ehrenmandate. 1999 wurde ihm der Nanny-und-Erich-Fischhof-Preis der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus verliehen.