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Aargau

Wappen des Kantons Aargau
Wappen des Kantons Aargau […]
Oro- und hydrografische Karte des Kantons Aargau mit den wichtigsten Ortschaften
Oro- und hydrografische Karte des Kantons Aargau mit den wichtigsten Ortschaften […]

Seit 1803 Kanton der Eidgenossenschaft. Französisch Argovie, italienisch und rätoromanisch Argovia. Quellen des 8. Jahrhunderts verwenden die Bezeichnung Aargau für das Gebiet zwischen Aare, Reuss, Pilatus und Napf. Um die Mitte des 9. Jahrhunderts erscheinen die Namen Oberaargau und Unteraargau (Berner Aargau) zur Bezeichnung von Teilräumen. Erst im Spätmittelalter dehnte sich die Landschaftsbezeichnung Aargau auch auf die Gegend um die Grafschaft Baden aus. Das Fricktal fiel bis 1803 nicht unter diesen Begriff. 1415-1798 umfasste das heutige Kantonsgebiet den Berner oder Unteraargau, die Grafschaft Baden, die Freien Ämter und das vorderösterreichische Fricktal, 1798-1803 die helvetischen Kantone Baden und Aargau sowie nach wie vor das Fricktal (1802-1803 ebenfalls helvetischer Kanton). Amtssprache ist Deutsch, Hauptort Aarau.

Struktur der Bodennutzung im Kanton Aargau (Stand 1994)

Fläche (1994)1 403,7 km2 
Wald / bestockte Fläche517,9 km237,0%
Landwirtschaftliche Nutzfläche635,6 km245,3%
Siedlungsfläche216,7 km215,4%
Unproduktive Fläche33,5 km22,4%
Struktur der Bodennutzung im Kanton Aargau (Stand 1994) -  Arealstatistik der Schweiz

Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur des Kantons Aargau 1850-1990

Jahr 1850190019501990
Einwohner 199 852206 498300 782507 508
Anteil an Gesamtbevölkerung der Schweiz8,4%6,2%6,4%7,4%
SpracheDeutsch 203 071291 101435 103
 Französisch 8193 1104 339
 Italienisch 2 4155 33524 758
 Rätoromanisch 43488755
 Andere 15074842 493
KonfessionProtestantisch107 194114 176171 296218 379
 Katholisch (bis 1900 inkl. Christkatholisch)91 09691 039122 172224 836
 Christkatholisch  5 0963 676
 Israelitisch1 562990496405
 Andere und konfessionslos792931 72260 212
 davon konfessionslos   30 476
NationalitätSchweizer196 890196 455290 049420 616
 Ausländer2 96210 04310 73386 892
Jahr 1905193919651995
Beschäftigte im Kt.1. Sektor60 63564 68717 55015 625a
 2. Sektor47 63263 224120 97297 358
 3. Sektor13 72121 10845 742141 333
Jahr 1965197519851995
Anteil am Schweiz. Volkseinkommen6,5%6,9%6,9%7,2%

a Zahl nach der Landwirtschaftl. Betriebszählung 1996

Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur des Kantons Aargau 1850-1990 -  Bundesamt für Statistik; Historische Statistik der Schweiz

Das Kantonsgebiet von der Urzeit bis ins Hochmittelalter

Ur- und Frühgeschichte

Seit dem 19. Jahrhundert spielten Lokalforscher und verschiedene Historische Vereinigungen eine tragende Rolle in der Erforschung der Ur- und Frühgeschichte. Wichtige Forscher sind unter anderen Jakob Heierli, der 1898 die Archäologische Karte des Kantons Aargau herausgegeben hat, und Reinhold Bosch, der neben seiner Ausgrabungstätigkeit die Steinzeitwerkstatt in Seengen gegründet hat. Unter Bosch wurde 1947 die Kantonsarchäologie institutionalisiert. Quellen der Ur- und Frühgeschichte sind seither vermehrt die kantonalen Ausgrabungen. Die rege Bautätigkeit seit den 1960er Jahren hat allerdings die Fundstellensituation und damit die aktuelle Kenntnis über die Besiedlung des Kantonsgebiets in ur- und frühgeschichtlichen Zeiten stark beeinflusst.

Der Naturraum des Kantons Aargau ist im Jura durch die Gebirgsbildung und im Mittelland infolge der Gletscherbewegungen des Quartärs (Eiszeiten) durch Moränenwälle stark gegliedert. Dies sowie die Lage an den grossen Flussläufen des schweizerischen Mittellandes führte bereits in ur- und frühgeschichtlicher Zeit zu unterschiedlichen kulturellen Entwicklungen in den Teilgebieten. Das in Südwest-Nordost-Richtung offene aargauische Mittelland hat immer wieder kulturelle Einflüsse aus beiden Richtungen aufgenommen. Das nördlich der Juraketten gelegene und nach Norden hin offene Fricktal gehört dagegen kulturgeschichtlich zur Nordwestschweiz, mit Beziehungen zu Regionen nördlich des Rheins und in die Oberrheinebene.

Alt- und Mittelsteinzeit

Der älteste Nachweis menschlicher Präsenz ist ein ca. 150'000-100'000 Jahre alter Faustkeil aus Zeiningen-Uf Wigg. Ca. 50'000 Jahre alt ist ein aus der Zeit des Neandertalers stammendes, auf einer Niederterrasse des Rheins in Stein-Bustelbach gefundenes Steinwerkzeug, vergleichbar Werkzeugen von Löwenburg oder Cotencher. Aus der Spätphase der letzten Würm-Vergletscherung (ca. 35'000-8000 v.Chr.) sind zahlreichere menschliche Spuren bekannt: einzelne Feuersteinfunde sowie am rechten Ufer des Magdenerbachs, auf der Nordseite des kleinen Ermitagehügels bei Rheinfelden, von Rentier- und Wildpferdejägern mehrmals benutzte Rastplätze. Mit einem Temperaturanstieg und dem endgültigen Rückschmelzen der Gletscher entstand eine Moorlandschaft und nach und nach eine flächendeckende, lockere Bewaldung. Der Mensch lebte in dieser Zeit (8000-6000 v.Chr.) immer noch als Jäger, Fischer und Sammler und siedelte vor allem an den Seen und Flüssen sowie auf den Hochterrassen der grossen Täler. Zahlreich sind Überreste menschlicher Aktivitäten auf den Hochterrassen des unteren Limmattals, zum Beispiel verschiedene Rastplätze in Wettingen-Tägerhard. Erst spärlich nachgewiesen, aber noch vermehrt zu erwarten sind Siedlungen auf anderen Hochterrassen (z.B. Aaretal) oder in Situationen, die mit dem Wauwilermoos vergleichbar sind (z.B. Bünztal).

Jungsteinzeit

Für das 6. Jahrtausend v.Chr. sind in der Schweiz erstmals sesshafte Bauern belegt. Herausragende Erfindung der Jungsteinzeit ist das auch im Kanton Aargau häufig gefundene geschliffene Steinbeil. Aus dem Zeitraum bis 4500 v.Chr. sind im Kantonsgebiet keine eindeutig zuweisbaren Funde bekannt. Erst aus der Spätphase der frühen jungsteinzeitlichen Besiedlung (4500-4200 v.Chr., Rössener Kultur, Egolzwiler Kultur) kennen wir aus Würenlos und Wettingen-Klosterscheuer, als älteste Zeugen bäuerlicher Präsenz, einzelne Beilfunde. Das schweizerische Mittelland war in der Jungsteinzeit Grenzgebiet zweier grossräumiger Kulturbereiche, die sich nach dem Mittelmeer- bzw. Donauraum orientierten. Ab 4200 v.Chr. verschob sich diese Grenze vom mittleren Zürichsee allmählich westwärts. Um 3500 v.Chr. muss sie irgendwo östlich der Juraseen, vielleicht im Kanton Aargau, verlaufen sein. 4200-3500 v.Chr. wurden an verschiedenen Orten Steinkistengräber errichtet. Im grössten bekannten Gräberfeld der Zentral- und Ostschweiz, in Lenzburg-Goffersberg, wurden die Individuen in 16 Steinkisten mehrheitlich in Hockerstellung bestattet. In den meisten Kisten war mehr als ein Toter beigesetzt worden. Dieser für die schweizerische Forschung wichtige Bestattungsplatz ist von seiner Grabform her der Westschweiz zuzuweisen (vgl. Pully-Chamblandes), wogegen die Grabbeigaben eher Richtung Ostschweiz deuten. Dass wir aus dieser Zeit im Kanton Aargau Gräber und Einzelfunde, nicht aber Siedlungen kennen, hängt einerseits mit der damals üblichen, wenig verzierten und deshalb schlecht identifizierbaren Keramik zusammen. Andererseits hat sich die Forschung seit ca. 1970 auf die Untersuchung von Seeufersiedlungen (gute Erhaltungsbedingungen) konzentriert, den Hallwilersee, den einzigen grösseren See im Kanton, aber bisher noch nicht berücksichtigt. Von ca. 4000 v.Chr. bis in die späte Bronzezeit dürften am oder in der Nähe des Hallwilersees mehr Dörfer gestanden haben, als heute ausgewiesen sind; die bekannteste jungsteinzeitliche Siedlung am Hallwilersee ist Meisterschwanden-Erlenhölzli. Der Horgener und der Schnurkeramikkultur (3300-2400 v.Chr.) sind einige grössere Siedlungsplätze zuzuweisen, zum Beispiel Mumpf-Chapf. In Sarmenstorf-Zigiholz, auf dem Höhenzug, der das Bünztal vom Seetal trennt, befindet sich eine wichtige Grabhügelgruppe mit Brandbestattungen aus der Zeit um 2400 v.Chr. Aus der gleichen Zeit stammt das 1997 entdeckte Kollektivgrab von Spreitenbach-Moosweg, je vier Frauen, Männer und Kinder sowie ein Neugeborenes, die in einer Holzkiste bestattet waren.

Bronze- und Eisenzeit

Wie in der übrigen Schweiz ist auch im Kanton Aargau die Übergangszeit vom Neolithikum zur Bronzezeit (2400-1800 v.Chr.) schlecht oder gar nicht belegt. Ausnahme ist eine 1986 in Zurzach-Himmelrych gefundene Doppelbestattung. Erst aus dem Zeitraum 1800-1600 v.Chr. wurden vereinzelt Bronzebeile gefunden, die meisten im Aaretal oder an den Unterläufen der südlichen Zuflüsse. Bedingt durch eine Bevölkerungszunahme ab dem 16. Jahrhundert v.Chr. und ab 1200 v.Chr. vielleicht auch durch vermehrte kriegerische Ereignisse, nutzte der Mensch neben den Seeufern (z.B. Seengen-Risle) oder den Hanglagen der Täler zunehmend auch natürliche Schutzlagen (z.B. Kestenberg ob Möriken, Wittnauer Horn). Diese Höhensiedlungen (mit Wallanlagen) waren zum Teil bis in die ältere Eisenzeit (Hallstattzeit) bewohnt. Gräber aus der Spätbronzezeit wurden zum Beispiel in Möhlin-Niederriburg gefunden.

Die Siedlungsgeschichte der Hallstatt- und der Latènezeit (750 v.Chr.-1. Jh. v.Chr.) muss vor allem aus Grabfunden erschlossen werden. Viele kleinere und grössere Grabhügelgruppen wurden südlich der Aare gefunden, vor allem im Freiamt. Für den Fernhandel, der in diesem Zeitraum im Kantonsgebiet an Bedeutung gewann, dürften das Reusstal und seine Nebentäler als Nord-Süd-Verkehrswege eine gewisse Rolle gespielt haben. So ist es sicher kein Zufall, dass das Gräberfeld von Unterlunkhofen-Bärhau im Reusstal liegt. Zu einer bedeutenden Grabhügelnekropole wie dieser – mit über 60 Grabhügeln der grössten ihrer Art in der Schweiz – gehörte wohl eine bisher noch nicht bekannte befestigte Anlage, wie wir sie zum Beispiel auf dem Üetliberg kennen. Weitere wichtige hallstattzeitliche Grabhügel oder Grabhügelnekropolen im Kanton Aargau sind Wohlen-Häslerau, Wohlen-Hohbühl, Schupfart-Tägertli, Seon-Fornholz und Reinach-Einschlag. Aus römischen Quellen wissen wir, dass im 1. Jahrhundert v.Chr. das Mittelland vom keltischen Stamm der Helvetier besiedelt war. Nur schlecht kennen wir diese Zeit. Grössere Siedlungen standen in Mellingen und in Baden-Kappelerhof, eine befestigte Siedlung auf dem Windischer Plateau. Ob es sich bei der spätkeltischen Schicht in Vindonissa um eines der zwölf von Caesar erwähnten Oppida handelt, ist noch nicht geklärt.

Römische Zeit

Die Gewichtung des Aargaus als Siedlungslandschaft von strategischer Bedeutung liegt in erster Linie in seiner Situation als Dreistromland (Aare, Reuss, Limmat) begründet, das sich zum Rhein hin entwässert. Dieser bildet eine natürliche Grenze nach Norden. Der Durchbruch der Aare durch den Tafeljura unterhalb von Brugg ergibt eine ebenso natürliche Pforte ins Mittelland. Diese besondere topografische Situation hatte schon die nach der gegen Caesar verlorenen Schlacht bei Bibracte (58 v.Chr.) in ihre Heimat zurückgekehrten Helvetier veranlasst, auf dem Geländesporn bei Windisch eine befestigte Siedlung anzulegen, von welcher das untere Aaretal zu überblicken war. Ähnliche Überlegungen führten im Zusammenhang mit der Eroberung des Alpenraums durch Drusus und den späteren Kaiser Tiberius 15 v.Chr. römische Militärstrategen dazu, das Plateau von Windisch über dem Zusammenfluss von Aare und Reuss für die Gründung eines kleinen Militärkastells auszuwählen. Nach der Konsolidierung der nördlichen Reichsgrenze entlang des Rheins in den Jahren nach 14 n.Chr. durch Kaiser Tiberius wurde das Kastell zur Legionsfestung Vindonissa ausgebaut. Gleichzeitig entstanden zum Schutz der wichtigsten Heeresstrassen und Rheinübergänge in Kaiseraugst und Zurzach kleinere Kohortenkastelle.

Das Mittelland und somit auch das Gebiet des Aargaus wurde als Civitas der Helvetier in die römische Provinz Belgica eingegliedert. Die Ausbreitung römischer Zivilisation und Kultur fand ihren Anfang. Erste dorfähnliche Siedlungen in Baden, Lenzburg und Zurzach entstanden, veranlasst durch die im Legionslager liegende Truppe. Um die Versorgung der rund 6000 Mann starken Besatzung zu gewährleisten, gründete man an vielen günstig gelegenen Orten Gutshöfe, deren landwirtschaftliche Produktion in erster Linie zur Deckung des täglichen Bedarfs der in Vindonissa und in den umliegenden Militärstationen liegenden 13. Legion und ihrer Hilfstruppen diente. Verbunden waren diese Höfe durch ein engmaschiges Strassennetz, das seine Hauptachsen in den beiden Heeresstrassen Strassburg-Augst-Windisch-Zürich-Bündner Pässe und Grosser-St.-Bernhard-Avenches-Solothurn-Windisch-Zurzach-Hüfingen (D) hatte.

Die sich anbahnende wirtschaftliche Prosperität fand einen jähen Unterbruch durch kriegerische Auseinandersetzungen nach dem Tod des römischen Kaisers Nero (68 n.Chr.). Die Fehleinschätzung der politischen Lage durch die helvetische Miliz, welche im folgenden Jahr die Herrschaft des Vitellius ablehnte, führte zu einer Strafaktion durch die zu diesem Zeitpunkt in Vindonissa stationierte 21. Legion, die sich in der Zerstörung und Plünderung von Dörfern und Gutshöfen in der weiten Umgebung des Militärlagers manifestierte und ihr Ende erst vor den Toren der Helvetierhauptstadt Aventicum fand. Der Regierungsantritt Kaiser Vespasians führte zu einer Beruhigung der Lage und zu einer Änderung der römischen Politik gegenüber dem rechtsrheinischen Germanien.

Abbildung (Ausschnitt) aus Friedrich Samuel Schmidts Recueil d'antiquités trouvées à Avenches, à Culm et en d'autres lieux de la Suisse, Bern, 1760 (Bibliothèque de Genève).
Abbildung (Ausschnitt) aus Friedrich Samuel Schmidts Recueil d'antiquités trouvées à Avenches, à Culm et en d'autres lieux de la Suisse, Bern, 1760 (Bibliothèque de Genève). […]

Das Vordringen römischer Armeen nach Norden und die damit verbundene Verschiebung der Reichsgrenze (Limes) in der zweiten Hälfte des 1. Jahrhunderts veränderte die Bedeutung des schweizerischen Mittellands. Es war nicht mehr Grenz-, sondern Binnengebiet des Römischen Reichs und profitierte von einer nun beginnenden 150-jährigen Friedenszeit. Reger Handel liess die zivilen Siedlungen aufblühen und zum Teil ausserordentlich reich ausgestattete Gutshöfe und Villen entstehen. Die grossen Gutsanlagen von Oberentfelden und Zofingen mit ihren Hauptgebäuden von über 90 m Frontlänge und ihren reichen Ausstattungen (Badeanlagen, Wandmalereien, Mosaiken usw.) gehören zu den eindrücklichsten Zeugen dieser Zeit. Die Besiedlung von Tälern und sonnigen Hängen war überaus dicht. Es gibt fast keine aargauische Gemeinde, auf deren Gebiet sich nicht Reste von mindestens einem Gehöft aus römischer Zeit befinden. Nach dem Abzug der 11. Legion aus dem Legionslager Vindonissa und dessen Aufgabe um 101 waren in erster Linie die Thermalstadt Baden (Aquae Helveticae) und der Marktplatz Lenzburg (Lentia?) mit seinem Kultzentrum (Theater, Tempel usw.) Zentren öffentlichen und privaten Lebens. Handwerksbetriebe produzierten das zum täglichen Bedarf Notwendige und vertrieben es zum Teil auch über den lokalen Bereich hinaus. Bekannt sind Töpfereien unter anderem in Windisch, Baden und Lenzburg, Ziegeleien in Kölliken und Hunzenschwil sowie die beinahe industriell betriebenen Kalksteinbrüche in Mägenwil und Würenlos. Die Produkte des Bronzeschmieds Gemellianus aus Baden fanden gar Absatz in weiten Teilen des Römischen Reichs.

Römische Fundstellen im Kanton Aargau
Römische Fundstellen im Kanton Aargau […]

Erst die Alemanneneinfälle von 213 und 233 beendeten diese lange dauernde Friedenszeit. 259 und in den folgenden Jahren durchbrachen Alemannen mehrmals den obergermanischen Limes und drangen bis weit ins schweizerische Mittelland vor. Dabei zerstörten und plünderten sie Städte, Dörfer und Gehöfte. Das Gebiet musste von der römischen Armee aufgegeben werden, und der Rhein wurde wieder Reichsgrenze. Die gallorömische Bevölkerung zog sich zum grossen Teil in neu befestigte Orte zurück. Castrum Rauracense (Kaiseraugst) und Tenedo (Zurzach) am Rhein, Castrum Vindonissense (Windisch) und Aquae Helveticae (Baden) im Hinterland waren die Kastellorte auf aargauischem Boden. Später kam noch das Flusskastell von Altenburg bei Brugg dazu. Vereinzelt wurden auch Gutshöfe in bescheidenem Rahmen wiederaufgebaut (z.B. Birmenstorf, Oberkulm) oder neu errichtet (Rheinfelden). Die folgenden Jahrzehnte blieben aber unsicher. Immer wieder suchten Alemannen das Grenzgebiet heim. So wurde die Grenze entlang des Rheins besonders unter Kaiser Konstantin dem Grossen zu Beginn des 4. Jahrhunderts unter Kaiser Valentinian I. in der zweiten Jahrhunderthälfte kontinuierlich ausgebaut. Allein zwischen den Kastellen von Kaiseraugst und Zurzach entstanden über 20 Wachttürme unterschiedlicher Grösse, die eine lückenlose Überwachung der Grenze gewährleisten sollten. Aber auch im Hinterland entstanden Wachtposten zur Strassensicherung (Mandacher Egg, Frick) und fluchtburgähnliche Befestigungen (Wittnauer Horn). Dennoch blieb die Situation gefahrvoll. Besonders um die Mitte des 4. Jahrhunderts fielen immer wieder Alemannen ein, was sich in einer grösseren Zahl von Versteckfunden ablesen lässt (z.B. Silberschatz von Kaiseraugst, Münzhorte aus Unterkulm und Hausen). Es waren dann vorwiegend inneritalienische Ereignisse (Westgoten- und Vandaleneinfälle, Thronwirren), die zu Beginn des 5. Jahrhunderts zum Abzug der am Rhein verbliebenen römischen Grenztruppen führten. Die zurückgebliebene gallorömische Bevölkerung lebte stark dezimiert und zurückgezogen in den befestigten Orten, bis gegen Ende des 5. Jahrhunderts das freie Land von Alemannen allmählich besiedelt wurde.

Frühmittelalter

Im Gegensatz zur römischen Epoche, in welcher der ganze nordalpine Bereich der Schweiz Teil zweier Provinzen war und eine mehr oder weniger einheitliche Entwicklung erlebte, wird das Frühmittelalter geprägt durch unterschiedliche Einflüsse, die je nach Landesgegend und Quellenlage besser oder schlechter fassbar sind.

Allgemein lässt sich feststellen, dass nach dem Ende der römischen Herrschaft, das in etwa mit dem Untergang Westroms (476) zusammenfiel, die Nord- und Ostschweiz sukzessive von alemannischen Einwanderern besiedelt wurde. Diese friedliche und Jahrzehnte dauernde Landnahme wurde offensichtlich von den merowingischen Königen des Frankenreichs geduldet, vermutlich gar gefördert. Auseinandersetzungen mit der einheimischen, stark reduzierten gallorömischen Bevölkerung im Umfeld der spätantiken Kastellorte Kaiseraugst, Zurzach oder Windisch sind nicht bezeugt. Die Niederlage der Alemannen 496/497 gegen den merowingischen König Chlodwig I. führte zu einer ersten Integration der alemannischen Gebiete, zu denen auch der aargauische Raum zu zählen ist, ins Frankenreich. Sie unterstanden alemannischen Herzögen, die von den merowingischen Königen eingesetzt wurden. Um die Mitte des 7. Jahrhunderts verselbstständigte sich das alemannische Herzogtum weitgehend. Es wurde erst unter den karolingischen Hausmeiern 746 erneut unterworfen und endgültig aufgelöst. Der Aargau wurde dadurch Teil des Karolingerreichs, wobei der karolingische Aregau ein wesentlich grösseres Gebiet als das des heutigen Kantons Aargau umfasste.

Etwas differenziertere Angaben lassen sich zu den frühmittelalterlichen kirchlichen Strukturen machen. Diese basierten vorerst auf den in der Spätantike entstandenen Bistümern. Sowohl für Kaiseraugst (im 4. Jh. und im frühen 7. Jh.) wie auch für Windisch (im 6. Jh.) sind Bischöfe belegt. Windisch wurde vermutlich durch Avenches und später Lausanne, vielleicht auch durch das in der ersten Hälfte des 7. Jahrhunderts gegründete Bistum Konstanz ersetzt. Der Sitz von Kaiseraugst wurde wohl im 7. Jahrhundert nach Basel verlegt. Spätrömische Wurzeln haben auch die frühen kirchlichen Bauten in Zurzach. Aus ihnen entwickelte sich im Verlauf des Frühmittelalters das älteste klösterliche Zentrum des Aargaus. Den frühen christlichen Gemeinden in den ehemaligen spätrömischen Kastellen stand die neu eingewanderte, weitgehend heidnisch alemannische Bevölkerung gegenüber, von der sich vorerst lediglich Angehörige der Führungsgruppe in Anlehnung an das merowingische Königshaus zum Christentum bekannten.

Eine weiterreichende Christianisierung setzte erst mit der irischen Mission im frühen 7. Jahrhundert ein, für die man allerdings im aargauischen Raum bis heute keine Belege kennt. Ob der heilige Fridolin von Säckingen aus, wo er als Klostergründer gilt, auch im Aargau wirksam war, wissen wir nicht. Jedenfalls lassen sich die frühesten Kirchenbauten ausserhalb der spätrömischen Kastelle in diesen Zeitraum datieren. Dabei sind zwei Kirchentypen zu unterscheiden: einerseits die Pfarrkirchen mit Tauf-, Begräbnis- und Zehntrecht, wie zum Beispiel die St. Leodegarkirche in Rein (Gemeinde Rüfenach), die St. Mauritiuskirche in Suhr oder die St. Martinskirche in Windisch, andererseits die vom sich ausbildenden lokalen Adel als persönliche Grablege gestifteten Eigenkirchen, für deren Unterhalt die Stifterfamilien aufzukommen hatten. Beispiele dafür sind die frühen Kirchen von Frick, Schöftland, Seengen und Zofingen, die alle in die Zeit um 600 zu datieren sind.

Die Resultate archäologischer und ortsnamenkundlicher Forschungen zeichnen heute ein recht differenziertes Bild der frühmittelalterlichen Siedlungsentwicklung im Aargau. Den Ortsnamen, die auf eine ursprüngliche gallorömische Besiedlung hinweisen, wie Herznach, Schinznach oder Mandach, sowie den Friedhöfen des 5. und 6. Jahrhunderts der gallorömischen Bevölkerung von Kaiseraugst, Zurzach oder Windisch stehen die vom frühen 6. Jahrhundert an nachgewiesenen Reihengräberfelder der eingewanderten Alemannen gegenüber (z.B. Brugg, Elfingen, Jonen, Rekingen, Villigen). Die älteren alemannischen Ortsnamen-Endungen -ingen, -heim oder -dorf (z.B. Oftringen, Muhen, Sarmenstorf) und die etwas jüngeren Endungen -ikon oder -bach (Dintikon, Spreitenbach) zeichnen die mehr oder weniger von Norden nach Süden und vom späten 5. bis ins frühe 8. Jahrhundert erfolgende alemannische Besiedlung des Aargaus nach.

Die Befunde zur frühmittelalterlichen Siedlungsweise und Wirtschaft sind spärlich. Vereinzelte Grabbeigaben (Zofingen, Elfingen) geben Hinweise auf Handelsbeziehungen mit dem oberitalienischen Langobardenreich. Ein kleiner Münzschatz merowingischer Silberdenare aus der Mitte des 8. Jahrhunderts vom Wittnauer Horn deutet auf Beziehungen zum Niederrhein hin.

Herrschaft, Politik und Verfassung vom Hochmittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts

Hochmittelalterliche Herrschaftsstrukturen

Von den ersten urkundlichen Erwähnungen im 8. Jahrhundert an hat der Aargau in seiner geografischen Gesamtheit nie eine politische oder herrschaftliche Einheit gebildet. In einwandfrei gesicherter Überlieferung erstmals 795 mit in pago Argue umschrieben, umfasste der Aargau als vager Landschaftsbegriff bis ins Spätmittelalter das Einzugsgebiet der Aare von deren Zusammenfluss mit Reuss und Limmat bis ins Berner Oberland und bis an den Alpenrand am Vierwaldstättersee. Nicht zum Aargau gehörten dagegen die heutigen Kantonsgebiete östlich der Reuss und nördlich des Jurakamms. Einzelne Teile des weitläufigen, durch Flüsse und Höhenzüge stark gegliederten Aargaus erhielten schon früh eigene Landschaftsbezeichnungen (861 in superiori pago Aragauginse), was aber keineswegs als "Teilung" eines (imaginären) fränkischen Verwaltungsbezirks gedeutet werden darf, der identisch mit dem geografischen Begriff gewesen wäre.

Die auf frühmittelalterlichen Grundlagen entstandenen kirchlichen Organisationsstrukturen im heutigen Kantonsgebiet dürften in den Grobformen – abgesehen von späteren Klostergründungen – bereits im 9./10. Jahrhundert voll ausgebildet gewesen sein, auch wenn sie erst im Spätmittelalter genauer fassbar werden. Der gesamte Aargau rechts bzw. südlich der Aare gehörte zur Diözese Konstanz und war in Dekanate unterschiedlicher Grösse eingeteilt (u.a. Kloten, Wohlenschwil, Reitnau). Die meisten dieser ehemaligen Dekanate werden von den heutigen Kantonsgrenzen durchschnitten. Das Fricktal zählte zur Diözese Basel. Ausser der Umgebung von Rheinfelden, die im Dekanat Sisgau lag, bildete das Juragebiet zwischen Aare und Rhein das Dekanat Frickgau.

Durch den Teilungsvertrag von Verdun (843) gelangte das Gebiet rechts der Aare an das ostfränkische Reich Ludwigs des Deutschen. Das erklärt vielleicht die kirchliche Unterstellung dieser Region unter die Diözese Konstanz, hatte aber auf den Prozess der Herrschaftsbildung keine langfristigen Auswirkungen. Grundherrliche Strukturen im Aargau werden durch Güterübertragungen weltlicher Besitzer an die Kirche im 9. und 10. Jahrhundert fassbar. Um dieselbe Zeit sind auch gräfliche Herrschaftsbereiche durch die Nennung von comitatus (z.B. 894 in superiori Aragouue in comitatu Hebarhardi) bezeugt. Im Laufe des 10. Jahrhunderts gelang es den Königen von Hochburgund, ihren Einflussbereich über den grössten Teil des Aargaus bis an die Reuss vorzuschieben. Ein weiteres Vordringen verhinderte 919 Herzog Burchard II. von Schwaben durch seinen Sieg bei Winterthur über König Rudolf II. von Burgund. Die Schwäche der königlichen Zentral- und Territorialgewalt in Burgund erleichterte im Aargau die Bildung autonomer Adelsherrschaften, deren Entstehung eng mit dem Prozess des hochmittelalterlichen Landesausbaus verknüpft war.

Ab wann im Aargau die Errichtung von Burgen mit Zentrumsfunktion den Prozess der Herrschaftsbildung begleitet hat, ist beim gegenwärtigen Forschungsstand schwer abzuschätzen. Archäologische Befunde von Alt-Homberg im Fricktal und von der Frohburg, deren Besitzer ursprünglich im Raum Zofingen-Knutwil begütert waren, reichen ins 10. oder 9. Jahrhundert zurück. Die früher in die Jahrtausendwende datierten "Megalithtürme", zum Beispiel von Aarau oder Hallwil, gehören ins 13. Jahrhundert. Für die Geschichte des Aargaus wäre es von besonderem Interesse, Genaueres über die Anfänge der Lenzburg zu wissen, die im Kernbereich des Aargaus bei der Entwicklung der gräflichen Landesherrschaft eine Schlüsselstellung einnahm. Archäologische Befunde setzen im 11. Jahrhundert ein, doch bleibt die Frage nach einem eventuell höheren Alter der Lenzburg einstweilen offen. Dass die Aufrichtung kleinerer, burgengestützter Herrschaften – vermutlich durch edelfreie Gruppen – um die Jahrtausendwende eingesetzt haben muss, wird durch verschiedene Grabungsbefunde belegt (u.a. Kaisten, Tegerfelden, eventuell auch Hallwil).

Als bedeutendste Machthaber des 11. und 12. Jahrhunderts haben die Grafen von Lenzburg zu gelten, doch bleiben die Anfänge ihrer Stellung im Aargau im Dunkeln. Um 1036 treten sie als Schirmvögte des Stifts Beromünster in Erscheinung, das sie aber nicht selbst gegründet, sondern von nicht sicher bestimmbaren Vorgängern übernommen zu haben scheinen. Beginnend mit Ulrich I. (erste Hälfte 11. Jh.) bezeichneten sie sich als Grafen im Aargau und nannten sich nach der Lenzburg. Ihre hauptsächlichen Machtbereiche erstreckten sich im Aargau einerseits auf die Schirmvogtei über Beromünster und andererseits auf das Seetal und das Gebiet um Baden, wo sie mit dem "Stein" über eine zweite Burg verfügten. Ferner übten sie die Kastvogtei über das Stift Säckingen aus. Der Lenzburger Herrschaftsverband im Aargau bildete keine geschlossene Einheit, sondern ein heterogenes, von autonomen Güterkomplexen durchsetztes Machtgebilde, das von den gräflichen Hoheitsrechten zusammengehalten wurde.

Längs der Reuss entstand im 11. Jahrhundert als zweites herrschaftliches Kraftfeld der Besitzkomplex des Hauses von Habsburg, der sich um die 1030/1040 gegründete Habsburg sowie um das habsburgische Hauskloster Muri gruppierte. Westlich des lenzburgischen Machtbereichs, im Wiggertal, begann das Einflussgebiet der Grafen von Frohburg. Kleinere Herrschaftskomplexe richteten im 11. und 12. Jahrhundert unter anderem die Freiherren von Hallwyl, von Balm, von Eschenbach, von Tegerfelden und andere edelfreie Herren auf. Im Fricktal sassen die Grafen von Homberg-Thierstein.

In der Reichspolitik des 10. und 11. Jahrhunderts spielte der Aargau eine zweitrangige Rolle. Erst der Investiturstreit, in dem die Lenzburger zusammen mit dem Bischof von Basel und dem Abt von St. Gallen für den Kaiser Partei ergriffen, rückte am Ende des 11. Jahrhunderts den Aargau ins Blickfeld des kaiserlichen Interesses. Während vom Zusammenbruch des Hauses Rheinfelden – dessen Hauptbesitz sich im Oberaargau um Burgdorf konzentrierte – ausser dem Bischof von Basel vor allem die Zähringer profitierten, gelangten die Lenzburger durch kaiserliche Gunst in den Besitz der päpstlich gesinnten Nellenburger im Zürichgau. Ihre kaiserfreundliche Haltung übertrugen sie um die Mitte des 12. Jahrhunderts auf das staufische Herrscherhaus, für das sie in der Folgezeit als zuverlässigste Stütze im nördlichen Alpenvorland galten. Als 1172 bzw. 1173 beide Linien (Baden, Lenzburg) des Geschlechts im Mannesstamm erloschen, regelte Kaiser Friedrich I. Barbarossa die Erbfolge, wozu er 1173 persönlich auf der Lenzburg erschien. Den Habsburgern wurden ausser der Kastvogtei über Säckingen die Grafschaftsrechte sowie sonstige Güter im Aargau überlassen. Dem Versuch des Kaisers, das übrige Erbe, im Aargau insbesondere die Herrschaft Lenzburg und die Vogtei Beromünster, durch Übertragung an seinen Sohn, den Pfalzgrafen Otto, seinem Hause zu sichern, blieb der Erfolg versagt. Denn spätestens nach Ottos frühem Tod (um 1200) gelang es den Grafen von Kyburg, ihre Erbansprüche auf die Lenzburger Güter durchzusetzen und die Staufer aus dem Aargau zu verdrängen.

Herrschaftspolitisch erlangte der Aargau für die Grafen von Kyburg erhöhte Bedeutung, als sie nach dem Aussterben der Zähringer (1218) deren linksrheinischen Besitz erbten, namentlich die Reichsvogtei Zürich und die Güter im Oberaargau. Dies öffnete den Kyburgern die Perspektive, eine Territorialherrschaft aufzurichten, die vom Bodensee bis ins Berner Oberland gereicht und in welcher der Aargau ein zentrales Teilstück gebildet hätte. Die territorialpolitische Durchdringung des Aargaus durch die Kyburger in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts äusserte sich unter anderem in der Gründung bzw. Erweiterung von Städten (u.a. Baden, Aarau, Richensee und Mellingen), ferner im Ausbau landesherrlicher Burgen und ansatzweise in der Integration des autonomen Landadels in die kyburgische Lehns- und Dienstabhängigkeit. Es gelang den Kyburgern allerdings nicht, all die vielen, burgengestützten Kleinherrschaften, die sich im Aargau im 12. und 13. Jahrhundert vornehmlich im Rodungsland gebildet hatten, vollständig unter ihre Kontrolle zu bringen.

In enger Verflechtung mit der Bildung weltlicher, burgengestützter Herrschaften entstanden im Aargau vom 10. Jahrhundert an klösterliche Grundherrschaften. Auswärtige Klöster wie Allerheiligen in Schaffhausen, St. Blasien, Einsiedeln oder Engelberg verfügten über weitläufiges, um Dinghöfe gruppiertes Streugut. Der Besitz von St. Gallen beschränkte sich hauptsächlich auf das Gebiet östlich der Aare und der Limmat. Das rechtsrheinisch gelegene Benediktinerinnenkloster Säckingen verfügte im Aargau vor allem über Besitz im Fricktal (u.a. Laufenburg).

Zu den frühesten Klostergründungen im Aargau gehören Beromünster und Muri. Ersteres, unter nicht eindeutig erkennbaren Umständen wohl noch im 10. Jahrhundert entstanden, entwickelte sich im 11. Jahrhundert als Chorherrenstift zum Hauskloster der Grafen von Lenzburg. Die Abtei Muri, um 1020/1030 als Benediktinerniederlassung gegründet, war neben Murbach und Ottmarsheim im Elsass das wichtigste Hauskloster der Habsburger. Urkundlich in den Anfängen nur schwer fassbar, kann auch das Mauritiusstift in Zofingen zu den frühen Klostergründungen gerechnet werden, obwohl seine Konstituierung als Chorherrenstift durch die Grafen von Frohburg erst um 1200 erfolgte.

Vom ausgehenden 12. Jahrhundert an breitete sich im Aargau der Zisterzienserorden aus. Als bedeutendste Niederlassung hat ausser dem luzernischen St. Urban die Rapperswiler Gründung Wettingen (1227) zu gelten; Zisterzienserinnenklöster entstanden in Olsberg und Gnadental. Ebenfalls ins 13. Jahrhundert fallen die Gründungen von Johanniterniederlassungen in Leuggern, Klingnau und Rheinfelden. Nur geringe Bedeutung erlangten die Bettelorden in den aargauischen Städten (Zofingen, Aarau). Im Zuge seines Territorialisierungsprozesses vermochte das Haus Habsburg dank der Erwerbung der Kastvogteirechte bis um 1300 die herrschaftliche Kontrolle über den meisten klösterlichen Grundbesitz im Aargau zu erlangen.

Als zentrales Mittel der landesherrlichen Politik wurde vom 12. Jahrhundert an auch im Aargau die Städtegründung eingesetzt. Die Zähringer wurden bei Rheinfelden aktiv. Bedeutendste Städtegründer des 13. Jahrhunderts waren die Grafen von Kyburg, die Frohburger und vor allem die Habsburger. Edelfreien Herren verdanken Klingnau und Kaiserstuhl ihre Entstehung.

Mittelalterliche Gründungsstädte im Kanton Aargau

StadtGründerGründungszeit
AarauKyburgerum 1240
AarburgHabsburgernach 1300
BadenKyburger1230-1240
BremgartenHabsburgerum 1230
BruggHabsburgernach 1200
KaiserstuhlRegensbergerum 1254
KlingnauUlrich von Klingen1239
LaufenburgHabsburgervor 1207
LenzburgKyburgerum 1240
MeienbergHabsburgernach 1250
MellingenKyburgerum 1230
RheinfeldenZähringer1130-1140
ZofingenFrohburgerfrühes 13. Jh.
Mittelalterliche Gründungsstädte im Kanton Aargau - Seiler, Christophe; Steigmeier, Andreas: Geschichte des Aargaus, 1991, S. 29

Stärkste Konkurrenten der Kyburger im Seilziehen um die landesherrliche Macht im Aargau waren die Grafen von Habsburg, die ihre Stellung im Laufe des 12. und 13. Jahrhunderts schrittweise zu festigen und zu erweitern verstanden. Ihre Macht stützte sich wie bei den Kyburgern auf die Gründung von Städten bzw. die Verleihung von Stadtrechten, auf den Bau von Burgen (z.B. Freudenau, Besserstein [Gemeinde Villigen]) sowie auf einen zahlreichen, durch Dienst- und Burglehen verpflichteten Ministerialadel. Durch die Beerbung der Grafen von Homberg im Fricktal (nach 1223) erlangte für sie der Bözberg, den sie kolonisierten, herrschafts- und verkehrspolitische Bedeutung. Als Mittelpunkt des Fricktaler Besitzes legten die Habsburger gegen 1240 auf säckingischem Boden unter Ausnutzung zweier schon um 1200 errichteter Burgen die Brückenstadt Laufenburg an. Eine Besitzteilung um 1240 zwischen den Brüdern Albrecht IV. und Rudolf III. führte zur Ausgliederung des Fricktals, das an die Linie Habsburg-Laufenburg gelangte, aus dem habsburgischen Hausgut.

Nach dem Erlöschen des Grafenhauses Kyburg um 1264 vermochte Graf Rudolf IV. von Habsburg, der spätere König Rudolf I., unter Ausschaltung anderweitiger Erbansprüche den Kyburger Besitz seinem Hausgut einzuverleiben. Damit bot sich den Habsburgern die Möglichkeit, den von den Lenzburgern und Kyburgern ins Auge gefassten Plan zu realisieren, im Aargau eine geschlossene Landesherrschaft aufzurichten. Gegen 1300 erwarben sie von den Frohburgern die Stadt Zofingen mit der Münzstätte sowie die Feste Aarburg; die Siedlung zu deren Füssen erhoben sie zur Stadt. 1330 brachten sie Rheinfelden in ihren Besitz. Kleinere Herrschaften unterwarfen sie ihrer Lehnsgewalt oder banden deren Inhaber durch Ämter, Lehen und Pfandschaften an sich. Mit der Errichtung von Ämtern (officia), die von Burgen und Städten aus verwaltet wurden, bauten die Habsburger ein landesherrliches Administrations- und Steuersystem auf, dessen Strukturen im sogenannten Habsburgischen Urbar von ca. 1305 sowie im Lehenrodel von 1361 (Lehenhof von Zofingen) überliefert sind. Als Mittelpunkt der habsburgischen Herrschaft im Aargau diente vom späten 13. Jahrhundert an nicht mehr die Feste Habsburg, sondern die für eine landesherrliche Hofhaltung besser geeignete Lenzburg, auf welcher im frühen 14. Jahrhundert ein grosses Saalhaus errichtet wurde. Die Grafen von Habsburg-Laufenburg residierten in der Feste zu Laufenburg.

Miniatur aus der Chronik Zirkel der Eidgenossenschaft von Andreas Ryff, 1597 (Musée historique de Mulhouse; Fotografie Christian Kempf, Colmar).
Miniatur aus der Chronik Zirkel der Eidgenossenschaft von Andreas Ryff, 1597 (Musée historique de Mulhouse; Fotografie Christian Kempf, Colmar). […]

Gegen den Territorialisierungsdruck der Habsburger leisteten verschiedene Herren aus dem edelfreien Hochadel, die um ihre Autonomie bangten, entschieden Widerstand. Dieser gipfelte 1308 im Attentat auf König Albrecht I., an dem auch Herren aus dem Aargau (Balm, Eschenbach, Tegerfelden) beteiligt waren. Der nachfolgende Blutrachekrieg gegen die Königsmörder zerschlug deren Güterkomplexe und beschleunigte letztlich den habsburgisch-österreichischen Territorialisierungsprozess.

Von der Mitte des 14. Jahrhunderts an rückte der Aargau in die territorialpolitische Interessensphäre der eidgenössischen Städte Zürich, Bern und Luzern. Während sich Berns Hauptaugenmerk auf die Gebiete der habsburgischen Nebenlinie Neu-Kyburg im Oberaargau richtete, zielten Luzerns Vorstösse auf die habsburgischen Herrschaften im südlichen Aargau, und Zürichs Interesse galt den Verbindungslinien zur Innerschweiz sowie den habsburgischen Gebieten längs der Limmat. Habsburg-Österreich, territorialpolitisch immer mehr im niederösterreichischen Raum engagiert, leistete gegen das eidgenössische Vordringen nur mässigen Widerstand und war vor allem bemüht, durch Bündnisse und Verträge offene Konflikte zu vermeiden (Vermittlungstätigkeit der in Königsfelden lebenden Königin Agnes). Im Sempacherkrieg (1385-1389) vermochten die Eidgenossen ihre Erwerbungen im südlichen Aargau zu behaupten, während das Kerngebiet des Aargaus zwischen Baden und Zofingen noch ausserhalb des eidgenössischen Expansionsraums blieb. Auf der Verbindungsachse zwischen dem Bodensee und dem Elsass gelegen, sollte das habsburgisch-laufenburgische Fricktal, 1386 erworben und 1408 als lediges Lehen kassiert, für Habsburg-Österreich längerfristig eine grössere Bedeutung behalten als der exponierte, randständige Aargau.

Der Aargau wird eidgenössisch (1415)

Die latenten Spannungen zwischen dem deutschen König Sigismund und Friedrich IV. von Habsburg, Herzog von Österreich, eskalierten am Konzil von Konstanz 1415, nachdem Friedrich dem Papst Johannes XXIII. zur Flucht verholfen und selbst die Stadt verlassen hatte. König Sigismund setzte den Herzog in die Acht und forderte alle Nachbarn auf, dessen Besitzungen im Namen des Reichs zu besetzen. Den Eidgenossen sollte dabei die Aufgabe zufallen, den Aargau (zu dem damals das Fricktal nicht gehörte) einzunehmen. Die Aufforderung stiess nur bei Bern auf Zustimmung, das bereits 1414 dem König seine Unterstützung gegen Friedrich zugesagt hatte. Die übrigen Orte verhielten sich eher ablehnend. Offiziell war der Fünfzigjährige Frieden von 1412 mit Österreich der Hinderungsgrund. Wichtiger war jedoch die Besorgnis der Länderorte über eine einseitige Expansion der Stadtorte Bern, Luzern und Zürich, die von einer Eroberung habsburgischen Besitzes zweifellos profitieren würden. Die innereidgenössischen Verhandlungen an der Tagsatzung von Beckenried, Anfang April 1415, sind nicht dokumentiert, dürften sich aber vor allem um die Rechte an den zu erobernden Gebieten gedreht haben.

Nach dem Urteil des Reichsfürstengerichts, das den Reichskrieg über den Friedensvertrag stellte, und nach der Zusicherung zahlreicher königlicher Privilegien schritten die Eidgenossen (ohne Uri) im April 1415 zur Eroberung. Bern handelte zielstrebig und rasch. Seine Truppen nahmen innert zweier Wochen die Städte Aarburg, Aarau, Zofingen, Lenzburg und Brugg sowie zahlreiche Burgen habsburgischer Dienstleute im Aaretal und in den Seitentälern ein. Ein Teil der Berner Truppen operierte am Schluss des Feldzugs mit den übrigen Eidgenossen vor Baden. Die restlichen sechs Orte gingen unter der Führung Zürichs und Luzerns mangelhaft vorbereitet vor. Es fehlte eine gemeinsame, auf einer Tagsatzung festgelegte Strategie. Die Luzerner eroberten die Stadt Sursee und die Ämter Meienberg und Richensee und vereinigten sich bei Mellingen mit den Zürchern, die bereits Dietikon und das Amt Affoltern besetzt hatten. Nach der Kapitulation Mellingens zogen Luzerner und Zürcher vor Bremgarten und vereinigten sich hier mit den Truppen aus Unterwalden, Glarus, Zug und Schwyz. Durch einen Waffenstillstandsvertrag gingen Bremgarten und der Rest des Freiamts an die Eidgenossen über; die Gegend um Villmergen hatte sich bereits zuvor den Luzernern angeschlossen. Auf grossen Widerstand stiessen die Eidgenossen vor Baden. Die Stadt ergab sich schliesslich am 3. Mai, die Festung Stein am 18. Mai, nach der Beschiessung durch Berner Geschütze. Damit ging die Vogtei Baden ebenfalls an die Eidgenossen über. Das habsburgische Archiv wurde nach Luzern gebracht und der Stein entgegen den königlichen Weisungen zerstört. Damit war der Feldzug innert Monatsfrist abgeschlossen. Mit dem käuflichen Erwerb der Pfandschaft über die Vogtei Baden und die Städte Baden, Mellingen, Bremgarten und Sursee durch Zürich am 22. Juli 1415 wurde der Reichsanspruch formal gewahrt. Am 18. Dezember 1415 nahm Zürich die fünf Orte Luzern, Schwyz, Unterwalden, Zug und Glarus in diese Pfandschaft sowie Bern in die Pfandschaft Badens auf. Bern erhielt am 1. Mai 1418 die Pfandschaft und die Rechtsnachfolge Österreichs für die Städte Zofingen, Aarau, Lenzburg und Brugg. Auf dieser Grundlage blieb die Herrschaft der Eidgenossen über den ehemaligen habsburgischen Aargau gegenüber allen Rückforderungsbestrebungen Österreichs erhalten.

Regieren und Verwalten (1415-1798)

Der Aargau im Ancien Régime
Der Aargau im Ancien Régime […]

Bis 1425 teilten die Eidgenossen das eroberte Gebiet wie folgt auf: Bern behielt die Hoheitsrechte über den Unteraargau (dazu 1460 und 1463 Übernahme der Herrschaften Schenkenberg und Wessenberg, 1499 Besetzung der Herrschaft Biberstein, Kauf des Niedergerichts Urgiz und der Niedergerichte in Bözen, Effingen und Elfingen), Zürich über das Freiamt Affoltern, Luzern über das Michelsamt (1425 Rückgabe der Ämter Richensee, Meienberg sowie Villmergens an die Freien Ämter). Die übrigen eroberten Territorien bildeten die gemeinen Herrschaften Grafschaft Baden und Freie Ämter. Verwaltet wurden die Grafschaft Baden bis 1443 (Eintritt Uris) von sieben Orten, die Freien Ämter bis 1532 (Eintritt Uris) von sechs Orten (ohne Bern und Uri). Nach dem Zweiten Villmergerkrieg erfolgte 1712 die Trennung in die Oberen und Unteren Freien Ämter. Die Unteren Freien Ämter und die Grafschaft Baden unterstanden nun den reformierten Orten Bern und Zürich sowie dem im Krieg neutral gebliebenen, paritätischen Glarus. In die Verwaltung der Oberen Freien Ämter nahm zusätzlich Bern Einsitz. Das Fricktal blieb bei Vorderösterreich.

Entwicklung der Verwaltung

Die Eidgenossen versuchten, die im Kern durch die hohe Gerichtsbarkeit und die damit verbundenen Vogteirechte gebildete Landesherrschaft der Habsburger zu einer staatlichen Verwaltung auszubauen, was allerdings nur im Berner Aargau annähernd gelang. Hier zog Bern zahlreiche Twingherrschaften durch Kauf oder Übernahme an sich. Nach der Reformation (1528) und dem Übergang aller kirchlichen Institutionen an den Staat setzte der Wandel von der landesherrlichen zu einer frühstaatlichen Verwaltung mit Mandaten sowie mit der Förderung einer einheitlichen Gesetzgebung und Rechtssprechung ein. In den gemeinen Herrschaften dagegen beschränkten sich die regierenden Orte darauf, die landesherrlichen Rechte – vor allem die Blutgerichtsbarkeit, aber auch die Mannschaftsrechte und polizeilichen Befugnisse – in ihre Hände zu bekommen. Im Norden der Grafschaft Baden geschah dies in Konkurrenz zum Bischof von Konstanz, der schliesslich seiner Rechte verlustig ging. Alte Twingherrschaften (v.a. der Klöster St. Blasien, Wettingen und Muri) blieben in den gemeinen Herrschaften bestehen. Die Städte Baden, Mellingen und Bremgarten behielten die hohe Gerichtsbarkeit. Auch im Fricktal blieben Twingherren, wie das Stift Säckingen, in ihren Rechten. Österreich kontrollierte hier ebenfalls die hohe Gerichtsbarkeit, das Militärwesen und die Polizei, verfügte aber zusätzlich über ein Steuersystem. Die Waldstädte Rheinfelden, Laufenburg, Waldshut und Säckingen behielten ihre speziellen Rechte.

Organisation der Verwaltung

Alle Untertanengebiete wurden von Landvögten als obersten landesherrlichen Beamten verwaltet. Die Landvögte stammten aus der Aristokratie der regierenden Orte bzw. im Fricktal aus dem österreichischen Adel. Im Berner Aargau regierten im 18. Jahrhundert sieben Landvögte ebenso viele Ämter vor Ort, jeweils unterstützt von einem kleinen Beamtenstab. Für die Grafschaft Baden bzw. (bis 1712) für die Freien Ämter war jeweils nur ein Landvogt zuständig. In den gemeinen Herrschaften wurde dieser für eine zweijährige Amtsdauer im Turnus von den beteiligten eidgenössischen Orten eingesetzt. Vogteisitz der Grafschaft Baden war die gleichnamige Stadt. In den Freien Ämtern war der Landvogt nicht residierend; die Verwaltung besorgte ab 1562 faktisch der ihm direkt unterstellte Landschreiber in Bremgarten. Der österreichische Landvogt für das Fricktal hatte seinen Sitz bis 1651 im elsässischen Ensisheim, danach in Freiburg im Breisgau. Die Verwaltungsarbeit wurde von den zwei Kameralämtern Laufenburg und Rheinfelden unter der Leitung eines Oberamtmanns geleistet. Mitte des 18. Jahrhunderts führte die gesamtösterreichische Verwaltungsreform zu einer Intensivierung der Verwaltung, die auch die Landstände (Körperschaften mit alten Rechten) zunehmend an den Rand drängte.

Die Rolle der Gemeinden

Dorfgemeinden, Kirchgemeinden und Gerichte waren wichtige Glieder der bernischen Verwaltung. Der Dorf-Untervogt bildete die Scharnierstelle zwischen Landvogtei und Gemeinden. Die Munizipalstädte Aarau, Lenzburg, Brugg und Zofingen unterstanden Bern direkt. Weniger integriert waren die Gemeinden in den gemeinen Herrschaften und im Fricktal. In der Grafschaft Baden bildeten die Eidgenossen elf Ämter, denen je ein Untervogt vorstand. Die Gemeinden behielten ihre Rechtsstrukturen mit Grundherren und Niedergerichten. In den Freien Ämtern bestanden 13 Ämter, denen ebenfalls je ein Amtsuntervogt vorstand. Die kommunalen Gerichtsrechte gingen im 16. und 17. Jahrhundert fast völlig an die herrschaftlichen Amtsgerichte über, Twingherren blieben aber in ihren Rechten. Im Fricktal kam dem Obervogt die Mittlerstelle zwischen Gemeinden und Obrigkeit zu. Sein Zuständigkeitsbereich, die Obervogtei, umfasste mehrere Dörfer. In allen Aargauer Gemeinden basierte die Organisation prinzipiell auf den Beschlüssen der Versammlung der Dorfgenossen, teilweise unter Vorbehalt der Genehmigung durch den Landes- oder Twingherrn. Gemeindeämter wurden immer mehr innerhalb der dörflichen Oberschicht vergeben. Hintersassen wurden zunehmend ausgeschlossen und der Zuzug durch hohe Einzugsgebühren eingeschränkt.

Kirche und Staat

Durch die Reformation wurde im Berner Aargau die Kirche Teil der bernischen Staatsverwaltung. Die kommunalen Chorgerichte (Sittengerichte) kontrollierten die Einhaltung der obrigkeitlichen Sittenmandate. In den gemeinen Herrschaften kam der Konfession insofern grosse politische Bedeutung zu, als die Kirchgemeinden im Wechsel unter dem Einfluss von Landvögten reformierter bzw. katholischer Orte standen. Entsprechend kämpften die amtierenden Landvögte um Einfluss in kirchlichen Fragen. Nach 1712 löste sich die Spannung infolge der konfessionellen Gleichberechtigung etwas. Die Freien Ämter teilten sich in die katholisch beherrschten Oberen Freien Ämter und die von den reformierten Orten kontrollierten Unteren Freien Ämter. Die Grafschaft Baden war konfessionell gemischt, bei deutlichem Überhang der katholischen Gemeinden. Im Fricktal wurde im 18. Jahrhundert die katholische Kirche durch die aufklärerische österreichische Kirchenreform zur Staatskirche (Josephinismus).

Wehrwesen

Streng organisiert war das Wehrwesen einzig im Berner Aargau. Die Gemeinden trugen bis ins 18. Jahrhundert die Kosten einer regelmässigen Kriegsausbildung und Bewaffnung ihrer Bürger. In den gemeinen Herrschaften wurden die Wehrordnungen kaum durchgesetzt. Die österreichischen Untertanen im Fricktal waren in der Landmiliz organisiert, die jedoch nach dem Spanischen Erbfolgekrieg weitgehend zerfiel.

Innere Konflikte und Vorboten der Wende

Die Freien Ämter und der Berner Aargau waren 1653 in den Bauernkrieg involviert. Die restriktive Politik von Bern wie Luzern in der wirtschaftlichen Krise nach dem Dreissigjährigen Krieg brachten das labile Gleichgewicht zwischen obrigkeitlicher Repression und lokaler Autonomie zum Kippen. Die Fragilität dieses Gleichgewichts zeigen auch Auseinandersetzungen von Gemeinden mit Twingherren (etwa in Schöftland 1669) oder mit der Obrigkeit (z.B. wegen der neuen Berner Landsteuer 1641 oder einer neuen Weinsteuer im Fricktal 1612-1614). Im 18. Jahrhundert wurden die Ideen der Aufklärung von der Bevölkerung dennoch wenig rezipiert. Man war misstrauisch und lehnte, vor allem in den katholischen Gebieten, revolutionäre Ideen wegen ihrer antireligiösen Komponente ab. Am ehesten fanden sie Anhänger in der kleinstädtischen Mittelschicht Aaraus, die sich von einer Liberalisierung auch wirtschaftliche Vorteile versprach.

Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur vom Hochmittelalter bis ins 18. Jahrhundert

Bevölkerung und Siedlung

Die Siedlungs- und die demografische Entwicklung entsprechen im Aargau weitgehend dem bekannten Prozess im Schweizer Mittelland. Erwähnenswert ist die grosse Dichte an mittelalterlichen Gründungsstädten entlang der zahlreichen Flüsse und Transitachsen.

Im Hochmittelalter, insbesondere im 11. und 12. Jahrhundert, stieg die genutzte Fläche wegen der Bevölkerungszunahme an. Der Vorgang äusserte sich zum einen in einer Verdichtung der bisher vorherrschenden Hofsiedlungen zu Dörfern unter intensiverer Nutzung des siedlungsnahen Kulturlands (Binnenkolonisation), zum andern in der Anlage von Neusiedlungen auf gerodetem Land. In dieser Zeit dürften auch die zahlreichen Adelssitze, vor allem von Dienstleuten, erbaut worden sein. Im Zusammenhang mit hochadliger Wirtschafts- und Territorialpolitik ist die grosse Zahl von Städtegründungen zu sehen. Bestand um 1100 im Aargau noch keine Stadt, so waren es am Ende der Gründungswelle um die Mitte des 14. Jahrhunderts deren dreizehn. Wegen der hohen Städtedichte und fehlender wirtschaftlicher Ressourcen kam keine von ihnen über die Grösse einer Kleinstadt hinaus. Aarau zählte im 15. Jahrhundert als einzige Stadt im Aargau mehr als 1000 Einwohner, und in den Kleinststädten Aarburg, Kaiserstuhl und Meienberg wohnten lediglich rund 200 Personen.

Von der Mitte des 14. Jahrhunderts an verringerte sich die Bevölkerungszahl. Gründe hierfür waren mehrere Pestzüge (der erste und schwerste 1348) sowie kriegerische Auseinandersetzungen (Sempacherkrieg, Alter Zürichkrieg), die auch in Teilen des Aargaus die wirtschaftliche Entwicklung hemmten, und allenfalls auch klimatische Gründe. Der Rückgang der Bevölkerung hinterliess Spuren in der Kulturlandschaft und im Siedlungsbild: Rodungsland wurde nicht mehr oder nur noch extensiv genutzt, Ausbauhöfe verschwanden. Auch eine Abwanderung der Landbevölkerung in die nahen Städte ist zu vermuten, jedoch kaum direkt nachweisbar. Unter der Dezimierung der ländlichen Bevölkerung litten auch die Adelsherrschaften, die ihrer Einnahmen verlustig gingen. Der niedere Adel zog in die Städte oder sank zu einer bäuerlichen Existenz ab. Erst nach dem Ende des Alten Zürichkriegs verbesserte sich die Situation allmählich, verstärkt durch die Friedensperiode ab 1532.

Am Ende des 16. Jahrhunderts nutzte die wieder gewachsene Bevölkerung den Kulturraum in seiner hochmittelalterlichen Ausdehnung wieder voll aus. Allerdings blieben zahlreiche Wüstungsfluren nur noch extensiv genutzt, und ihre Höfe wurden nicht mehr bewohnt. Für den Aargau um 1500 rechnet man mit einer Bevölkerungszahl von 22'000-26'000 Personen. Diese Zahl stieg bis 1770 auf über 100'000, bis 1803 schliesslich auf 131'000. Das Bevölkerungswachstum war von Rückschlägen begleitet. Vor allem die Pest schlug immer wieder Lücken. Auch schlechte Erntejahre und Hungersnöte dezimierten die Bevölkerung, die sich nach solchen Krisenzeiten jedoch rasch wieder erholte. Gründe für die im 18. Jahrhundert verstärkte Bevölkerungszunahme sind neben dem Ausbleiben der Pestwellen, verbesserten landwirtschaftlichen Anbaumethoden und breiteren medizinischen Kenntnissen vor allem die Verdienstmöglichkeiten in der Heimindustrie, die im 18. Jahrhundert besonders im Berner Aargau und in den Freien Ämtern Fuss fasste. Die Bezirke Kulm, Lenzburg, Aarau, Zofingen und Bremgarten wiesen um 1800 im gesamtschweizerischen Vergleich denn auch eine relativ hohe Bevölkerungsdichte (zwischen 91 und 146 Einwohner/km²) auf.

Bevölkerungszahlen einiger Gemeinden des Kantons Aargaua

 14. Jh.15. Jh.16. Jh.17. Jh.18. Jh.
 EinwohnerStichjahrEinwohnerStichjahrEinwohnerStichjahrEinwohnerStichjahrEinwohnerStichjahr
Aarau1 200um 14001 05014991 100-1 2001558  1 8681764
Baden    1 500um 15501 800um 17001 6531780
Birmenstorf1501363125um 1490  2501658500-5201775
Bremgarten  8401464900-1 000um 1500    
Hornussen  1151463/64  33016535521790
Klingnau    500-6001480-1538700-8001586-1754  
Lenzburg200-250um 13003001441470-500155860016001 1431764
Reinach  ca. 200ganzes Jh.ca. 365155877516951 7301798
Rheinfelden    ca. 1 200um 1550900-12001611-16501 2261788
Seengen3001346  ca. 330155938016537521764
Wohlen>3301310/15>210um 1440ca. 2801563/6571716701 3971798/99
Würenlos  1101478  47616567001794

a Bis ins 17. Jh. basieren alle Schätzungen der Einwohnerzahlen auf Hofstättenzählungen. Ausser bei Birmenstorf bilden ab dem 18. Jh. Bevölkerungszählungen die Erhebungsgrundlage.

Bevölkerungszahlen einiger Gemeinden des Kantons Aargau -  Autor

Wirtschaft

Mittelalter 1100-1500

Die Organisation der hochmittelalterlichen Landwirtschaft war zunächst geprägt durch grundherrliche Villikationen. Die Herrenhöfe (Fronhof) waren Verwaltungs- und Wirtschaftszentren. Ihre Flurblöcke befanden sich wohl mit denjenigen der angegliederten Höfe in Gemengelage. Über frühe Bebauungssysteme fehlen allerdings gesicherte Nachrichten. Auch bäuerliche Eigengüter sind zum Beispiel im Surbtal und in Seengen nachgewiesen. Bedeutend war der im Zusammenhang mit dem Bevölkerungswachstum stehende und wohl von grundherrlicher Seite vorangetriebene Landesausbau, der zu einer Ausdehnung vor allem der Getreidebauflächen führte. Im Zuge der Verdichtung von Gehöftgruppen zu Dörfern wurden bereits bestehende Nutzungs- und Rotationssysteme (insbesondere Dreifelderwirtschaft) zusammengefasst und durch ein einheitliches Zelgensystem überlagert. Parallel dazu wurde die Bedeutung der Herrenhöfe durch die Aufgabe der Frondienste und die Ausgabe zu Lehen vermindert, dies zugunsten verstärkter Kompetenzen der neuen Dorfgenossenschaften. Hauptsächlich Viehwirtschaft betrieben darauf spezialisierte grundherrliche Sennhöfe, zum Beispiel in der Region Muri (bis Ende 12. Jh., danach versorgte sich das Kloster Muri bis ins 15. Jh. von Innerschweizer Viehhöfen) oder an der Nordflanke der Lägern. Daneben existierte auf Lehenhöfen die herrschaftliche Viehverstellung, eine Form der Viehpacht. Der spätmittelalterliche Bevölkerungsrückgang bewirkte auch eine Verminderung der landwirtschaftlichen Produktion, der indes auch eine gesunkene Nachfrage gegenüberstand. Eine zunehmende Bedeutung erlangte vom 14. Jahrhundert an der durch die Klöster geförderte Rebbau, zum Beispiel im unteren Aaretal (Döttingen, Klingnau) und im Limmattal (Wettingen). Entlang der zahlreichen Flüsse bildeten Fischfang, Fährdienst und Schifffahrt eine wichtige, am Rhein (Rheingenossenschaft zwischen Hüningen und Säckingen) gemeindeübergreifend und genossenschaftlich organisierte Erwerbsquelle.

An der Zurzacher Messe. Miniatur aus der Chronik Zirkel der Eidgenossenschaft von Andreas Ryff, 1597 (Musée historique de Mulhouse; Fotografie Christian Kempf, Colmar).
An der Zurzacher Messe. Miniatur aus der Chronik Zirkel der Eidgenossenschaft von Andreas Ryff, 1597 (Musée historique de Mulhouse; Fotografie Christian Kempf, Colmar). […]

Auch in den neu gegründeten Kleinstädten blieb die Landwirtschaft wichtiges Element des Wirtschaftslebens. Aufgrund der hohen Städtedichte gewann das Gewerbe kaum je Exportbedeutung. Ausnahmen sind die Glockengiesserei in Aarau und vor allem die Eisenproduktion in Laufenburg, das seine Produkte bis nach Basel, Schaffhausen und Zürich exportierte. Der Rohstoff stammte aus den Erzgruben von Wölflinswil, später auch aus Oeschgen, Eiken, Zeihen und Hornussen, den Gemeinden rund um den Fricktaler Erzberg. Diese Region bildete ein eigentliches Erzviertel. Nur regionale Bedeutung erlangten die aargauischen Märkte, mit Ausnahme der Messen von Zurzach. Der Marktflecken Zurzach entwickelte sich im 14. Jahrhundert zum bedeutenden periodischen Handelszentrum. Zünfte (ohne politischen Einfluss) existierten nur in Rheinfelden und Zofingen. In allen anderen Städten bildeten sich lediglich gewerblich-religiöse Bruderschaften.

Gerechnet und bezahlt wurde nach 1415 im Fricktal in süddeutschen und österreichischen, in der Grafschaft Baden in Zürcher, in den Freien Ämtern in Luzerner oder Zürcher und im Berner Aargau in Berner Währung, wobei das Pfund die grundlegende Rechnungswährung, Haller, Angster, Batzen und Gulden die meist verbreiteten Münzprägungen darstellten. Einzig die Städte Laufenburg und Zofingen erlangten von den Habsburgern 1363 bzw. 1366 das Münzrecht. Während die Laufenburger Prägung bald eingestellt wurde, war die Zofinger Währung im 14. Jahrhundert anerkanntes Zahlungsmittel, verlor aber nach dem Sempacherkrieg an Bedeutung. Weitere Prägeversuche der beiden Städte im 16. bzw. 18. Jahrhundert scheiterten. Hohlmasse und Gewichte richteten sich nach dem jeweiligen städtischen Markt, ebenso unterschieden sich die Flächenmasse regional. Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Stadt und Umland bestanden im alltäglichen Marktzugang ländlicher Anbieter, in der Zuwanderung von Angehörigen ländlicher Oberschichten (z.B. aus gewerbetreibenden Kreisen wie Wirten oder Metzgern) und in der Investitionstätigkeit städtischer Bürger oder Institutionen in die stadtnahe Landwirtschaft.

Frühe Neuzeit 1500-1800

Die landwirtschaftliche Entwicklung im 16. Jahrhundert war geprägt durch die erneute Vergrösserung der Anbauflächen im Zuge des Bevölkerungswachstums. Daneben fanden aber auch qualitative Innovationen statt, zum Beispiel eine intensivere Nutzung der Brache und der Sommerzelg durch die (Zweit-)Aussaat von Leguminosen und eine verstärkte grossbäuerliche Viehwirtschaft. Der Flurzwang verhinderte jedoch einen Ausbau des Mattlandes zu Lasten der Ackerflur, weshalb die Vorherrschaft der Grossbauern auf der Allmende und schliesslich deren Aufteilung angestrebt wurde. Dies führte zu Konflikten mit der stark gewachsenen Taunerschicht, die für ihr Kleinvieh auf die Gemeinweide angewiesen war. Die Kartoffel, angebaut auf der Brache, führte im 18. Jahrhundert zu einer verbesserten Ernährung.

Strasse von Aarau nach Wildegg. Aquarell von Johann Jakob Aschmann, um 1800 (Staatsarchiv Aargau, Aarau, Grafische Sammlung, GS/00611-3).
Strasse von Aarau nach Wildegg. Aquarell von Johann Jakob Aschmann, um 1800 (Staatsarchiv Aargau, Aarau, Grafische Sammlung, GS/00611-3). […]

Im 17. und 18. Jahrhundert nahm die Bedeutung der fremden Dienste zu. So wurde im 18. Jahrhundert ein Drittel bis ein Viertel des jährlichen Bevölkerungszuwachses zeitweise ins Ausland abgezogen. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts gewann die Aargauer Wolltuch- und Leinwandproduktion durch die Ausrichtung auf den Export an Gewicht. Die Zurzacher Messen erlangten mit dem Aufschwung des Schweizer Textilexports nach 1550 ihre grösste Ausstrahlung, überschritten aber im 17. und 18. Jahrhundert ihren Zenit. Ab 1720 verbreitete sich die Produktion von Baumwolltuch vom Berner Aargau aus im ganzen Aargau. In der Region Aarau-Lenzburg (um 1800 zusammen mit Zofingen das Zentrum der industriellen Tätigkeit) leisteten hugenottische Familien, zum Beispiel die Brutel, Laué oder Herosé, wichtige Beiträge zur Einrichtung von Indiennedruckereien. In den Freien Ämtern nahm die Bedeutung der Strohflechterei im 18. Jahrhundert langsam zu. Durch die Ansiedlung der Textilindustrie und der zugehörigen Handelsbetriebe veränderte sich die kleinstädtische Wirtschaft im Berner Aargau nachhaltig. Die übrigen aargauischen Kleinstädte verharrten im Wesentlichen in ihrer Rolle als regionale Markt- und Handwerkszentren.

Ein leistungsfähiges Strassennetz, das auf die neuen, grossen Fuhrwerke ausgerichtet war, wurde vor allem im Berner Aargau planmässig angelegt. In den übrigen Gebieten beschränkte sich der Ausbau zunächst auf einzelne Teilstrecken. Schnellste Verkehrswege blieben bis um 1800 die schiffbaren Flüsse Aare, Limmat, Reuss und Rhein.

Gesellschaft

11.-13. Jahrhundert

Die feudale Gesellschaftsordnung und das grundherrliche System machten den Adel bzw. Exponenten der kirchlichen Institutionen zu den führenden sozialen Gruppen, die aber an ihren Rändern nach oben und unten offen blieben. Die dominierenden Adelsgeschlechter ― die Lenzburger, später die Kyburger und schliesslich die Habsburger ― bildeten Gefolgschaften von weiteren Hochfreien und Ministerialen. Im Zusammenhang mit machtpolitischen Verdrängungsprozessen, aber auch infolge wirtschaftlich-sozialer Anreize stiegen Hochfreie in den Ministerialadel ab (z.B. Herren von Hallwyl, von Reinach, von Trostberg). Kirchliche Ämter boten ebenso wichtige Aufstiegschancen und wurden innerhalb des Adels vergeben.

In bäuerlichen Gruppen vollzog sich ein ähnlicher Prozess. Freie Bauern traten in die Abhängigkeit adliger oder kirchlicher Grundherren. Zusammen mit den wohlhabenderen Bauern unter den Eigenleuten bildeten sie eine Elite, die grund- oder landesherrliche Ämter innehatte, in den Dienstadel aufsteigen konnte oder sich in den neu gegründeten Städten niederliess. Der Stand und die grundherrliche Beamtung bestimmten den Rang und das Prestige, die grundherrliche Zugehörigkeit die soziale Gruppe.

14.-16. Jahrhundert

Vom Ende des 13. Jahrhunderts an durchmischten sich die Stände zusehends. Abbild davon sind die Zeugenlisten, zum Beispiel in den Urkunden des Surbtals, in denen sich die zuvor feinen rangmässigen Differenzierungen innerhalb des Adels verwischten und zudem neu auch Leute bäuerlicher Herkunft auftauchten. Auch die Bezugsgrössen verschoben sich. Die Bedeutung des vertikal strukturierten feudalen Personenverbands verringerte sich zugunsten horizontaler, nachbarschaftlicher bzw. genossenschaftlicher Organisationsformen. Diese regelten als Dorfgemeinden vor allem das wirtschaftliche Leben, als Kirchgemeinden zum Beispiel den Unterhalt der Kirchen. In den gemeinen Herrschaften gelang es Gemeinden, sich aus der adlig-städtischen Twingherrschaft auszukaufen (z.B. Freienwil und Stetten), während im Berner Aargau im 16.-17. Jahrhundert allmählich ein einheitlicher Untertanenstatus geschaffen wurde.

Nach wie vor blieben grund- und landesherrliche Ämter wichtige Grundlagen für Prestige und Einkommen und begünstigten auch die Wahl in gemeindliche und genossenschaftliche Ämter. Die zunehmende Marktintegration und die Geldwirtschaft liessen jedoch vom ausgehenden 15. Jahrhundert an neue Gruppen entstehen: eine Oberschicht von Grossbauern, Müllern, Wirten und Schmieden mit allen Rechten der Dorfgenossenschaft, daneben die wachsende und rechtlich zum Teil benachteiligte ländliche Unterschicht der Kleinbauern, Tauner und Dienstboten. Noch bildeten die Vollbauern innerhalb der Dorfgemeinden zahlenmässig zumeist die Mehrheit (z.B. in Wohlen mit 20 von 36 Hofstellen). Innerhalb der Untertanenschaft verwischten sich die Standesunterschiede: Die Leibeigenschaft verlor im 15./16. Jahrhundert ihre Relevanz und wurde faktisch zur blossen Steuerpflicht. Der Aufstieg der Städte und die stärkere Verbindung zwischen Stadt und Land zeigen sich in zahlreichen Einbürgerungen von Angehörigen einer ländlichen Oberschicht. Der um 1415 noch präsente Adel (v.a. habsburgische Dienstleute) arrangierte sich nach der Eroberung mit den Eidgenossen oder wanderte ab: Den von Mülinen und von Luternau gelang der Zugang zum bernischen Regiment. Die Heidegger etablierten sich in Solothurn, die Seengen in Zürich, die Büttiker in Basel. Auch Ratsgeschlechter der aargauischen Kleinstädte zogen weg, so die Segesser aus Mellingen nach Luzern, die Effinger von Brugg und die Zehnder von Aarau nach Bern.

17. und 18. Jahrhundert

Prägendes Merkmal dieses Zeitraums war die Aristokratisierung der führenden Gruppen in den Städten und Landgemeinden. Durch die Einführung bzw. Erhöhung der Einzugsgelder wurde der Zuzug neuer Dorf- und Stadtbewohner auf ein Minimum beschränkt. Zuzüger blieben zudem meist Hintersassen ohne oder mit eingeschränktem Anteil ("Gerechtigkeiten") an der Allmend. Viele konnten sich nirgends niederlassen und zogen als Gelegenheitsarbeiter umher. Innerhalb der Dorfgenossame stieg im Zuge der Bevölkerungsvermehrung und durch Erbteilungen der Anteil der Kleinbauern und landlosen Tauner (in der Grafschaft Lenzburg um 1660 auf über 60%). Entsprechend vergrösserte sich die Zahl der Armen, die durch die Gemeinden unterstützt werden mussten. Im Freiamt war am Ende des 18. Jahrhunderts in einzelnen Gemeinden bis zu einem Viertel der Bevölkerung unterstützungsbedürftig.

Jüdischer Friedhof zwischen Lengnau und Endingen. Stich von Johann Balthasar Bullinger nach Johann Rudolf Holzhalb, aus Johann Caspar Ulrichs Sammlung jüdischer Geschichten, Basel, 1768 (Schweizerische Nationalbibliothek).
Jüdischer Friedhof zwischen Lengnau und Endingen. Stich von Johann Balthasar Bullinger nach Johann Rudolf Holzhalb, aus Johann Caspar Ulrichs Sammlung jüdischer Geschichten, Basel, 1768 (Schweizerische Nationalbibliothek). […]

1622 erwähnen die Eidgenössischen Abschiede erstmals Juden in der Grafschaft Baden. 1776 wurden ihnen durch die Tagsatzung Lengnau und Endingen als einzige erlaubte Wohnorte in der Eidgenossenschaft zugewiesen. Bis 1809 war den Juden Haus- und Bodenbesitz verboten. Sie galten als Hintersassen und lebten in eigenen Gemeinschaften. In Aarau, aber auch in Lenzburg, Zofingen und Brugg hielten sich im 17. Jahrhundert auch Hugenotten auf. In Aarau zählte die Hugenotten-Gemeinde zeitweise weit über 200 Personen. Von der bernischen Obrigkeit verfolgt und ausgewiesen wurden hingegen die Täufer. Generell führte die Konfessionszugehörigkeit zur Gruppenbildung, vor allem in den gemischtkonfessionellen Gemeinden.

Kirchliches und religiöses Leben, Kultur und Bildung

Bedeutendste Träger der religiösen Kultur waren im Hoch- und Spätmittelalter die Klöster. Bis zur Reformation prägten 24 Klöster und Stifte verschiedener Orden das kulturelle Leben durch Bildung und Seelsorge. Die meisten Klöster wurden zwischen dem 11. und 14. Jahrhundert gegründet, danach folgten vor allem noch die Kapuzinerkonvente der katholischen Reform. Daneben entstanden im Spätmittelalter zahlreiche Eremitenklausen und Beginenhäuser, von denen allerdings die wenigsten die Reformationszeit überdauerten. Jahrzeitstiftungen, die im 15. Jahrhundert zunehmend auch von Angehörigen einer grossbäuerlichen Schicht gemacht wurden, zeugen von der Sorge um das persönliche Seelenheil. Die zahlreichen Bruderschaften und die Wallfahrten sind ebenso Zeugnisse der Volksfrömmigkeit. Überregionale Bedeutung hatten die Wallfahrtsorte Zurzach (Verenakult) und ab dem 17. Jahrhundert Muri (Leontius).

Während die Reformation im Berner Aargau auf obrigkeitliches Geheiss hin vollzogen wurde, setzten sich die Gläubigen in den gemeinen Herrschaften intensiv mit der Frage des Konfessionswechsels auseinander. Eine wichtige Rolle scheint dabei neben wirtschaftlichen Argumenten die Sicherung der Seelsorge gespielt zu haben. Zweifelsohne begünstigte die Reformation die Kommunalisierung der Kirche. Sie förderte indirekt auch die katholische Reform, die vor allem in den Freien Ämtern im 17. und 18. Jahrhundert zu einer starken Belebung des religiösen Lebens führte. Zum Ausdruck kam dies im barocken Kirchen- und Klosterbau (Muri, Wettingen, Olsberg, Fahr) sowie zum Beispiel in den glanzvollen religiösen Festen im Kloster Muri. Die Frömmigkeit des Barocks zeigte sich auch in neu belebten Wallfahrten und neuen Bruderschaften, gerade auch im ländlichen Bereich.

In den meisten Städten existierten festliche Bräuche, so anlässlich der Neubesetzung städtischer Ämter oder im Zusammenhang mit dem Schulbetrieb. Ein Blick in die Abrechnungen des Aarauer Jugendfestes 1551 zeigt grosse Üppigkeit und das Bestreben nach repräsentativem Auftreten. Auf dem Land waren Zins- und Zehnttage, aber auch Sitzungen gemeindlicher Gremien oft ebenfalls mit gemeinsamem Essen und Trinken verbunden. Im reformierten Berner Aargau griff die Obrigkeit mittels Mandaten immer stärker in das tägliche Leben ein, was vor allem im 17. Jahrhundert, zur Zeit der protestantischen Orthodoxie, zu einer rigorosen Kontrolle des Alltags- wie auch des kulturellen Lebens führte. Gefordert war ein gottgefälliger Lebenswandel nach den Weisungen der Obrigkeit, überwacht durch die örtlichen Chorgerichte.

Bildungsvermittlung geschah zunächst vor allem durch Klosterschulen und städtische Lateinschulen, die oft ebenfalls von kirchlichen Institutionen getragen wurden. Ziel der Ausbildung war die Vorbereitung auf eine kirchliche Laufbahn mit universitärer Bildung. Im Laufe des 16. Jahrhunderts wurden die ersten deutschen Schulen in den Städten und auch in den grösseren Landgemeinden eingerichtet. Das einzige Gymnasium auf Aargauer Boden wurde vom Kloster Muri unterhalten. Im Fricktal vollzog sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine grundlegende Reform des kulturellen Lebens im Zeichen des aufgeklärten Absolutismus. Die österreichische Regentin Maria Theresia und ihr Sohn, Kaiser Joseph II., setzten zahlreiche Neuerungen durch, die im religiösen Bereich eine Straffung der Zahl der kirchlichen Feste und im Rahmen der Verwaltungsreform ein verbessertes und vereinheitlichtes Schulsystem brachten (Josephinismus). Im Berner Aargau verbreitete sich das Gedankengut der Aufklärung durch aufgeschlossene Landvögte, durch einen Ableger der bernischen Ökonomischen Gesellschaft und vor allem durch die 1761 gegründete Helvetische Gesellschaft, die alljährlich in Bad-Schinznach, später in Aarau tagte. Ab 1780 traten immer mehr Aargauer dieser Gesellschaft bei. Die Ideen der Aufklärung wurden vor allem in der Aarauer Bürgerschaft rezipiert, in deren Stadt 1776 auch die erste öffentliche Bibliothek im Aargau gegründet wurde.

Der Staat im 19. und 20. Jahrhundert

Politische Geschichte und Verfassungsentwicklung

Der helvetische Kanton Aargau 1798-1803

Im bernischen Unteraargau begann sich offener Widerstand gegen die Regierung erst Anfang 1798 zu regen. Am 30. Januar wurde in Aarau – wenige Tage nach der Beschwörung der alten Bünde durch die eidgenössische Tagsatzung – das Stadtregiment durch einen Sicherheitsausschuss ersetzt, am 31. Januar einem bernischen Truppenaufgebot keine Folge geleistet und am 1. Februar ein Freiheitsbaum aufgerichtet. Ähnliches ereignete sich in Aarburg, Zofingen und Brugg. Bern konnte die Ordnung nur für kurze Zeit wiederherstellen. Vom 10. März an wurde der Berner Aargau von französischen Truppen besetzt. Zur Einrichtung eines selbstständigen Kantons Aargau im Rahmen der am 12. April 1798 ausgerufenen Helvetischen Republik tagten die Abgeordneten der aargauischen Städte und Ämter vom 22. März bis 5. April in Aarau als provisorische Nationalversammlung.

Dieser, eingeteilt in die fünf Distrikte Aarau, Brugg, Kulm, Lenzburg und Zofingen, umfasste vorerst den ehemals bernischen Unteraargau östlich der Wigger. Der westliche Teil des Amtes Aarburg kam formell 1802, faktisch aber erst 1803 dazu. Kantonshauptstadt war Aarau, das vom Mai bis September 1798 auch Hauptstadt der Helvetischen Republik war. Aus den Freien Ämtern, der Grafschaft Baden und dem Kelleramt wurde am 11. April 1798 – nach deren Entlassung als Untertanengebiete Ende März – ein Kanton Baden gebildet. Am 9. Februar 1802 konstituierte sich das bis 1801 österreichische Fricktal als Kanton (Hauptort Rheinfelden), der am 13. August 1802 als selbstständiger Gliedstaat der Helvetischen Republik angegliedert wurde.

Porträt von Johann Rudolf Dolder. Radierung von Heinrich Pfenninger, 1799 (Staatsarchiv Aargau, Aarau, Grafische Sammlung).
Porträt von Johann Rudolf Dolder. Radierung von Heinrich Pfenninger, 1799 (Staatsarchiv Aargau, Aarau, Grafische Sammlung). […]

Die Helvetik besass ihre Anhänger vor allem in den Städten Aarau und Brugg sowie in der ländlichen Oberschicht. Zahlreiche Aargauer gehörten zu den tragenden Persönlichkeiten der Helvetischen Republik (u.a. Albrecht Rengger, Philipp Albert Stapfer, Johann Rudolf Dolder). Viele begegneten der neuen Ordnung gleichgültig oder lehnten sie sogar ab. Sorgen mit Einquartierungen und die Enttäuschung darüber, dass 1801 die unentgeltliche Aufhebung der Zehnten und Bodenzinsen widerrufen wurde, prägten die Stimmung auf dem Land. Rund um Baden litt die Bevölkerung im Sommer 1799 unter den Kriegshandlungen des Zweiten Koalitionskriegs, als die Einquartierungen (ca. 12'000 Mann) ihren Höchststand erreichten. Diese Belastungen, verbunden mit religiösen Vorbehalten katholischerseits, führten zu verschiedenen Formen passiven Widerstands (Verweigerung von Bürgereid und Militärdienst). 1802 schlossen sich Tausende dem im Raum Siggenthal-Baden losgebrochenen Aufstand gegen die helvetische Regierung an (Stecklikrieg). Am 21. September 1802 entlud sich die Wut der Bauern aus der Region Baden in einem Pogrom gegen die in Endingen und Lengnau ansässigen Juden, die als vermeintliche Profiteure der Helvetik in eine Sündenbockrolle gerieten (Zwetschgenkrieg). Eine Eingabe vom Dezember 1802 an die Consulta, welche die Wiedervereinigung mit Bern wünschte, wurde von 2746 Personen unterzeichnet.

Von der Mediations- zur Regenerationszeit (1803-1848)

Die Schaffung eines aargauischen Grosskantons als Gegengewicht zu Bern und Zürich war vor allem ein Anliegen der helvetischen Führungsgruppen, entsprach aber auch den Interessen Napoleons. Doch erst die Mediationsakte 1803 liess durch den – ähnlich bereits in der Verfassung von Malmaison (1801) vorgesehenen – Zusammenschluss der helvetischen Kantone Aargau, Baden und Fricktal den Kanton Aargau in seiner heutigen Gestalt entstehen. Gleichzeitig kam im Tausch mit dem Amt Hitzkirch das bisher luzernische Amt Merenschwand hinzu; die Gemeinden Schlieren, Dietikon, Hüttikon und Oetwil an der Limmat wurden an Zürich abgetreten. Die unter Respektierung der historischen und konfessionellen Grenzen vorgenommene Einteilung in elf Bezirke ist seither nur geringfügig verändert worden (1840 Brunegg vom Bezirk Brugg zum Bezirk Lenzburg, 1866 Unterleibstadt vom Bezirk Laufenburg zum Bezirk Zurzach anlässlich der Vereinigung mit Oberleibstadt zu Leibstadt).

Die aargauische Verfassung von 1803 schränkte durch Zensus und Altersgrenzen Stimmrecht und Ausübung öffentlicher Ämter stark ein (1803 9233 Stimmberechtigte oder 7% der Bevölkerung gegenüber 14'561 im Sommer 1802). Der 150-köpfige Grosse Rat als gesetzgebende Behörde besass kein Initiativrecht und konnte lediglich die vom Kleinen Rat vorgelegten Gesetze annehmen oder verwerfen. Das Schwergewicht der politischen Willensbildung lag beim Kleinen Rat, dessen neun Mitglieder vom Grossen Rat gewählt wurden und diesem zugleich angehörten. Als richterliche Gewalten wurden Friedensrichter, Bezirksgerichte und als oberste Instanz das Obergericht (bis 1831 Appellationsgericht) geschaffen. Erhalten blieben wichtige Errungenschaften von 1798 wie die Abschaffung der Vorrechte des Ortes und der Geburt, die Handels- und Gewerbefreiheit, die Loskäuflichkeit der Feudallasten sowie die Kultusfreiheit für Katholiken und Protestanten. In den kantonalen Behörden waren alle Regionen gleichmässig vertreten.

Karikatur von David Hess. Kolorierter Kupferstich, um 1815 (Staatsarchiv Aargau, Aarau, Grafische Sammlung, GS/00807-2).
Karikatur von David Hess. Kolorierter Kupferstich, um 1815 (Staatsarchiv Aargau, Aarau, Grafische Sammlung, GS/00807-2). […]

Der Durchzug der alliierten Truppen nach Frankreich 1813-1814 traf vor allem das Fricktal hart und auferlegte den Gemeinden und dem Staat Lasten von 1,8 Mio. Franken. Mit Beginn der Restauration stand die Existenz des Aargaus als Kanton in Frage: Bern erhob Anspruch auf sein ehemaliges Untertanengebiet, Zug auf Teile der Freien Ämter. Die Bevölkerung hatte sich indessen mit dem neuen Kanton abgefunden. Dem Verhandlungsgeschick Renggers und dem Einfluss Frédéric César de La Harpes auf Zar Alexander I. hatte es der Aargau zu verdanken, dass ihm der Wiener Kongress 1814 sein Territorium in vollem Umfang bestätigte.

Die Verfassung von 1814 erweiterte den Kleinen Rat auf 13 Mitglieder, verlängerte die Amtszeiten von in der Regel fünf auf zwölf Jahre, schränkte die Volkswahl des Grossen Rats ein und führte die paritätische Vertretung von Reformierten und Katholiken für die kantonalen Behörden ein; im Übrigen hielt sie sich weitgehend an die Grundsätze der Verfassung von 1803. Der Aargau blieb auch während der Restauration den aufklärerischen Idealen verpflichtet und verhielt sich, etwa was Zensur und politische Flüchtlinge betraf, vergleichsweise liberal. Eines der Hauptanliegen der aargauischen Politik war die Verschmelzung der Teilgebiete zu einem einheitlichen und neuzeitlichen Staatswesen. Aus diesem Grund wurde besonderes Gewicht auf die Vereinheitlichung und Modernisierung des Rechts und auf die Schaffung gesamtaargauischer Institutionen gelegt. Die aargauische Kirchenpolitik folgte den Spuren des alten Bern, des Josephinismus und des Konstanzer Generalvikars Ignaz Heinrich von Wessenberg. Die reformierte wie die katholische Staatskirche sollten in den Dienst der aufgeklärten Kulturpolitik genommen, die katholische Kirche aus ihren Bindungen zu Rom herausgelöst und in ein schweizerisches Nationalbistum eingegliedert werden. Dem Vertrag zur Neubildung des Bistums Basel (1828) trat der Aargau erst 1829 bei, da ihm darin die Rechte des Staates gegenüber der Kirche vorerst nicht gewahrt schienen.

Beim Umschwung von Ende 1830 wirkten Teile der Oberschicht, die eine Verfassungsrevision in liberalem Geiste anstrebten, und Teile der Landbevölkerung (v.a. in den Freien Ämtern), die mit der Verteilung der öffentlichen Lasten und der Kirchenpolitik der Regierung unzufrieden waren, zusammen (Regeneration). Ihre Forderungen wurden auf einer Volksversammlung zu Wohlenschwil (7. November 1830) festgehalten. Die zögernde Haltung der Kantonsbehörden provozierte den "Freiämtersturm" vom 6. Dezember 1830, einen unblutig verlaufenden Zug gegen Aarau unter dem angesehenen Merenschwander Wirt Johann Heinrich Fischer. Den Wünschen des Volkes wurde teilweise Rechnung getragen; an die Macht kam jedoch eine neue, liberale Führungsschicht, die den bisherigen Kurs verstärkt fortsetzte.

Die Verfassung von 1831 gewährte zusätzliche Grundrechte (z.B. Pressefreiheit, Petitionsrecht, Unverletzlichkeit des Eigentums) und schuf ein Repräsentativsystem mit dem nun 200 Mitglieder umfassenden Grossen Rat als oberster staatlicher Behörde. Ein Zensus bestand nur noch für einen Teil der Grossrats- und für Gemeinderatsmitglieder, die Amtszeiten wurden auf sechs Jahre beschränkt. Verwaltung und Justiz wurden getrennt, während die neun Mitglieder des Kleinen Rats weiterhin dem Grossen Rat angehörten.

Die Division von Oberst Paul Karl Eduard Ziegler am 20. November 1847 bei Muri. Lithografie von L. Wegner, nach einer Zeichnung von Julius Sulzer von Kahlenberg, Druck von Füssli & Cie. (Staatsarchiv Aargau, Aarau, Grafische Sammlung, GS/00656-2).
Die Division von Oberst Paul Karl Eduard Ziegler am 20. November 1847 bei Muri. Lithografie von L. Wegner, nach einer Zeichnung von Julius Sulzer von Kahlenberg, Druck von Füssli & Cie. (Staatsarchiv Aargau, Aarau, Grafische Sammlung, GS/00656-2). […]

Der Aargau trat 1832 dem Siebnerkonkordat bei und befürwortete eine Bundesrevision im Sinn einer Stärkung der Bundesgewalt. Die Kirchenpolitik, massgeblich geprägt durch liberale Katholiken, schlug mit den Badener Artikeln und dem Gesetz über das Plazet (staatliche Genehmigung für kirchliche Erlasse, 1834) eine schärfere Gangart ein. Den Widerstand in der katholischen Bevölkerung beantwortete die Regierung mit Repression (z.B. militärische Besetzung der Freien Ämter, Ende November 1835). Zu einer eigentlichen Staatskrise spitzten sich die Gegensätze bei der Totalrevision der Staatsverfassung 1840-1841 zu, die zum Aargauer Klosterstreit führte. Der Radikalismus errang dabei einen entscheidenden Sieg auf kantonaler wie auf eidgenössischer Ebene. Mit der Verfassung von 1841 fielen die Parität, die indirekten Wahlen und der Zensus für den Grossen Rat dahin, die Zahl der Mandate richtete sich nach der Zahl der Stimmbürger (ein Mandat auf 180 Stimmbürger). In der Folge beteiligte sich der Aargau an vorderster Stelle an den Freischarenzügen und an der Agitation gegen die Jesuiten. 1847 gehörte er zur Mehrheit der zwölf Kantone, welche die Auflösung des Sonderbunds beschloss und vollzog. Die Bundesverfassung von 1848 nahm das Aargauer Stimmvolk zu 70% an, darunter auch eine starke Minderheit der Katholiken.

Vom liberalen Rechtsstaat zum demokratischen Wohlfahrtsstaat (1848-1914)

Nach 1848 rückten die Fragen nach einem weiteren Ausbau der Volksrechte und nach der Tätigkeit des Staates in materiellen Belangen in den Vordergrund. Die Verfassung von 1852 ging mit der Einführung der Volksinitiative für die Teilrevision der Verfassung und die Abänderung bestehender Gesetze erstmals vom reinen Repräsentativsystem ab. Der Grosse Rat wurde erheblich verkleinert (ein Sitz auf 260 Stimmbürger, ab 1863 auf 1100 Einwohner). Wer aus dem Staatsgut besoldet wurde (Regierungsräte, Staatsbeamte, hauptamtliche Richter) oder ein öffentliches Lehramt bekleidete, durfte ihm nicht mehr angehören. Die Exekutive wurde auf sieben Mitglieder verkleinert und hiess nun Regierungsrat. Alle Amtszeiten wurden auf vier Jahre herabgesetzt; zudem konnte das Volk den Grossen Rat auch während der Legislaturperiode abberufen. Ferner wurden dem Kanton im Armen-, Auswanderungs- und Kreditwesen zahlreiche Aufgaben übertragen.

Direktdemokratische Postulate brachte zuerst die katholische Opposition vor (Veto 1840), doch sind nach 1848 auch im liberalen Lager Tendenzen zur Demokratischen Bewegung feststellbar. Von den 1860er Jahren an hoben sich die Demokraten deutlich von den Altliberalen ab. Nach dem "Mannlisturm" von 1862, einer Protestbewegung gegen die Einbürgerung der aargauischen Juden, die zur Verwerfung eines entsprechenden Gesetzes und zur Abberufung des Grossen Rats durch das Volk führte, vollzog sich zwischen 1863 (fakultatives Gesetzesreferendum, sogenanntes Veto) und 1869-1870 (Volkswahl der Bezirksbehörden, Gesetzesinitiative, obligatorisches Gesetzes-, Finanz- und Steuerreferendum) der Übergang zur (halb-)direkten Demokratie.

Beide Flügel des liberalen Lagers hielten an den kulturpolitischen Positionen der aargauischen Frühzeit fest. Die oppositionellen Katholiken, die rund ein Drittel der Grossratssitze innehatten, wurden von allen Schlüsselpositionen ferngehalten. Nach 1870 wirkte der Aargau an den Kämpfen um das Bistum Basel und der Absetzung des Bischofs Eugène Lachat mit (Kulturkampf). Die eidgenössischen Verfassungsrevisionen von 1872 und 1874 nahm das Aargauer Volk mit grossem Mehr an. Die christkatholische Kirche, die sich 1876 konstituierte, wurde von namhaften aargauischen Politikern gefördert. Da im Zeitalter der Volksrechte – insbesondere des Steuerreferendums – ein Regieren gegen den Willen der Römisch-Katholiken schwierig geworden war, suchten die Liberalen ab 1879 die Verständigung mit dem Gegner. 1884 beteiligte sich der Aargau an der Übereinkunft, die den Konflikt zwischen dem Bistum Basel und den Diözesanständen beilegte. Nach jahrelangem Streit fanden sich 1884-1885 (Alt-)Liberale, Demokraten und katholische Opposition zur Revision der Staatsverfassung zusammen.

Die als Werk der Verständigung und Versöhnung gepriesene Verfassung von 1885 erlaubte den anerkannten christlichen Konfessionen (reformiert, römisch-katholisch, christkatholisch), "ihre Angelegenheiten selbständig unter Aufsicht des Staates" zu regeln; den Katholiken wurde das Recht des freien Verkehrs mit den geistlichen Oberbehörden zugesichert. Endgültig bereinigt wurde das Verhältnis der anerkannten Kirchen zum Staat 1927 mit ihrer Erhebung zu Landeskirchen. Im Regierungsrat (seit 1885 fünf Mitglieder) wurde den Katholiken erstmals eine Vertretung zugestanden. Die Volksrechte wurden in der Folge noch etwas erweitert (1904 Volkswahl der Regierungs- und Ständeräte, 1910 formulierte Gesetzesinitiative). Eingehend beschrieb die Verfassung von 1885 den neuen Aufgabenkreis des Staates auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet.

Das liberale Lager befand sich nach 1885 weiterhin in der Mehrheit und stellte bis 1919 vier der fünf Regierungsräte. 1894 vereinigten sich Liberale und Demokraten zur Freisinnig-Demokratischen Partei (FDP), von der sich allerdings die "Rheinkreispartei" des Radikaldemokraten Josef Jäger zeitweise wieder absonderte. Der 1879 geschaffene "Pressverein" kann als Vorläufer der 1892 gegründeten Katholisch-Konservativen Partei des Kantons Aargau gelten. Innerhalb derselben bildete sich schon in den 1890er Jahren ein christlichsozialer Flügel heraus. Frühsozialistisches Gedankengut wirkte seit den 1840er Jahren auf den Aargau ein. 1849 wurden die ersten Sektionen des Grütlivereins gegründet (Zofingen, Aarau). 1902 trat der kantonale Grütliverband der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz (SPS) bei. Aus ihm ging die Aargauische Arbeiterpartei hervor, die sich 1911 in Sozialdemokratische Partei des Kantons Aargau umbenannte. 1912 folgte die Schaffung eines kantonalen Gewerkschaftskartells.

Aargauische Politik seit dem Ersten Weltkrieg

Während des Ersten Weltkriegs gerieten trotz guter Geschäftsergebnisse der Industrie und eines hohen Selbstversorgungsgrades der Bevölkerung breite Kreise in materielle Not. Revolutionäre Neigungen zeigten sich jedoch nirgends. Im Landesstreik vom November 1918 wurde in den Bezirken Aarau, Baden, Brugg und Zurzach, teilweise auch in Rheinfelden gestreikt. Die überwiegend reformistischen Aargauer Sozialdemokraten lehnten 1919 den Beitritt zur Dritten Internationale mit grossem Mehr ab. Demgegenüber entstanden auf der Rechten private Organisationen wie die Vaterländische Vereinigung und Bürgerwehren zum Schutze der bestehenden Ordnung. 1918 begannen die liberalen Bauern, die ihre Interessen bisher über die bestehenden Parteien wahrgenommen hatten, sich eigene politische Organisationen zu geben, die sich 1920 zur Aargauischen Bauern- und Bürgerpartei zusammenschlossen. 1919 überliess ihnen die FDP einen Regierungsratssitz und bei den Nationalratswahlen errang eine "Bauernliste" drei Mandate. 1920, im eidgenössischen Vergleich relativ spät, wurde das Proporzwahlsystem (Listenstimmen) für den Grossen Rat eingeführt, was dazu beitrug, dass 1921 die SP mit 51 Sitzen (1917 18 Mandate) zur stärksten Fraktion aufstieg, während die FDP von 140 auf 43 Sitze zurückfiel.

Trotz schwieriger Wirtschaftslage (Krise 1920-1924, Weltwirtschaftskrise 1929-1936) und der Einwirkung extremer Ideologien pendelten sich die politischen Kräfteverhältnisse gegen Ende der 1930er Jahre ein. Die SP konnte ihren Wähleranteil auf über 30% steigern und ihn bis 1965 auf dieser Höhe behaupten. Die bürgerlichen Parteien behielten jedoch stets eine klare Mehrheit. Die Gegensätze zwischen SP und Bürgerlichen, die sich nach 1918 verschärft hatten, liessen um 1930 nach. SP-Vertreter nahmen Einsitz in den kommunalen Exekutiven, 1932 auch im Regierungsrat. Schon 1934 bekannte sich die aargauische SP zur Landesverteidigung. Die vier grossen Parteien FDP, KK/CVP, BGB/SVP und SP hatten seither trotz des raschen und tiefgreifenden Wandels der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Verhältnisse zusammen nie weniger als 65% der Wähler hinter sich und stellten stets sämtliche Regierungsräte. 2001 wurde die SVP mit 72 Sitzen stärkste Partei im Grossen Rat seit der Einführung des Proporzes. Die Evangelische Volkspartei (EVP) ist seit 1921, der Landesring der Unabhängigen (LdU) war von 1937 bis zu seiner Auflösung 2000 ständig im Rat vertreten, und die Jungbauern (1937-1957) konnten sich mindestens vorübergehend eine gewisse Geltung verschaffen. Rechtsbürgerliche Kreise sympathisierten zum Teil offen mit dem Nationalsozialismus, doch kamen rechtsextreme Parteien (Nationale Front nach 1933) nie über einzelne Sitze hinaus.

Als Oppositionsparteien hatten in den späteren 1960er und in den 1970er Jahren der LdU und die Republikaner einiges Gewicht, während die Neue Linke nach 1968 nicht richtig Fuss zu fassen vermochte. Gewaltloser ausserparlamentarischer Widerstand richtete sich gegen den Bau neuer Kernkraftwerke. Eine zweite Oppositionsphase 1985-1995 erhielt ihr Gepräge durch die Grünen und vor allem durch die 1986 gegründete Auto- bzw. Freiheitspartei (FP).

Die 1952 auf 200 festgesetzte Mitgliederzahl des Grossen Rats wurde 2005 auf 140 verkleinert. Die 1972 eingeleitete Totalrevision der Verfassung von 1885 blieb nach anfänglicher Umgestaltungseuphorie moderat. Sie fand ihren Abschluss mit der Verfassung von 1980, nachdem das Volk einen ersten Entwurf, der das obligatorische durch das fakultative Gesetzes- und Finanzreferendum ersetzen wollte, 1979 abgelehnt hatte. Der Grundrechts- und der Aufgabenkatalog des Staates wurden aktualisiert, dem Grossen Rat Planungskompetenzen eingeräumt.

Das Frauenstimmrecht stand im Grossen Rat erstmals 1918 zur Debatte. 1936 wurden die Frauen für Armen-, 1940 für Schulbehörden wählbar, 1971 erhielten sie die vollen politischen Rechte in Gemeinde und Kanton, gleichzeitig mit dem Stimm- und Wahlrecht auf Bundesebene. 1979 wählte die Stimmbevölkerung die Sozialdemokratin Ursula Mauch als erste Aargauerin in den Nationalrat, 1993 die freisinnige Stéphanie Mörikofer zur ersten Regierungsrätin. 2006 wurde Doris Leuthard (CVP) in den Bundesrat gewählt (2010 und 2017 Präsidentin).

Sitze des Kantons Aargau in der Bundesversammlung 1919-2015

 19191935194719591971198319911995200320112015
Ständerat
FDP21 11111111
KK/CVP 111111    
SP         11
BGB/SVP       11  
Übrige  1        
Nationalrat
FDP32333333223
BGB/SVP32222233667
KK/CVP33333422211
SP34443423332
Jungbauern 1         
LdU   12111   
Republikaner    1      
EVP        1  
GLP         11
BDP         11
GPS      11111
Andere      22   
Total Sitze1212121314141415151516
Sitze des Kantons Aargau in der Bundesversammlung 1919-2015 -  Autor; Bundesamt für Statistik

Zusammensetzung des Regierungsrats im Kanton Aargau 1977-2016

 19771981198519881992199620002004200820122016
FDP11222211111
CVP11111122111
SP221111  111
SVP11111111112
GP        11 
Übrige      11   
Total Sitze55555555555
Zusammensetzung des Regierungsrats im Kanton Aargau 1977-2016 -  Bundesamt für Statistik

Zusammensetzung des Kantonsrats im Kanton Aargau 1921-2016

 192119371945196119732001200520092016
FDP433237414140242022
BGB/SVP463034283072464545
KK/CVP474242475432262117
SP516267644636302227
EVP253588766
Jungbauern 83      
LdU 3489    
CSP 21      
Nationale Front 1       
Jungliberale 1       
PdA  2      
Republikaner    10    
Grüne     771310
GLP       57
SD     4 2 
FP     1   
EDU       22
BDP       44
Andere11  72    
Total Sitze200186193200200200140140140
Zusammensetzung des Kantonsrats im Kanton Aargau 1921-2016 -  Autor; Bundesamt für Statistik

Das Pressewesen im 19. und 20. Jahrhundert

Als erste aargauische Zeitung kann das "Unter-Aergauische Intelligenz-Blatt" (Aarau 1797) gelten. Sowohl der helvetische Kanton Aargau wie auch der 1803 geschaffene Kanton Aargau besassen ein amtliches Publikationsorgan; seit 1839 heisst es "Amtsblatt des Kantons Aargau". Die private Meinungspresse entwickelte sich nach politischen Richtungen und nach Regionen. Den zentralistischen Liberalismus der aargauischen Frühzeit vertrat der 1804 von Heinrich Zschokke gegründete Schweizerbote in Aarau, der sich bis 1878 hielt. Liberale sowie radikale bzw. demokratische Blätter entstanden in regionalen Zentren des reformierten Aargaus sowie in Baden und Wohlen: 1847 das "Aarauer Tagblatt" (ab 1880 Aargauer Tagblatt), 1848 die "Neue Eidgenössische Zeitung" (ab 1856 "Tagblatt der Stadt Baden", ab 1870 Badener Tagblatt), 1873 das Zofinger Tagblatt. Die Anfänge einer katholisch-konservativen Presse fallen in das Jahr 1840 ("Der Freiämter", Bremgarten). Eine führende Rolle spielten zunächst die von Johann Nepomuk Schleuniger redigierten Blätter "Die Stimme von der Limmat" (1842-1852) und "Die Botschaft" (seit 1856), später das 1911 gegründete "Aargauer Volksblatt" in Baden. Die Sozialdemokratie schuf sich ihr Organ 1906 mit dem "Freien Aargauer", der in Aarau erschien. Die Bauern- und Bürgerpartei erwarb 1924 die "Schweizer Freie Presse" in Baden und führte sie 1938-1972 als "Aargauische Bauern- und Bürgerzeitung" weiter. Kein dauernder Erfolg war der Presse der Parteien und Bewegungen der 1930er Jahre sowie der Neuen Linken der 1960er und 1970er Jahre beschieden. Auf die Entwicklung zu regionaler und politischer Vielfalt bis ins frühe 20. Jahrhundert folgte ein Konzentrationsprozess, der seit den 1980er Jahren immer schärfere Formen angenommen hat. 1987 bzw. 1992 stellten der "Freie Aargauer" und das "Aargauer Volksblatt" ihr Erscheinen ein. Das "Badener Tagblatt" und das "Aargauer Tagblatt" fusionierten 1996 zur "Aargauer Zeitung". Seit 2001 kooperieren die "Aargauer Zeitung" und das "Zofinger Tagblatt mit der "Solothurner Zeitung" und dem "Oltner Tagblatt" unter dem Namen "Mittelland Zeitung". Daneben existieren nur noch mehrere kleine Lokalzeitungen.

Staatstätigkeit

Gebietseinteilung, Behörden, Verwaltung

In Staatstätigkeit und Verwaltung knüpfte der Kanton Aargau 1803 in erster Linie an bernische, oft auch vorderösterreichische Traditionen an. Die Bezirke sind Einheiten für Verwaltung und Rechtspflege (seit 1920 auch Wahlkreise) und besitzen keinerlei rechtlich-politische Selbstgestaltungsbefugnisse. Die Gemeinden dagegen – anfangs Ortsbürgergemeinden, neben denen sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts die Einwohnergemeinden entwickelten – sind autonom und verfügen über eigene politische Organe (Gemeindeversammlung bzw. in grösseren Gemeinden seit 1966 Einwohnerräte, Gemeindeammann, Gemeinderat).

Die gesetzgebende Gewalt liegt beim Grossen Rat, die vollziehende beim Regierungsrat (vor 1852 Kleiner Rat). In diesem führt der Landammann (bis 1831 Amtsbürgermeister) den Vorsitz. Die Mitglieder des Regierungsrats, der 1852 vom Kommissions- zum Departementssystem überging, sind seit 1885 vollamtlich tätig. Vertreter der Regierungsgewalt und zugleich Gerichtspräsidenten auf Bezirksebene, dem altbernischen Landvogt vergleichbar, war bis 1831 der Oberamtmann. Seither sind seine Funktionen auf den Bezirksamtmann und den Bezirksgerichtspräsidenten aufgeteilt. Die richterliche Gewalt kennt seit 1803 Friedensrichter als Vermittlungsinstanz und für Zivilrechtsfälle von geringem Streitwert, Bezirksgerichte als erste Instanz in Zivil- und Strafsachen sowie das Obergericht (bis 1831 Appellationsgericht) als höchste Instanz; dazu kamen zeitweise die Kreisgerichte und 1858-1977 das Schwurgericht. Seit 1885 sind verschiedene Sondergerichte (Handels-, Arbeits-, Jugendgericht usw.) eingeführt worden. Das Verwaltungsgericht wurde 1968 geschaffen.

1803 waren in der Zentralverwaltung des Kantons 15 Personen beschäftigt, etwas mehr in den Bezirken sowie in den kantonalen Anstalten und Domänen (1996 rund 21'000 vollamtliche Arbeitskräfte). Zu den wichtigsten Tätigkeitsgebieten des frühen Staates Aargau zählten die Rechtspflege, das Militärwesen, das Kirchenwesen und die Ausübung seiner Regalrechte. Auch im Bau-, Erziehungs- und Sozialwesen nahm er gewisse Aufgaben wahr, überliess aber den Vollzug seiner Anordnungen und die materiellen Aufwendungen dafür grösstenteils den Gemeinden oder privaten Trägerschaften. Nach 1848 wurden Post-, Zoll- und Münzwesen an den Bund abgetreten, ebenso 1848 bzw. 1874 das Militärwesen. Mit dem allmählichen Abbau des Staatskirchentums (ca. 1880-1927) gingen die Kirchenleitung und -verwaltung, die Kirchengüter, das Pfarrwahlrecht usw. an die Landeskirchen und Kirchgemeinden über. Andererseits übernahm der Staat ab ca. 1852, verstärkt ab 1885 allgemeine wirtschaftliche und soziale Aufgaben und wandelte sich allmählich vom reinen Rechtsstaat zum Wohlfahrtsstaat. Eine weitere Intensivierung der Staatstätigkeit erfolgte nach 1945, als das Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum ganz neuartige Probleme stellte. Staat und Wirtschaft sind um eine klare Trennung ihrer Aufgabenbereiche bemüht; der Staat fördert die Wirtschaft indirekt durch Schaffung günstiger Rahmen- und Infrastrukturbedingungen (Bildungs-, Verkehrs-, Steuerwesen, Dienstleistungen usw.), nicht aber direkt durch finanzielle Unterstützung einzelner Firmen oder Zweige.

Finanzen

1822-1830 wurde zur Tilgung der Staatsschuld erstmals eine Vermögenssteuer erhoben. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts konnte der Kanton seine laufenden Ausgaben (1843 erstmals über 1 Mio. Franken) aus den Erträgen des Staatsgutes und der Regalien (Zölle, Post, Salz usw.) sowie aus Gebühren und indirekten Abgaben decken. Nach 1852 wurden die gesetzlichen Grundlagen zur direkten Besteuerung geschaffen und 1855 erstmals eine Einkommens- und Vermögenssteuer erhoben. Das Volk verweigerte jedoch dem Staat – in Anwendung des 1870 eingeführten Steuerreferendums – 1877-1885 jegliche direkte Steuern. Ab 1885 durfte der Grosse Rat eine zweckgebundene halbe Staatssteuer von sich aus erheben; auch damit waren dem Staat die Mittel aber noch knapp bemessen. Erst von 1920 an, als er die Besoldung der Volksschullehrer übernahm, wurden ihm grössere Steuereinkünfte zugewiesen. Seine Einnahmen, 1915 noch 6,8 Mio. Franken, stiegen 1920 auf 21,9 Mio. Franken, erreichten 1950 82,5 Mio. Franken und 1990 2244 Mio. Franken; der Anteil der Steuern an den Einnahmen betrug 1915 21%, 1920 35%, 1950 43% und 1990 54%.

Recht und Justiz, Wehrwesen, Regalien

Die Vereinheitlichung des Rechts nahm Jahrzehnte in Anspruch (1828-1856 Zivilrecht, 1804 und 1857 Kriminalstrafgesetz, 1858 Strafprozessordnung, 1868 Zuchtpolizeigesetz usw.). Kantonale Strafanstalten bestehen seit 1803 in Baden und seit 1826 in Aarburg. Als vorbildlich galt die 1864 bezogene Strafanstalt Lenzburg.

Die Truppenorganisation basierte ab 1816 auf dem Milizsystem und der allgemeinen Wehrpflicht. Die Truppe umfasste Infanterie, Reiterei, Artillerie und Train, Sappeure und Pontoniere. 1837 zählte sie 6048 Mann im Auszug und 7070 Mann in der Reserve.

In Ausübung des Münzregals prägte der Kanton Aargau 1805-1819 eigene Münzen auf der Grundlage des helvetischen Münzgesetzes von 1799. 1819 beteiligte er sich mit 19 anderen Kantonen am Konkordat über einen schweizerischen Münzfuss und 1825 am Münzverein von sieben Ständen zur Regelung des Umlaufes von Scheidemünzen und zur einheitlichen Tarifierung fremder Geldsorten. 1826-1831 wurden die aargauischen Scheidemünzen eingezogen und in Bern umgeprägt. Dem Münzwirrwarr machte erst die eidgenössische Münzreform von 1850 ein Ende.

Der Salzverkauf war Staatsmonopol und der Salzpreis lange ein Politikum ersten Ranges. Der Staat bezog seit den 1840er Jahren das Salz von den Salinen Riburg (Gemeinde Rheinfelden), Rheinfelden und Kaiseraugst, die sich 1874 zu den "Schweizerischen Rhein-Salinen" zusammenschlossen. 1909 konnte der Kanton diese käuflich erwerben. Mit der Saline Schweizerhalle wurden sie zu den "Vereinigten Schweizerischen Rheinsalinen" zusammengefasst, an welchen alle Kantone ausser der Waadt beteiligt sind.

Erziehung und Kultur

Vor 1798 bestanden in den Städten Deutsch- und Lateinschulen. Während das Fricktal bereits die allgemeine Schulpflicht kannte und im Berner Aargau die Berner Landschulverordnung für eine minimale Bildung der Landjugend sorgte, war es in den gemeinen Herrschaften mit den Landschulen meist übel bestellt. Das erste aargauische Schulgesetz von 1805 erklärte alle Kinder für schulpflichtig und bestimmte, dass jede politische Gemeinde eine Schule haben müsse. Das Schulgesetz von 1835 gab dem gesamten Schulwesen die Strukturen, auf denen es im Wesentlichen noch heute beruht. Die elementare Bildung vermittelt die Gemeindeschule. Daran schliessen die Bezirksschulen (Progymnasien und zugleich Realschulen), seit neuerer Zeit auch die Fortbildungs- bzw. Sekundarschulen an. Der Staat selbst führt die höheren Mittelschulen: die 1802 gegründete, 1813 verstaatlichte Kantonsschule in Aarau, die älteste Schule ihrer Art in der Schweiz, die auch als Erste seit 1838 Maturitätsprüfungen abhielt, sowie seit 1822 das Lehrerseminar, das 1847 ins Kloster Wettingen verlegt wurde; 1911 übernahm er auch das seit 1873 bestehende Lehrerinnenseminar in Aarau. Der ständige Streit um die Zuschüsse des Staates an die Schulausgaben der Gemeinde wurde durch die Übernahme der Lehrerbesoldungen durch den Kanton 1920 weitgehend entschärft. Gemäss Auftrag der Verfassung von 1885 unterstützt der Staat landwirtschaftliche, kaufmännische und gewerbliche Berufsschulen und führt einige davon selbst.

Stark ausgebaut wurde das Bildungswesen nach 1960. Unter Preisgabe der alten Grundsätze einer zentralisierten Mittelschule wurde 1961 eine weitere Kantonsschule in Baden eröffnet. 1967 wurden Zweigstellen der Lehrerseminarien in Wohlen und Zofingen errichtet. 1976 erfolgte die Umwandlung der Lehrerseminarien zu Kantonsschulen mit Maturitätsabschluss. Gleichzeitig wurde das Angebot an Diplommittelschulen erweitert. Neu dazu kam ab 1965 die Tertiärstufe mit der Höheren Technischen Lehranstalt Windisch, die gemeinsam mit Solothurn betriebene Höhere Wirtschafts- und Verwaltungsschule in Olten und andere mehr. Das 1962 lancierte Projekt einer Hochschule für Humanwissenschaften (Pädagogik und klinische Medizin) wurde 1976 vor allem aus finanziellen Gründen sistiert. Dagegen ermöglicht ein 1997 angenommenes Gesetz die Gründung von Fachhochschulen, in welche die höheren Lehranstalten integriert werden können.

Kulturpolitik meinte im 19. Jahrhundert vor allem Kirchen- und Schulpolitik. Dazu unterhält der Kanton in Aarau seit 1803 ein Staatsarchiv und seit 1807 eine Kantonsbibliothek, deren Grundstock die Bibliothek des Zuger Generals Beat Fidel Zurlauben bildet. Ein kantonales Gewerbemuseum, das auch die 1959 ins Kunsthaus Aarau verlegte kantonale Kunstsammlung beherbergte, wurde 1896 in Aarau eröffnet. An anderen Museen (z.B. Vindonissa-Museum Brugg, Natur- und Heimatmuseum Aarau) ist der Kanton beteiligt. Grössere Anstrengungen auf kulturellem Gebiet unternahm er seit 1950. Seine Sammlungen wurden etwa im Museum Aargau auf Schloss Lenzburg (1956) oder im Kunsthaus Aarau (1959) zugänglich gemacht. Seit 1968 unterstützt er Kulturschaffende und kulturelle Institutionen mit bis zu 1% seiner Steuereinnahmen.

Verkehrswesen

Der Verkehr auf den Gewässern war im 19. Jahrhundert kaum mehr von Bedeutung. Die Pläne zur Schiffbarmachung des Hochrheins und der Aare aus den 1950er Jahren kamen nicht zur Ausführung. Demgegenüber gewann der Strassenverkehr vom 18. Jahrhundert an erheblich an Umfang. 1803 durchzogen das aargauische Gebiet mehrere fahrbare "Heer- und Handelsstrassen" (Zürich-Baden-Murgenthal-Bern, Basel-Zofingen-Luzern, Baden-Brugg-Bözberg-Basel) mit Abzweigungen in die grösseren Täler und Zentren. In der Folge baute der Kanton das Strassennetz zielbewusst aus. Mit der Staffeleggstrasse (1804-1810) wurde das Fricktal enger mit Aarau verbunden, mit der Mutschellenstrasse (1842 vollendet) eine direkte Verbindung mit Zürich hergestellt. Durch kleinere Landstrassen und Ortsverbindungsstrassen wurden bis 1880 alle Gemeinden ans Strassennetz angeschlossen. In die Kosten teilten sich Staat und Gemeinden, was zu endlosen Streitigkeiten führte. 1859 übernahm der Staat den Bau und Unterhalt der Landstrassen ganz und unterstützte den Bau kostspieliger Nebenstrassen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ging der Strassenbau zurück, um im Zeitalter des Automobils nach dem Ersten Weltkrieg und vollends während der Hochkonjunktur nach 1945 einen neuen Aufschwung zu nehmen. Die seit 1966 auf aargauischem Gebiet errichteten Nationalstrassen folgen den alten Verkehrslinien (A 1 Zürich-Baden-Lenzburg-Bern, A 2 Basel-Zofingen-Luzern, A 3 Basel-Bözberg-Brugg).

Die 1964 gebaute Autobahn A1 zwischen Hunzenschwil und Lenzburg veränderte die Landschaft des Kantons (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, Bestand Comet Photo AG).
Die 1964 gebaute Autobahn A1 zwischen Hunzenschwil und Lenzburg veränderte die Landschaft des Kantons (ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, Bestand Comet Photo AG).

Eisenbahnen hat der Staat Aargau selbst nie gebaut und betrieben; finanziell beteiligt hat er sich nur an der Gotthardbahn und an den nach 1900 erstellten aargauischen Nebenbahnen. Als erstes Teilstück der geplanten Linie Zürich-Basel eröffnete 1847 die Zürcher Nordbahngesellschaft die Strecke Zürich-Baden (Spanischbrötlibahn). Nach 1852 beherrschten ihre Rechtsnachfolgerin, die Nordostbahn, und die Schweizerische Centralbahn mit Sitz in Basel die Szene. Ihnen gegenüber konnte der Kanton Aargau angesichts der divergierenden Verkehrsinteressen seiner Regionen seine Wünsche nur teilweise durchsetzen. Immerhin erhielt er Anteil an den grossen Transitlinien Olten-Luzern (1856), Zürich-Aarau-Olten (1858) und Basel-Brugg durch den Bözberg (1875) sowie an der Südbahn (Aarau-Arth-Goldau, 1881); dazu kamen einige Nebenlinien. Dennoch liessen sich zahlreiche Gemeinden auf das Nationalbahnunternehmen ein, das 1878, kurz nach Eröffnung der Linie Winterthur-Baden-Zofingen, Konkurs machte. An ihrer Schuldenlast trugen sie bis in die 1930er Jahre. Die vor 1900 erstellten Normalspurstrecken gingen 1902 (die Seetalbahn allerdings erst 1925) ins Eigentum der SBB über. Nach der Jahrhundertwende wurden einige schon früher geplante Nebenbahnen durch private Gesellschaften erstellt. Die SBB elektrifizierten ihre Linien im Aargau 1907-1946. Seit den 1960er Jahren haben sie die Linien Zürich-Bern und die Südbahnlinie zu grossen Transitlinien ausgebaut (Heitersberglinie 1975). Der östliche Aargau ist an das 1990 in Betrieb genommene Zürcher S-Bahn-Netz angeschlossen. Seit den 1950er Jahren wurden in Aarau und Baden, später auch in Lenzburg, Brugg und im Wiggertal Busnetze auf- und ausgebaut, die teils durch regionale Trägerschaften betrieben werden. Seit 1993 besteht der Tarifverbund Aargau, dem mit Ausnahme des Fricktals (seit 1987 beim Tarifverbund Nordwestschweiz) das ganze Kantonsgebiet angeschlossen ist.

Gesundheitswesen

Durch einzelne Erlasse wie durch umfassende Gesetze (Sanitätsgesetz 1836) regelte der Kanton schon früh die Ausbildung und Tätigkeit des Medizinalpersonals und der Gesundheitspolizei sowie die medizinische Grundversorgung (z.B. obligatorische Pockenimpfung). Die vom alten Bern übernommene Pflegeanstalt Königsfelden wurde als Kantonsspital betrieben. 1872 wurde daselbst eine neue kantonale Heil- und Pflegeanstalt in Betrieb genommen, 1886 eine neue kantonale Krankenanstalt in Aarau eröffnet. Vom späteren 19. Jahrhundert an sind durch Gemeinden und Vereine zahlreiche Regionalspitäler, Sanatorien, Heime für Suchtkranke, Alters- und Pflegeheime usw. ins Leben gerufen worden. Ein zweites Kantonsspital besteht seit 1978 in Baden.

Sozialpolitik

Nach dem Armengesetz von 1804 waren für die Armenpflege die Ortsbürgergemeinden zuständig, seit 1936 sind es die Einwohnergemeinden. Als um die Mitte des 19. Jahrhunderts die Armenlasten stark zunahmen, verpflichtete die Verfassung den Staat, an überforderte Gemeinden Zuschüsse zu leisten und zwecks Senkung der Armenzahlen für "eine angemessene Organisation des Auswanderungswesens" zu sorgen. Während die Armen früher in Armenhäuser gesteckt oder verkostgeldet wurden, ist seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – zu einem guten Teil durch kirchliche und private Kreise – ein differenziertes System von Fürsorgeeinrichtungen geschaffen worden. In der Zwischenkriegszeit liess der Staat auch Notstandsarbeiten durchführen und unterstützte so Arbeitslose und gefährdete Unternehmungen.

Die Fabrikarbeit blieb lange ohne gesetzliche Regelung. Erst 1862 wurde ein Fabrikpolizeigesetz erlassen, das Fabrikarbeit für unter 13-Jährige verbot und die tägliche Arbeitszeit für unter 16-Jährige auf 12 Stunden limitierte. 1877 wurde es durch das eidgenössische Fabrikgesetz ersetzt.

Wirtschaftspolitik

Landwirtschaftliche Angelegenheiten gehören seit 1852 zum Geschäftskreis des Regierungsrates. Der Staat förderte zunächst die Ausbildung der Landwirte durch Schulen, Kurse und Subventionen. Seit 1855 unterstützt er Bodenmeliorationen, seit 1872 auch Güterregulierungen, verstärkt seit 1884, als dafür Bundessubventionen erhältlich wurden.

Nach vorderösterreichischem Muster schuf der Aargau 1805 eine für alle Gebäudebesitzer obligatorische Brand- bzw. Gebäudeversicherungsanstalt, die Erste ihrer Art in der Schweiz. 1910 wurde eine Kantonale Unfallversicherungskasse für Beamte, Lehrer und Schüler eingerichtet. Dagegen misslangen die Versuche, eine kantonale Mobiliarversicherung zu gründen und ein Krankenversicherungsobligatorium durchzusetzen. Seit 1897 leitet das Kantonale Versicherungsamt die staatlichen Versicherungsanstalten und überwacht die Tätigkeit der privaten Versicherungen.

Ein Teil des Staatsvermögens war bis weit ins 19. Jahrhundert in Zinsschriften auf Hypothek angelegt. Zur Linderung der "Geldnot" im Volk wurde 1855 gemäss Auftrag der Verfassung von 1852 die Aargauische Bank in Aarau eröffnet, ein gemischtwirtschaftliches Institut, das sich mit Hypothekar- wie mit kommerziellen Geschäften befasste. 1913 wurde sie unter dem Namen "Aargauische Kantonalbank" in eine Staatsbank mit der Stellung einer selbstständigen öffentlichen Anstalt umgewandelt. Ende 1999 unterhielt sie ausserhalb des Hauptsitzes in Aarau 30 Niederlassungen (Bilanzsumme 11'083,8 Mio. Franken).

Auf Initiative von Regierungsrat Emil Keller gründeten 1914 neun Kantone die Nordostschweizerischen Kraftwerke AG (NOK), der Aargau hält 28% des Aktienkapitals. Die NOK übernahmen die Beznau-Löntsch-Werke von der A.G. Motor (Baden) und erbauten bzw. beteiligten sich an zahlreichen, auch aargauischen Kraftwerken. Von den drei Kernkraftwerken auf aargauischem Boden haben sie zwei erstellt (Beznau I 1969, Beznau II 1971), am dritten (Leibstadt, 1984) sind sie beteiligt. Von der NOK bezieht das 1916 gegründete Aargauische Elektrizitätswerk (AEW) den Strom.

Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur im 19. und 20. Jahrhundert

Bevölkerung und Siedlung

1803 gehörte der Aargau zu den sechs grossen Kantonen, denen die Mediationsverfassung zwei Stimmen auf der Tagsatzung zubilligte. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts schloss er bezüglich Bevölkerungsgrösse zur Waadt auf und lag 1850 hinter Bern und Zürich an dritter Stelle. Die Agrarreform und der Bau mechanischer Spinnereien verbreiterten die Erwerbsgrundlage. Bei sinkender Sterblichkeit wuchs die Bevölkerung hauptsächlich dank hohen Geburtenüberschüssen; der Anteil der nichtaargauischen Bevölkerung betrug 1850 erst 5,1% (Landesmittel 9,6%). Das Wachstum wurde einzig im Hungerjahr 1816-1817 unterbrochen. Im 19. Jahrhundert war die Siedlungsdichte im früh industrialisierten südwestlichen Aargau am höchsten, doch gab es keine eigentlichen Ballungsgebiete. Noch 1888 wohnten in den zwölf mittelalterlichen Kleinstädten nur 15% der Gesamtbevölkerung.

Bei schlechter Konjunktur und im Anschluss an einige Fehljahre schlug die Entwicklung nach 1850 um. 1850-1888 war Aargau der einzige Kanton mit rückläufiger Bevölkerungszahl. 1860 hatte ihn die Waadt wieder überholt, 1880 auch St. Gallen. In einer Auswanderungswelle, der zweiten nach 1817, suchten 1851-1855, von Staat und Gemeinden materiell unterstützt, 8019 Aargauer oder rund 4% der Gesamtbevölkerung eine neue Heimat in Übersee (davon gut 80% in den USA). In einer dritten Auswanderungswelle im Zeichen der Weltwirtschaftskrise ab 1873 wurden 1880-1885 wiederum 5305 Überseeauswanderer registriert. Stärker ins Gewicht fiel aber die nun einsetzende Abwanderung (v.a. aus den ländlichen Gegenden im Jura und im Süden) in die aufstrebenden Industriezentren der Schweiz (v.a. Zürich und Basel) sowie in andere Länder Europas.

Bis zum Ersten Weltkrieg nahm die Bevölkerung, trotz meist leicht negativer Wanderungssaldi, wieder zu, vor allem in den industrialisierten Gegenden des unteren Mittellandes. Ein Schwerpunkt begann sich um Baden zu bilden, wo der Aufschwung der 1891 gegründeten Firma Brown Boveri (BBC) eine starke Zuwanderung aus anderen Kantonen auslöste. Zwischen 1890 und 1910 schloss der Bezirk Baden bezüglich Bevölkerungsdichte zu den westaargauischen Bezirken auf. Absolut ist er seit 1910 der mit Abstand bevölkerungsreichste Bezirk des Kantons. Der Bevölkerungsanteil der nichtaargauischen Schweizer stieg von 1888 bis 1950 kontinuierlich von 8% auf 31%; der Ausländerbestand erreichte um 1910 einen vorläufigen Höchststand von 18'235 Personen oder 8% der Gesamtbevölkerung (52% Deutsche, 37% Italiener). In der Zwischenkriegszeit blieb die Wachstumskurve in schwieriger konjunktureller Lage flach. Analog zur nationalen Entwicklung glitt der Ausländeranteil bis 1941 auf knapp 3% zurück.

Die Hochkonjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg löste im verkehrsgünstig gelegenen Aargau einen starken Wachstumsschub aus. Seit 1960 rangiert der Aargau unter den Kantonen bevölkerungsmässig wieder an vierter Stelle. Die Einwohnerzahl wuchs 1950-1990 jährlich um durchschnittlich 1,3%, hauptsächlich bedingt durch Zuwanderung. Nur in der Rezession 1975-1976 war eine leichte Abnahme zu verzeichnen. Der Zustrom ausländischer Arbeitskräfte in die aargauische Industrie und Bauwirtschaft war 1950-1970 überdurchschnittlich, der Ausländeranteil stieg 1941-1970 von 3% auf 18%. Nach der rezessionsbedingten Abwanderung der Ausländer in den Jahren 1975-1978 stieg deren Zahl kontinuierlich wieder und überschritt 1996 die Marke von 100'000 (19%). Davon stammten 28% aus Italien (1974 noch 57%), 32% aus Ex-Jugoslawien und rund 10% aus der Türkei. In allen Bezirken nahm die Bevölkerung zu. Einen überproportionalen Anstieg verzeichnete bis 1970 vor allem der Bezirk Baden, zurückzuführen auf das weitere Wachstum der BBC und die zunehmende Anbindung an die Grossagglomeration Zürich.

In den grenznahen Einzugsgebieten von Zürich und Basel, entlang der Autobahnen (z.B. Spreitenbach) und seit den 1980er Jahren verstärkt auch dezentral, etwa in den Bezirken Laufenburg und Muri, bildeten sich grossflächige Neubauquartiere. Obwohl zwischen 1955 und 1990 11% der Kantonsfläche (ca. 15'000 ha Kulturland) überbaut worden sind, ist der Aargau ein Kanton der Klein- und Mittelstädte geblieben. Die seit 1955 grösste Gemeinde des Kantons, Wettingen (vorher Aarau), zählte 1990 nur 17'706 Einwohner. Seit 1930 gelten Aarau und Baden, seit 1980 auch Brugg und Zofingen und seit 1990 zudem Lenzburg als Agglomerationen. 14 aargauische Gemeinden gehören zur Agglomeration Zürich, fünf zur Agglomeration Basel.

Bevölkerungsentwicklung des Kantons Aargau 1798-1990

ZeitraumEinwohneraGesamtzunahmebGeburtenüberschussbWanderungssaldobAusländeranteilaAltersstruktur: Anteil >59a
1798-1836/37125'66910‰    
1836/37-1850182'7557‰9‰-2‰  
1850-1860199'852-3‰5‰-8‰1,4% 
1860-1870194'2082‰7‰-5‰1,5%8.6%
1870-1880198'718c0‰7‰-7‰1,8%9,3%
1880-1888198'357c-3‰5‰-8‰2,6%10,2%
1888-1900193'5805‰8‰-3‰2,8%11,5%
1900-1910206'49811‰10‰1‰4,9%11,0%
1910-1920230'6344‰8‰-4‰7,9%9,7%
1920-1930240'7768‰9‰-1‰5,5%9,3%
1930-1941259'6444‰7‰-3‰5,2%10,1%
1941-1950270'46312‰11‰1‰2,8%12,0%
1950-1960300'78218‰11‰7‰3,6%12,4%
1960-1970360'94018‰12‰6‰10,9%13,1%
1970-1980433'2845‰6‰-1‰18,5%14,1%
1980-1990453'44211‰5‰6‰14,8%15,6%
1990507'508   17,1%16,8%

a zu Beginn der Berechnungsperiode

b mittlere jährl. Zuwachsrate

c ortsanwesende Bevölkerung

Bevölkerungsentwicklung des Kantons Aargau 1798-1990 -  Bundesamt für Statistik; Historische Statistik der Schweiz

Wirtschaft

Um 1800 war die protoindustrielle Tätigkeit im ehemaligen Berner Aargau (Baumwollspinnerei und -weberei) und in den Freien Ämtern (Strohflechterei) am weitesten entwickelt. In der ehemaligen Grafschaft Baden und im Fricktal gab es neben vereinzelter Heimarbeit für Zürcher und Basler Verleger keine Industrie. Um 1830 entstand zwischen Baden und Brugg ein weiterer industrieller Schwerpunkt, als Limmat und Reuss zur Energiegewinnung für Spinnereien genutzt wurden. 1870 betrug der Beschäftigtenanteil im 2. Sektor 42%. Die Grosse Depression der 1870er Jahre wurde im aargauischen Mittelland überlagert durch lokale Finanz- und Wirtschaftskrisen (Baden, Lenzburg, Zofingen), ausgelöst 1878 durch den Konkurs der Nationalbahn. Der industrielle Ausbau stagnierte. Die Gründung der BBC und zahlreicher weiterer Firmen markiert in den 1890er Jahren den Beginn einer zweiten Industrialisierungsphase, während der die Metall- und Maschinenindustrie die Textilindustrie überflügelte. Zögerlich wurden nun auch die noch stark agrarischen Gebiete des Fricktals und der Freien Ämter erfasst. Doch die aargauische Industrie entwickelte sich hauptsächlich entlang der Verkehrsachsen, die sowohl für Neugründungen (Feldschlösschen an der Bözbergbahn 1876) als auch Auslagerungen (Möbel Pfister an der Zürich-Bern-Strasse in Suhr 1939, verschiedene Lagerhäuser an der Autobahn, Rangierbahnhof Limmattal 1978) attraktiv waren. Im Rahmen dieses industriellen Weiterausbaus wuchs der Anteil der Industriebeschäftigten bis 1960 auf hohe 64%. Die Tertiarisierung erfolgte erst mit dem Strukturwandel der 1970er und 1980er Jahre, während die Landwirtschaft seit dem 19. Jahrhundert fast linear Beschäftigte einbüsste.

Baden und die Fabriken Brown, Boveri & Cie. um 1925, von Ennetbaden aus gesehen (Historisches Archiv ABB Schweiz, Baden).
Baden und die Fabriken Brown, Boveri & Cie. um 1925, von Ennetbaden aus gesehen (Historisches Archiv ABB Schweiz, Baden). […]

Landwirtschaft

Ende des 18. Jahrhunderts war der Anbauzyklus der mittelalterlichen Dreizelgenwirtschaft bereits in allen aargauischen Regionen durchbrochen, die Brache zumeist angebaut und teilweise auch die Allmende aufgeteilt. Am weitesten fortgeschritten war der Wechsel zur individuellen Bewirtschaftung im ehemaligen Berner Aargau. Die vollständige Öffnung der Zelgen fand ihren Abschluss erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Weiterhin dominierte der Getreidebau. Drei Viertel der Bevölkerung waren Kleinbauern oder Kleinhandwerker mit wenig oder gar keinem eigenen Land; ihr Hauptnahrungsmittel war die seit etwa 1740 angepflanzte Kartoffel. Die in der Verfassung von 1803 vorgesehene freiwillige Ablösung der Zehnten zog sich bis 1850 hin, jene der Bodenzinsen gar bis 1880. Oft wurden die am Boden haftenden Lasten in Grundpfandschulden umgewandelt. Der individualisierte Grundbesitz war stark verschuldet, zudem durch Erbteilung und Zelgeneinteilung zersplittert.

Die Konkurrenz billigen ausländischen Getreides leitete ab 1850 einen Wechsel vom Getreidebau zur Milchwirtschaft und zum Futterbau ein, der sich nach 1870 beschleunigte. 1850-1886 versiebenfachte sich der Viehbestand; der Kanton förderte die Zucht mit Prämien. Zahlreiche Käserei- und Milchgenossenschaften wurden gegründet. Der Strukturwandel zog sich bis in die Zwischenkriegszeit hin. 1888-1934 verringerte sich die Getreidefläche zugunsten der Wiesen um 45%. Viele Kleinbauern konnten sich indes die Umstellung auf Milchwirtschaft nicht leisten. Sie wandten sich einer Beschäftigung in der Industrie zu, behielten aber eine Kuh und etwas Land zur Selbstversorgung (sogenannte Rucksackbauern). So reduzierte sich 1905-1939 der Anteil der Kleinstbetriebe unter 3 ha am Total aller Betriebe von 52% auf 39%, absolut von 10'665 auf 6350. Im Gefolge des Strukturwandels erreichte der vor allem an den Jurasüdhängen heimische Rebbau um 1880 mit 2700 ha Anbaufläche (2% des Kulturlands) einen Höchststand (fünftgrösster Rebbau-Kanton). Als kurz nach 1900 die Reblaus auch den Aargau heimsuchte, schrumpfte das Weinbauareal bis 1935 auf 330 ha zusammen. Nach einem Tiefststand um 1965 (212 ha) erhöhte sich die Rebfläche bis 1995 wieder auf knapp 400 ha.

Um 1900 setzte mit Mähmaschinen und Heuwendern die Mechanisierung der Landwirtschaft ein. Sie beschleunigte sich nach 1945, was weitere Arbeitskräfte freisetzte. 1900 stellten die Bauern, erstmals an Zahl von den Industriebeschäftigten übertroffen, 36% der Erwerbstätigen, 1941 noch 21%, 1990 noch 3%. Die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe nahm von 18'777 im Jahr 1939 (zwei Drittel hauptberuflich geführt) auf 6845 im Jahr 1990 ab (die Hälfte hauptberuflich geführt). Das durchschnittliche Betriebsareal stieg von 4,5 auf 9,5 ha. Im gleichen Zeitraum wurde das Ackerland auf Kosten der Naturwiesen fast verdoppelt. Der Getreidebau errang gegenüber dem Futterbau wieder einen höheren Stellenwert, während der Rindviehbestand sich nur noch wenig erhöhte. 1990 war die Fläche des offenen Ackerlands wieder grösser als 1850 oder während des Zweiten Weltkriegs (Anbauschlacht). Ab den 1950er Jahren verbreiteten sich Zuckerrüben und Mais als neue Produkte. Die gesamte Betriebsfläche verringerte sich um rund 20%, was einem Zehntel des Kantonsgebiets entspricht. Im Verhältnis zu seiner Fläche verlor der Aargau durchschnittlich zweimal mehr Kulturland als die anderen Kantone, vor allem wegen der flächenintensiven Verkehrs- und Logistikbauten im Mittelland.

Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fördert der Kanton das landwirtschaftliche Bildungswesen – direkt und über Beiträge an die 1838 gegründete Aargauische Landwirtschaftliche Gesellschaft – und die Bodenverbesserung. Der Zersplitterung des Parzellbesitzes suchte man seit 1872 mit Güterregulierungen entgegenzuwirken. Neue Flurwegsysteme und die Beseitigung von Obstbäumen, Hecken und Bächen, vor allem zwischen 1960 und 1980, als das Meliorationswesen kulminierte, machten die Landschaft maschinengerecht. Rund 150 Bauernbetriebe siedelten in dieser Zeit aus den Dörfern aus, unter anderem in den seit 1964 gebauten, normierten und staatlich subventionierten "Aargauer Siedlungstyp".

Industrie, Handwerk und Gewerbe

Die Handwerksordnung von 1806, welche die Ausübung der handwerklichen Berufe regelte und Reste des Zunftzwangs enthielt, wurde nach und nach entschärft und 1860 endgültig aufgehoben. 1857 gab es ca. 10'000 gelernte Handwerker. Die meisten arbeiteten in Kleinstbetrieben und für den Bedarf ihrer Umgebung. Sie gründeten lokale Handwerks- und Gewerbevereine (1837 Zofingen, 1845 Aarau), die der Hebung der Berufsbildung, der Erleichterung der Kreditbeschaffung und auch der Geselligkeit dienten, und 1894 als Dachorganisation den Aargauischen Gewerbeverband. Die Baumwollspinnerei wurde bis 1840 mechanisiert und in Fabriken zusammengefasst. Die erste mechanische Spinnerei errichtete Johannes Herzog 1810 in Aarau. Ab 1825 wagten sich kapitalkräftige Zürcher Spinnereiunternehmer an die Nutzbarmachung der Limmat und der Reuss (Bebié in Turgi, Heinrich Kunz in Windisch). Qualifizierte Arbeitskräfte holten sie im Zürcher Oberland und in den Bezirken Kulm und Lenzburg, Hilfskräfte in agrarischen Gemeinden umliegender Bezirke und in Südbaden. Mit weiteren, ebenfalls von Zürcher Unternehmern gegründeten Spinnereien in Baden (1835) und Wettingen (1857) bildete sich im Osten eine neue Industrieregion. Die Textilindustrie beschäftigte 1857 in 191 Unternehmungen 10'600 von total 11'500 Fabrikarbeitern sowie über 40'000 Heimarbeiter und erarbeitete rund 90% der aargauischen Industrieproduktion. Die mitgezählte personalintensive Strohindustrie, die fast einzige Industrie im unteren Freiamt, hatte die Baumwollindustrie bezüglich der Beschäftigtenzahl überholt. Sie ergänzte von etwa 1830 an das einheimische Roggenstroh durch gefärbtes Stroh, importierte Weizenhalme und andere Materialien wie Rosshaar, Bast, Hanf und wandelte sich damit zur Geflechtindustrie.

Die allmähliche Mechanisierung der Baumwollweberei sowie der Seiden- und Geflechtindustrie und die wachsende internationale Konkurrenz bewirkten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen starken Rückgang der Betriebe und der Beschäftigten in der Textilindustrie (1900 noch rund 13'000 Beschäftigte). Neue Industrien absorbierten die von ihr und von der Landwirtschaft freigesetzten Arbeitskräfte und erschlossen neue Regionen: ab 1838 die Tabakindustrie zuerst das obere Wynen-, dann das Seetal, ab etwa 1860 die metallverarbeitende Industrie vor allem das Limmat- und Reusstal und ab 1864 dezentral die Schuhindustrie vor allem mit Filialen der Firma Bally. Das ab 1847 entstehende Eisenbahnnetz erleichterte zwar die Transporte der Industrie, wurde aber erst allmählich zu einem wichtigen Standortfaktor. Vorerst war wegen der mechanischen Krafterzeugung die Flussnähe entscheidend. Dampfkraft wurde nur vereinzelt eingesetzt. Erst die Elektrizität ermöglichte die bahnnahe Standortwahl abseits vom Fluss. Davon profitierte vor allem die Metall- und die erst ab den 1890er Jahren Fuss fassende Maschinenindustrie (Baden, Brugg, Aarau; zusammen 1900 rund 3400 Beschäftigte). Weitere für den Aargau typische Industrien, die sich vor 1900 entwickelten, sind die Salzausbeutung (ab 1844) und die Bierbrauerei im Raum Rheinfelden, die Zementindustrie mit einer ersten Fabrik 1832 in Aarau und vier grossen, 1883-1913 eröffneten Werken in Aarau, Wildegg, Holderbank und Siggenthal-Würenlingen, die Konservenindustrie in Lenzburg (Hero, gegründet 1886), die Holz- und Möbelindustrie, die nach 1900 vor allem im unteren Aaretal expandierte, ab 1890 die Elektrizitätswirtschaft, die im Aargau bis 1945 rund 15 mittlere und grössere Wasserkraftwerke erstellte und sich teils im Kanton niederliess, wie zum Beispiel 1895 die AG Motor, Baden (1923 zur Motor-Columbus fusioniert), 1914 die NOK (Baden) und ab 1897 die Aluminiumindustrie im Wynental.

Der Aufschwung der Metall-, Maschinen- und Apparateindustrie (u.a. Kern), die in den 1920er Jahren die Textilindustrie an der Spitze der Branchen ablöste, brachte dem Aargau nach 1900 einen weiteren Industrialisierungsschub. Waren um 1900 noch zehn Kantone stärker industrialisiert gewesen, lag der Aargau 1930 hinter Glarus und Solothurn an dritter Stelle. Bis in die 1890er Jahre arbeiteten zu mehr als 50% Frauen für die aargauische Industrie. Da die nun führende Branche hauptsächlich Männer beschäftigte, verminderte sich der Anteil der weiblichen Erwerbstätigen spürbar. Das starke Wachstum der BBC, die 1945, nunmehr grösster privater Arbeitgeber der Schweiz, 15'000 Mitarbeiter zählte, verlagerte den industriellen Schwerpunkt weiter in den Bezirk Baden. Die Wirtschaftskrisen zu Beginn der 1920er und in den 1930er Jahren führten zu vorübergehender Arbeitslosigkeit (1936 4,6%, Landesmittel über 6%) und zur Aufgabe vieler Betriebe (v.a. der Textilindustrie).

Nach 1945 setzte dank Hochkonjunktur und Zustrom ausländischer Arbeitskräfte ein starker Kapazitätsausbau der Industrie und des Baugewerbes ein. Die Elektrizitätswirtschaft baute ihr Engagement im Aargau aus. Aare und Rhein als Kühlwasserlieferanten zogen Nuklearanlagen an (1955 Forschungsinstitut in Würenlingen, 1969-1971 AKW Beznau, 1984 AKW Leibstadt; der Bau eines weiteren AKW in Kaiseraugst wurde nach anhaltendem Widerstand 1988 fallengelassen). Ausserkantonale Firmen verlagerten ihre Standorte an die 1966-1980 und 1996 eröffneten aargauischen Autobahnstrecken, so die Basler Chemie seit 1956 ins Fricktal.

Die nationalen Bestrebungen zur Begrenzung der Ausländerzahl und die rezessiven Phasen von 1974-1976 und 1982 sowie nach 1989 brachten einen starken Strukturwandel in Gang. Die Geflechtindustrie hatte schon in den 1960er Jahren Nordamerika als letzten grossen Markt verloren und verschwand völlig. Die Textilindustrie mit letztem Schwerpunkt im Bezirk Zofingen sank zur Nebenbranche herab. Der Wandel erfasste auch grosse Firmen der dominierenden Metall-, Maschinen- und Elektrobranche, die 1995 27% der Erwerbstätigen im 2. Sektor beschäftigte: 1986 begann der Konzernumbau bei Sprecher + Schuh, 1987 fusionierten BBC und Asea zur Asea Brown Boveri (ABB), 1991 schloss die Firma Kern. Als Folge erhielt das im Aargau typischerweise grosse Segment der Klein- und Mittelbetriebe ab Ende der 1980er Jahre noch mehr Gewicht. Der Anteil der Arbeitslosen blieb seit 1975 geringfügig unter dem schweizerischen Durchschnitt.

Dienstleistungen

Der 3. Sektor beschäftigte 1870 9% aller Berufstätigen. Dieser Anteil stieg regelmässig an, blieb aber stets unter dem Landesmittel. Er lag 1980 noch bei 44% und übertraf erst danach (1990 55%, 1995 59%) im Zuge der Tertiarisierung den Anteil des 2. Sektors. Heute haben neben dem Handel (1995 18% aller Erwerbstätigen) die öffentliche Verwaltung, das Unterrichts- und das Gesundheits- und Sozialwesen den grössten Anteil.

Familienbad in Baden. Aquatinta von Franz Hegi, Anfang 19. Jahrhundert (Staatsarchiv Aargau, Aarau, Grafische Sammlung, GS/00166-1).
Familienbad in Baden. Aquatinta von Franz Hegi, Anfang 19. Jahrhundert (Staatsarchiv Aargau, Aarau, Grafische Sammlung, GS/00166-1).

Der Tourismus spielte, abgesehen von den alten Heilbädern in Baden, Schinznach-Bad und Rheinfelden sowie seit 1955 in Zurzach, eine bescheidene Rolle. Neben den vielen seit 1812 entstandenen lokalen Sparkassen gründeten Gewerbe, Handel und Industrie 1849-1872 eine Reihe von Geschäftsbanken, darunter 1854 die gemischtwirtschaftliche Aargauische Bank (1913 als Aargauische Kantonalbank reines Staatsinstitut). Grossbanken fassten erst spät Fuss: die SBG 1919 durch Übernahme der Aargauischen Creditanstalt in Aarau, die 1915 ihrerseits die Bank in Baden übernommen hatte, die SVB 1920 durch Errichtung einer Niederlassung in Brugg, der SBV 1935 durch Teilübernahme der 1863 gegründeten Bank in Zofingen. Mit der Zahl der Banken pro Kopf lag der Aargau über Jahrzehnte an der Spitze aller Kantone. Ein starker Konzentrationsprozess vollzog sich 1989-1995, als aus drei unabhängigen aargauischen Banken und den aargauischen Filialen der SVB die Neue Aargauer Bank als Tochter der SKA entstand. Das Versicherungswesen kennt keine einheimischen privaten Gesellschaften neben den kantonalen Instituten (1805 Gebäudeversicherung, 1910 Kantonale Unfallversicherungskasse). Von Bedeutung war im zentral gelegenen Aargau stets das Verkehrswesen, das seit 1960 durch die Ansiedlung von Verteil- und Einkaufszentren (Spreitenbach u.a.) in Autobahnnähe neuen Auftrieb erfuhr.

Gasthäuser und Bäder St. Verena in Baden, Mitte des 19. Jahrhunderts (Staatsarchiv Aargau, Aarau, Grafische Sammlung, GS/00148-1).
Gasthäuser und Bäder St. Verena in Baden, Mitte des 19. Jahrhunderts (Staatsarchiv Aargau, Aarau, Grafische Sammlung, GS/00148-1). […]

Gesellschaft

Der Grundsatz der Rechtsgleichheit gilt seit 1798 bzw. 1803. Er liess sich unter günstigen Voraussetzungen vollziehen, da die Nachkommen von Inhabern alter Gerichtsherrschaften wenig Gewicht hatten. Die Kleinstädte und Marktorte verloren zwar ihre Privilegien, konnten aber als politisch-administrative, wirtschaftliche und kulturelle Zentren eine Vorzugsstellung wahren. Die Männerklöster, die über umfangreichen Besitz und erheblichen Einfluss verfügten, wurden 1841 aufgehoben.

Die Konfessionen durchmischten sich vor allem durch die mit der Industrialisierung verbundenen Wanderungen. 1860 zählte Aarau 18% Katholiken, Baden 25% Reformierte. 1841 fiel der Zensus weg, der seit 1803 das passive und teilweise das aktive Wahlrecht auf Vermögende beschränkt hatte. Dennoch war um die Mitte des 19. Jahrhunderts oft die Rede von Spannungen zwischen "Herren" und "Volk", wobei mit den "Herren" sowohl die Leute von Bildung und Besitz als auch "Aarau" und die politische Führung gemeint sein konnten. Die Eingliederung von Randgruppen, die noch um 1840 einige tausend Menschen umfassten, zog sich über mehrere Jahrzehnte hin. Die Heimatlosen, Landsassen und ewigen Einsassen wurden 1847 eingebürgert, die Juden auf Druck des Bundes bis 1877 den übrigen Schweizerbürgern gleichgestellt.

Die aargauische Gesellschaft trug bis ins frühe 20. Jahrhundert ein ländliches, kleinbäuerliches und kleinbürgerliches Gepräge. Nur wenige Handelsleute und Industrielle gelangten zu Reichtum und pflegten einen grossbürgerlichen Lebensstil. Grossgrundbesitz gab es nicht. Die Grundeigentümer waren zahlreich (1850 33'770). Im 18. wie im 19. Jahrhundert besassen nur ca. 20-30% der Bauern genug Land, um sich ganz von der Landwirtschaft ernähren zu können. Die Angehörigen der ländlichen Unterschicht waren auf einen Zusatzverdienst aus handwerklicher und heimindustrieller Lohnarbeit angewiesen. Bei wachsendem Bevölkerungsdruck, einem konjunkturellen Einbruch in der Industrie und schlechten Ernten schritt die Verarmung um 1850 rasch voran. 1830 wurden 9705 Personen aus öffentlichen Mitteln unterstützt, 1855 aber 25'017 (13% der Bevölkerung). Bis 1860 ging diese Zahl auf die Hälfte zurück; dann blieb sie bis 1950 auf gut 10'000 stehen. Noch 1871 war ein Viertel der männlichen Erwachsenen wegen Armengenössigkeit, Konkurs usw. nicht stimmberechtigt. Viele wanderten aus; die Fabrikindustrie und der 3. Sektor konnten die in Landwirtschaft und Heimindustrie verloren gegangenen Arbeitsplätze erst von 1900 an einigermassen ersetzen. Die dezentrale Struktur der Fabrikindustrie besonders im südwestlichen Aargau trug dazu bei, dass die kleinbäuerlich-industrielle Gesellschaftsstruktur weit ins 20. Jahrhundert hinein erhalten blieb und eine Proletarisierung ausblieb. Der "Rucksackbauer" war noch um 1950 eine häufige Erscheinung.

Im 19. Jahrhundert entwickelte sich allmählich ein lokales Vereinswesen. Gilden, Bruderschaften usw. bestanden an manchen Orten von alters her. Schützenvereine hatten in den Städten teilweise seit dem Spätmittelalter Tradition, auf dem Land wurden sie zumeist im 19. Jahrhundert gegründet. Das Turnen wurde um 1820 durch deutsche Immigranten populär gemacht. In den folgenden Jahrzehnten entstanden zahlreiche lokale Turn-, Gesangs- und Musikvereine. Schützen (1824), Turner (1832) und Sänger (1842) gaben sich ihre gesamtschweizerische Organisation in Aarau. Im 20. Jahrhundert differenzierte sich das Vereinswesen (z.B. Landfrauen-, Samariter-, dramatische und andere Vereine; Sektionenbildung in Turnvereinen). Bis zum Zweiten Weltkrieg blühten sozialdemokratische und katholische Vereine. Danach standen immer mehr Vereine jedermann ohne Rücksicht auf Herkunft, Konfession und soziale Stellung offen und bildeten einen wichtigen gesellschaftlichen Integrationsfaktor.

Die Frauen, nach Brauch und bis 1971 auch nach dem Gesetz den Männern gegenüber benachteiligt, waren seit je in die landwirtschaftliche, gewerbliche und industrielle Arbeitswelt integriert. 1885 stellten sie 56% aller Arbeitskräfte in den Fabriken. Während die Gemeindeschulen den Mädchen von Anfang an offen standen, erhielten sie zu den Bezirksschulen 1865, zur Kantonsschule 1896 Zugang. Akademikerinnen waren seit Ende des 19. Jahrhunderts im Kanton tätig; ihre Zahl blieb jedoch bis 1950 gering. 1990 betrug der Frauenanteil unter den Mittelschülern und Lehrlingen zwischen 40% und 50%.

Die Gesellschaft der Nachkriegszeit war geprägt von steigendem Wohlstand breiter Kreise. 1950 kam ein Personenwagen auf 37 Einwohner, 1997 einer auf zwei. Das Kleinbauerntum verschwand, mit der Tertiarisierung auch die eigentliche Arbeiterschaft. Die zuwandernden Ausländer wurden sozial und anfänglich auch räumlich ausgegrenzt. Wegen akuter Wohnungsnot wohnten viele bis in die 1960er Jahre, im Baugewerbe weit darüber hinaus, in Barackenlagern. Sie bildeten eigene Vereine. Viele der früh Zugewanderten assimilierten sich und bürgerten sich ein, sofern sie nach 1975 nicht in ihr Heimatland zurückgingen. Die Mehrzahl der seit etwa 1980 eingewanderten Ausländer, vor allem vom Balkan und aus der Türkei, gehört zur Unterschicht.

Die Vermischung der Konfessionen beschleunigte sich in den verkehrsgünstigen Regionen, vor allem an der Grenze zum Kanton Zürich und im unteren Fricktal. Mit steigender Mobilität ist die Bindung an den Wohnort schwächer geworden. Die Zahl der Nichtaargauer, der Pendler und Grenzgänger wie der Zu- und Wegzüger hat stark zugenommen. Die Sozialstruktur vieler Gemeinden hat sich dadurch verändert.

Kulturelles und religiöses Leben

Seit 1803 waren Bestrebungen im Gange, eine gesamtaargauische Kultur zu schaffen. Kulturpolitik meinte im 19. Jahrhundert vor allem Kirchen- und Schulpolitik. Der Staat besass zwar verschiedene Sammlungen, doch war die Pflege von Künsten und Wissenschaften privater Tätigkeit überlassen. Eine hervorragende Rolle spielten dabei Geistliche und Lehrer sowie die 1811 von Heinrich Zschokke und seinen Freunden gegründete "Gesellschaft für vaterländische Kultur" (Kulturgesellschaft). Ihr hat der Aargau den wohl ironisch gemeinten Namen "Kulturkanton" zu verdanken. Aus ihr sind zahlreiche Vereinigungen und Einrichtungen mit wissenschaftlicher und kultureller, aber auch ökonomischer, erzieherischer und fürsorgerischer Zielsetzung hervorgegangen. Öffentliche Bibliotheken und Lesegesellschaften sowie kulturelle Vereine, die es in manchen Städten bereits gab, entstanden in diesem Umfeld auch auf dem Land.

Die von unterschiedlichen Traditionen geprägten und auf verschiedene auswärtige Zentren ausgerichteten Regionen des Kantons haben ihre kulturelle Eigenständigkeit besonders gut wahren können. Altes Brauchtum ist vielerorts erhalten geblieben und teils zwecks Identitätsstiftung wiederbelebt oder neu geschaffen worden, zum Beispiel zu Beginn der 1950er Jahre das Winzerfest Döttingen oder um 1964 die Cordulafeier in Baden. Vor allem in den westaargauischen Städten werden die im 19. Jahrhundert geschaffenen, zum Teil auf älteren Traditionen basierenden Jugendfeste in traditioneller Form gefeiert. "Chilbi" (Kirchweih) und Fasnacht haben sich in den katholischen Gebieten bis heute gehalten, Prozessionen und Wallfahrten verschwanden vielerorts im Zug der gesellschaftlichen Säkularisierung. Neueren Datums sind zahlreiche Vereins-, Dorf- und Stadtfeste.

Seit 1950 sind zur Kulturförderung grössere Anstrengungen unternommen worden. Wichtige Impulse gab dazu die 1952 gegründete Kulturstiftung Pro Argovia, eine der Trägerinnen des seit 1960 existierenden "Stapferhauses" auf Schloss Lenzburg, einer Begegnungsstätte mit nationaler Ausstrahlung. Mit dem Kurtheater Baden erhielt der Kanton 1952 sein erstes Schauspielhaus. Seit 1961 fassten mehrere Volkshochschulen Fuss im Aargau, viele Gemeinden unterhalten ein Ortsmuseum, professionell geführte Stadtmuseen gibt es in Aarau und Baden. Staatliche Sammlungen befinden sich im Kunsthaus Aarau (seit 1959) und auf Schloss Lenzburg (seit 1956). Der auf wirtschaftlicher Prosperität und zunehmender Mobilität gründende kulturelle Aufbruch kulminierte 1968 im aargauischen Kulturgesetz. Es ermöglicht dem Staat, Kulturschaffende und kulturelle Institutionen mit bis zu 1% seiner Steuereinnahmen zu unterstützen. Damit können auch professionelle Ensembles auf hohem Niveau (Aargauer Oper, Aargauer Symphonie-Orchester usw.) unterhalten werden. In den 1970er Jahren blühten Klein- und Kellertheater, 1972-1980 das Folkfestival Lenzburg als erstes Open-Air-Konzert der Schweiz, in den 1980er und 1990er Jahren die Alternativkultur, die sich in Altliegenschaften einrichtete.

Die beiden Staatskirchen, besonders aber die reformierte Kirche, pflegten offiziell eine aufgeklärt-liberale Religiosität. Anhänger pietistischer und fundamentalistischer Strömungen sind bis heute besonders im südwestlichen Aargau recht zahlreich, haben sich indes nie gegen die Staatskirche aufgelehnt. Ein 1865 gegründeter "Evangelischer Verein" mit eigenen Seelsorgern nennt sich heute "Landeskirchliche Minoritätsgemeinde". Im 20. Jahrhundert wirkte unter anderem das Denken Karl Barths, der sein bahnbrechendes Werk "Der Römerbrief" als Pfarrer von Safenwil schrieb, auf den Aargau ein. Der Kampf der Liberalen für die Einschränkung von katholischen Festen und Feiertagen sowie gegen die Praktiken der Volksreligion zeitigte einige Ergebnisse. Die antirömische Kirchenpolitik, die in den Badener Artikeln von 1834, der Klösteraufhebung von 1841 und dem Kulturkampf der 1870er Jahre gipfelte, wurde jedoch von der grossen Mehrheit der Geistlichen und des Volkes abgelehnt und mit der Gründung von Gegenorganisationen (katholische Vereine, Piusvereine usw.) beantwortet. Der 1874 gegründeten und 1876 vom Aargau anerkannten alt- oder christkatholischen Kirche, mit welcher die Idee einer romfreien Nationalkirche realisiert werden sollte, traten einige tausend Katholiken bei, hauptsächlich in liberalen Kreisen der Städte und im josephinistisch geprägten Bezirk Rheinfelden. In der Folge entkrampfte sich das Verhältnis zwischen Staat und Kirche. In der Verfassung von 1885 wurde den drei staatlich anerkannten Konfessionen zugestanden, ihre Angelegenheiten durch selbstgewählte Organe (Synoden) zu regeln. Bis 1906 wurde das Kirchengut aus dem Staatsgut ausgeschieden. Seit 1927 sind die drei Kirchen als Landeskirchen mit öffentlich-rechtlichem Charakter statuiert. Bis gegen 1960 grenzten sich Reformierte und Katholiken deutlich gegeneinander ab. Im Zeichen der Ökumene wie infolge der fortschreitenden Durchmischung der Bevölkerung hat sich der Geist der Zusammenarbeit Bahn gebrochen. 1990 bildeten die Moslems mit 16'218 Angehörigen die drittgrösste Religionsgemeinschaft.

In die religiösen Angelegenheiten der korporativ organisierten Judengemeinden in Endingen und Lengnau mischte sich der Staat nicht ein. Sie besassen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in beiden Gemeinden Synagogen. 1850 wurden im Aargau gut 1500 Einwohner jüdischen Glaubens gezählt. Mit der Emanzipation wanderten die meisten aus dem Surbtal ab, näher zu ihrer Handelskundschaft oder in die wirtschaftlich aufstrebenden Städte. Die Judenkorporationen von Endingen und Lengnau wurden 1877 in jüdische Ortsbürgergemeinden umgewandelt und 1983 in die Ortsbürgergemeinde integriert.

Quellen und Literatur

  • StAAG (auch Bestände der früheren Organisationseinheiten, insbes. der Landvogtei Baden mit Tagsatzungsakten)
  • Archiv der Kant. Denkmalpflege, Aarau
  • Archiv der Kantonsarchäologie, Brugg
  • KBAG
  • W. Merz, Repertorium des Aarg. Staatsarchivs, 2 Bde., 1935
  • W. Merz et al., Inventare der aarg. Stadtarchive, 2 Bde., 1917-37
  • Verhandlungen des Gr. Rates 1830-, (mit Unterbrüchen)
  • Rechenschaftsber. des Kl. Rathes bzw. Regierungsrates, 1837-
  • F.X. Bronner, Der Kt. Aargau, hist., geogr., statist. geschildert, 2 Bde., 1844
  • SSRQ AG
  • Aargauer Urk., 15 Bde., 1930-66
  • 150 Jahre Kt. Aargau im Lichte der Zahlen 1803-1953, 1954
  • Zurlaubiana AH
  • Statist. Jb. des Kt. Aargau, 1986-
Historiografische Entwicklung
  • Der Kt. Aargau verfügt seit 1978 über eine ausführliche, stark ereignis- und politikgeschichtliche Darstellung seiner Geschichte zwischen 1803 und 1953. Mit Ausnahme der breitenwirksam angelegten Kantonsgeschichte von 1903 (Zschokke) und 1991 hat sich die kantonal orientierte Historiografie bisher kaum mit der Geschichte vor 1798 befasst. Regionale und lokale Einzelstudien zu dieser Zeit existieren zwar, aber nichts Zusammenhängendes und Vergleichendes. Im Vergleich zu den umliegenden Hochschul-Kantonen fanden neue Ansätze und Methoden in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur vereinzelt Eingang. Obwohl in diesem Zeitraum viele Gemeinden Ortsgeschichten publizierten (oft zwar in Form wenig anspruchsvoller "Dorfchroniken") und die Historische Gesellschaft des Kantons Aargau seit 1860 mit mehreren Reihen (v.a. Argovia) auftritt, ist der Aargau diesbezüglich ein forschungsarmer Raum.
Allgemeines
  • Argovia, 1860-
  • Kdm AG, 1-, 1948-
  • Lebensbilder aus dem Aargau 1803-1953, 1953
  • BLAG
  • «Aarg. Bibl.», in Argovia 85-, 1973-, (mit Lücke 1989-92)
  • GeschAG
  • Beitr. zur Aargauergesch., 1978-, (bis 1998 9 Bde. publiziert)
  • M. Schibli et al., Aargau, Heimatkunde für jedermann, 1978 (41983)
  • S. Bircher, Politik und Volkswirtschaft des Aargaus, 1979
  • P. Felder, H. Weber, Der Aargau im Spiegel seiner Kulturdenkmäler, 1987
  • Die Aargauer Gem., 1990
  • C. Seiler, A. Steigmeier, Gesch. des Aargaus, 1991
  • Lokale und regionale Themen sind in diversen regionalen hisorischen Jahrbüchern und städtischen Neujahrsblättern behandelt.
Urzeit bis Frühmittelalter
  • Zur vorrömischen Zeit existiert keine Monografie. Aufsätze zu einzelnen Epochen und Themen vor allem in: Argovia, ArS, ASA, JbSGUF und US.
  • Romanen und Alemannen, 1981
  • M. Hartmann, H. Weber, Die Römer im Aargau, 1985
  • M. Hartmann, Vindonissa, 1986
  • W. Drack, R. Fellmann, Die Römer in der Schweiz, 1988
  • B. Zehnder, Die Gemeindenamen des Kt. Aargau, 1991
  • A. Bickel, Zofingen von der Urzeit bis ins MA, 1992
  • SPM
Hochmittelalter bis 1798: Herrschaft, Politik und Verfassung
  • H. Kreis, Die Grafschaft Baden im 18. Jh., 1909
  • K. Schib, «Hochgericht und Niedergericht in den bischöfl.-konstanz. Gerichtsherrschaften Kaiserstuhl und Klingnau», in Argovia 43, 1931, 1-79
  • K. Strebel, «Die Verwaltung der Freien Ämter im 18. Jh.», in Argovia 52, 1940, 107-236
  • E. Bucher, «Die bern. Landvogteien im Aargau», in Argovia 56, 1944, 1-191
  • W. Graf, Die Selbstverwaltung der fricktal. Gem. im 18. Jh., 1965
  • Vorderösterreich, eine gesch. Landeskunde, hg. von F. Metz, 1967
  • J.J. Siegrist, «Die Landvogtei in Freien Ämtern bis 1712», in SSRQ AG II/8, 23-53
  • J.J. Siegrist, «Die Entstehung der gemeineidg. Vogtei Freie Ämter», in Unsere Heimat 51, 1979, 5-30
  • H. Schuler-Alder, Reichsprivilegien und Reichsdienste der eidg. Orte unter Kg. Sigmund 1410-1437, 1985
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  • O. Mittler, Kirche und Klöster, 1930
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  • M. Baumann, Stilli, 1977 (21996)
  • G. Boner, «Gesammelte Beitr. zur aarg. Gesch.», in Argovia 91, 1979, 5-450
  • P. Hoegger, «Klosterkultur im Aargau», in UKdm 31, 1980, 173-195
  • W. Pfister, Aargauer in fremden Kriegsdiensten, 2 Bde., 1980-84
  • M. Baumann, Gesch. von Windisch, 1983
  • W. Pfister, «Die ref. Pfarrer im Aargau seit der Reformation 1528-1985», in Argovia 97, 1985, 5-269
  • R.U. Kaufmann, Jüd. und christl. Viehhändler in der Schweiz 1780-1930, 1988
  • M. Baumann, «Die bern. Herrschaft aus der Sicht der Untertanen», in Argovia 103, 1991, 113-123
  • B. Meier, Herren ― Bürger ― Untertanen, 1991
  • M. Baumann, «Fischer am Hochrhein», in Argovia 105, 1993, 1-202
  • W. Pfister, Die Gefangenen und Hingerichteten im bern. Aargau, 1993
  • B. Meier, D. Sauerländer, Das Surbtal im SpätMA, 1995
  • A. Kottmann, M. Hämmerle, Die Zisterzienserabtei Wettingen, 1996
19.-20. Jahrhundert
  • Diese Periode ist vor allem durch die Kantonsgeschichten von 1978 bzw. 1991 abgedeckt. Über die darin enthaltenen Bibliografie hinaus ist wenig Regionales und Kantonales erschienen:
  • D. Kuhn et al., Strohzeiten, 1991, (zur Strohindustrie)
  • Revolution im Aargau, hg. von B. Meier et al., 1997, (zur Helvetik)
  • A. Müller, Gesch. der polit. Presse im Aargau, 2 Bde., 1998-2001
Weblinks
Normdateien
GND

Zitiervorschlag

Andreas Steigmeier; Elisabeth Bleuer; Martin Hartmann; Werner Meyer; Dominik Sauerländer; Heinrich Staehelin: "Aargau", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 06.02.2018. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007392/2018-02-06/, konsultiert am 16.03.2024.