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Europa

Die Schweiz hat Europa – im Gegensatz zu sich selbst – immer wieder als etwas Künstliches angesehen. Europa, so die skeptische, bis heute virulente Einschätzung, könne nicht konstruiert werden, sondern müsse – wenn überhaupt – organisch und föderalistisch wachsen.

Das Verhältnis zu Europa im 18. und 19. Jahrhundert

Seit dem 18. Jahrhundert bildet Europa als Umfeld, Partner und Gegenspieler ein wichtiges Element schweizerischer Selbstdefinition. Anfänglich war mit dem Terminus Europa das Konzert der Mächte (Europäisches Gleichgewicht) und das kulturelle, mit Abendland umschreibbare Europa gemeint. Während sich die Schweiz mit dem kontinentalen Europa im Gegensatz zu den oft ebenfalls in barocken Allegorien versinnbildlichten Asien, Afrika und Amerika leicht identifizieren konnte, empfand sie sich in der frühen Neuzeit, besonders aber ab 1848 gegenüber dem grossmächtigen und monarchischen Europa immer wieder als republikanische Besonderheit.

Politische Karte von Europa 1870, gestaltet vom französischen Karikaturisten Hadol und veröffentlicht als Lithografie in Hamburg (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Sondersammlung).
Politische Karte von Europa 1870, gestaltet vom französischen Karikaturisten Hadol und veröffentlicht als Lithografie in Hamburg (Zentral- und Hochschulbibliothek Luzern, Sondersammlung). […]

Die Entstehung des Bundesstaates, die aus der Perspektive des Nation-building ähnlich verlief wie diejenige Deutschlands und Italiens, lässt sich auch als Vorwegnahme der westeuropäischen Entwicklung verstehen. Die schweizerische wie die europäische Union sind auch aus einem sicherheitspolitischen Kooperationsbedürfnis und aus der Notwendigkeit entstanden, einen Wirtschaftsraum mit gemeinsamer Aussengrenze bilden zu müssen. Beide mussten sich eine gemeinsame Währung schaffen, und beide entwickelten sich – besonders was die Ausstattung mit demokratischen Mitwirkungsrechten betrifft – in Etappen. Auch das Zusammengehörigkeitsgefühl und die sich daraus ergebende Bereitschaft, die Finanzen zwischen den stärkeren und schwächeren Regionen auszugleichen, sind weitgehend indirekt auf die Staatenbildung zurückzuführen.

Im 19. Jahrhundert verstand sich die Schweiz als föderalistisch gefasstes, vielfältiges Gebilde und – bei gleichzeitiger Abgrenzung – als Abbild oder Modell Europas. Sie sah sich in dessen Mitte und verstand sich dadurch gleichsam als seine Essenz, fühlte sich zugleich aber auch in einer Off-shore-Lage, die sie für die Beherbergung gesamteuropäischer Dienste zu prädestinieren schien. In Konkurrenz mit anderen europäischen Kleinstaaten wie Belgien und den Niederlanden gelang es der Schweiz, zu einem europäischen Zentrum für internationale Organisationen zu werden (1863 IKRK, 1869 Telegrafenunion, 1919 Völkerbund).

Zurückhaltung gegenüber der internationalen Zusammenarbeit bis 1945

Eine für die Schweiz konkrete Bezugsgrösse wurde Europa erst im 20. Jahrhundert, als es sich zu organisieren begann. Auf den Briand-Plan von 1930 reagierte die Schweiz zurückhaltend. Man sprach sich für die Senkung der Handelshemmnisse aus, versteckte sich aber, was die politischen Perspektiven betraf, hinter dem Völkerbund. Aus der 1923 von Richard Coudenhove-Kalergi gegründeten privaten und transnationalen Pan-Europa-Bewegung ging 1934 die Europa-Union hervor. Während des Zweiten Weltkriegs war die Europa-Idee weitgehend ein Schlagwort der nationalsozialistischen Propaganda. Doch ab 1944 wurde der Topos von verschiedenen Widerstandsgruppen besetzt, die hofften, dass das Nachkriegseuropa die alten Nationalstaaten nicht mehr wiedererstehen lasse. Im luzernischen Hertenstein versammelte sich 1946 eine kleine Internationale basisdemokratischer Europafreunde, die Europa von unten aufbauen und legitimieren wollte, doch die Gruppe verschwand bald in der Versenkung.

Distanzierte Annäherung an den supranationalen Zusammenschluss nach dem Zweiten Weltkrieg

Ab 1947 musste sich die Schweiz mit verschiedenen intergouvernementalen Organisationen auseinandersetzen. In der OEEC (seit 1960 Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, OECD), welche die wirtschaftliche Kooperation im darniederliegenden Westeuropa ankurbeln wollte, wirkte sie mit, bedingte sich aber eine Enthaltungsklausel aus. Obschon die OEEC das sogenannte Westlager stärkte, hegte die offizielle Schweiz keine neutralitätsrechtlichen Bedenken. Einen Beitritt zum 1949 gegründeten Europarat lehnte sie indessen entschieden ab, weil der eine politische Zusammenarbeit anstrebte. Fortan praktizierte die Schweiz eine zweigleisige Politik: Einerseits strebte sie eine rein technische Kooperation an, andererseits lehnte sie die politische Zusammenarbeit und Integration ab. Der Vorbehalt gegenüber der Mitwirkung in einem grösseren Verband wurde erst mit neutralitätspolitischen Rationalisierungen, später mit der unzumutbaren Einschränkung der direktdemokratischen Rechte begründet.

Auf den Schuman-Plan, der 1951 zur Gründung der Montanunion führte, reagierte die Schweiz irritiert und ablehnend. Die geplante Vergesellschaftung des Kohle- und Stahlbereichs wurde als totalitärer Dirigismus und Monopolisierungs- und Kartellisierungsversuch bezeichnet. Auch die Römischen Verträge von 1957 wurden – unter anderem von einigen Freisinnigen – ungnädig aufgenommen: Die Rede war von Protektionismus, Bürokratenherrschaft, Supranationalismus, Neojakobinertum und einer neuen Grossmacht. 1961 stellte der Bundesrat jedoch ein Assoziationsgesuch für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), weil die Idee einer grossen Freihandelszone gescheitert war. Im Abstimmungskampf um das – vom Volk 1972 akzeptierte – Freihandels-Abkommen wurde die 1967 entstandene Europäische Gemeinschaft (EG) scharf angegriffen. Einzelne Gegner scheuten nicht vor deren Gleichsetzung mit der nationalsozialistischen Hegemonie zurück. Die offiziellen Stellungnahmen bedachten den sich nach und nach herausbildenden westeuropäischen Integrationskern mit freundlichen Glückwünschen. Doch inoffiziell waren sie begleitet von der geheimen Hoffnung, dass die angestrebten Zusammenschlüsse nur bedingt gelingen würden, weil ein stark integriertes europäisches Umfeld die traditionelle Position der Schweiz schwächen und sie zur Aussenseiterin machen würde.

Im Banne der europäischen Integration seit 1989

Die Staaten ausserhalb der EG verloren im Laufe der Jahre immer mehr an Gewicht. Von den sieben Mitgliedern der Europäischen Freihandelsassoziation (Efta), die 1960 als Konkurrenz zur EWG ins Leben gerufen worden war und von der Schweiz als Gegenstück zum restlichen Europa hochgehalten wurde, wechselten schon bald fünf Mitglieder das Lager, und das sechste (Norwegen) steht wegen seiner Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) nur mehr mit einem Fuss in der Efta. Die Schweiz, die den Beitritt zum EWR 1992 ablehnte, ist das einzige Efta-Mitglied ausserhalb dieser Organisation.

Am 2. März 2004 hob in Kourou (Französisch-Guyana) eine Rakete vom Typ Ariane 5G+ ab mit der Sonde Rosetta, die nach zehnjährigem Flug durch den Raum den Kometen 67P/Tschurjumow-Gerassimenko erreichte (European Space Agency).
Am 2. März 2004 hob in Kourou (Französisch-Guyana) eine Rakete vom Typ Ariane 5G+ ab mit der Sonde Rosetta, die nach zehnjährigem Flug durch den Raum den Kometen 67P/Tschurjumow-Gerassimenko erreichte (European Space Agency). […]

Auch die mittel- und osteuropäischen Staaten, die 1989 ihre Bewegungsfreiheit zurückerhalten hatten, bildeten keine Gruppe, mit der die Schweiz ihren traditionellen Sonderstatus stärken konnte. 1993 entstand die Europäische Union (EU), was den indirekt durch die sich zunehmend integrierenden europäischen Staaten entstandenen Druck auf die Schweiz erhöhte. Nach der Wende zum 21. Jahrhundert hofft sie, dass der problematische Gegensatz zur EU durch eine wechselseitige Annäherung abgebaut werde. Einerseits soll sich die Schweiz unter Beibehaltung aller Eigenheiten weiter europäisieren, andererseits Europa sich mit einer Föderalisierung und Demokratisierung helvetisieren. Mit der Annahme der bilateralen Abkommen I durch das Schweizer Stimmvolk im Jahre 2000 sind die Verhandlungen mit der EU intensiviert worden. Die europäische Frage polarisiert die Schweizer Wirtschaft, von der Teile auf einen Zugang zum europäischen Markt angewiesen sind, und die Bevölkerung: Der Linken, der Grossindustrie und dem Freisinn, die mehrheitlich der EU beitreten möchten, steht die nationalkonservative Rechte gegenüber, die diesen Beitritt um jeden Preis verhindern will. Durch die Einführung des Euro 1999 und die Osterweiterung 2004 wurde die sich beschleunigende umfassende europäische Integration einer Schweiz, die sich gegenüber Europa immer wieder als Sonderfall verstanden hat, erneut und deutlich vor Augen geführt. Auch wenn sich ihr Föderalismus mit Denis de Rougemont als mögliches Vorbild für Europa verstehen lässt und ihre Bikonfessionalität eine Eigentümlichkeit ist, sind Vielsprachigkeit und Alpen auch andernorts anzutreffen.

Quellen und Literatur

  • La Suisse et son avenir européen, hg. von R. Ruffieux et al., 1989
  • P. Du Bois, Die Schweiz und die europ. Herausforderung, 1990, (franz. 1989)
  • L. Jilek, L'esprit européen en Suisse de 1860 à 1940, 1990
  • E. Flury-Dasen, «Die Union européenne des fédéralistes und die Europa-Union», in Itinera 18, 1996, 32-55
  • G. Kreis, «Nach der schweiz. jetzt die europ. Integration», in Der Beitritt der Schweiz zur Europ. Union, hg. von T. Cottier, A. Kopse, 1998, 189-212
Weblinks
Normdateien
GND

Zitiervorschlag

Georg Kreis: "Europa", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 23.10.2006. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007147/2006-10-23/, konsultiert am 12.04.2024.