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GenfKanton

Wappen des Kantons und der Republik Genf, Version von 1918
Wappen des Kantons und der Republik Genf, Version von 1918 […]

Kanton der Eidgenossenschaft seit 1815. Amtlicher Name: Republik und Kanton Genf, 1534-1798 Seigneurie (Herrschaft) und Republik Genf (oft auch kurz Seigneurie genannt). Das Gebiet des heutigen Kantons (2005 45 Gemeinden) umfasst einen Teil des ehemaligen Fürstbistums Genf (die Stadt und ihre Umgebung, die Mandements genannten bischöflichen Herrschaften Jussy und Peney), die Güter des Priorats Saint-Victor und des Domkapitels und seit 1815 und 1816 die Communes réunies, die von Frankreich und Piemont-Sardinien dem neuen Kanton abgetreten wurden. 1798-1813 gehörte Genf zum französischen Departement Léman. Amtssprache ist Französisch, Hauptort ist die Stadt Genf. Französisch Genève, italienisch Ginevra, romanisch Genevra.

Wappen des Kantons Genf, Version von 1984
Wappen des Kantons Genf, Version von 1984 […]
Oro- und hydrografische Karte des Kantons Genf mit den wichtigsten Ortschaften
Oro- und hydrografische Karte des Kantons Genf mit den wichtigsten Ortschaften […]

Der Kanton Genf liegt am südwestlichen Ende des Genfersees in dem von der Rhone und der Arve durchflossenen Becken, das sich zwischen dem Jura im Norden, dem See sowie dem Höhenzug Les Voirons im Osten, dem Bergrücken des Salève im Süden und dem Mont Vuache sowie der Talenge von Fort de l'Ecluse im Westen ausdehnt. Der Verlauf der Kantonsgrenze folgt aber nicht den natürlichen Gegebenheiten, sondern ist in erster Linie historisch bedingt. Als Grenzkanton besitzt Genf eine 103 km lange gemeinsame Grenze mit Frankreich (Departement Ain und Haute-Savoie), während diejenige zum Kanton Waadt bloss 4,5 km misst. Das Kantonsgebiet ist mit 282 km2 sehr klein und zählt überwiegend zur Agglomeration der Grossstadt.

Struktur der Bodennutzung im Kanton Genf

Fläche (1992)282,2 km2 
Wald / bestockte Fläche38,8 km213,8%
Landwirtschaftliche Nutzfläche117,2 km241,5%
Siedlungsfläche85,3 km230,2%
Unproduktive Fläche40,9 km214,5%
 Struktur der Bodennutzung im Kanton Genf -  Arealstatistik der Schweiz

Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur des Kantons Genf

Jahr 18501880a1900195019702000
Einwohner 64 14699 712132 609202 918331 599413 673
Anteil an Gesamtbevölkerung der Schweiz2,7%3,5%4,0%4,3%5,3%5,7%
Sprache       
Französisch  86 414109 741157 372216 775313 485
Deutsch  11 50013 34327 57536 22616 259
Italienisch  2 1997 34510 75936 27415 191
Rätoromanisch  5089218304229
Andere  1 4322 0916 99442 02068 509
Religion, Konfession       
Protestantisch 34 21248 35962 400102 625125 76972 138
Katholischb 29 76451 55767 16285 856177 067163 197
Christkatholisch    1 298876610
Andere 1701 6793 04713 13927 887177 728
davon jüdischen Glaubens 1706621 1192 8974 3214 356
davon islamischen Glaubens     1 43617 762
davon ohne Zugehörigkeitc     11 37093 634
Nationalität       
Schweizer 49 00463 68879 965167 726219 780256 179
Ausländer 15 14236 02452 64435 192111 819157 494
Jahr  19051939196519952001
Beschäftigte im Kanton1. Sektor 8 9017 4772 9363 157d2 968d
 2. Sektor 26 44432 42459 30541 01039 261
 3. Sektor 22 31430 20383 088181 503196 763
Jahr  19651975198519952001
Anteil am Schweiz. Volkseinkommen 6,4%6,7%7,4%6,3%6,2%

a Einwohner, Nationalität: Wohnbevölkerung; Sprache, Religion: ortsanwesende Bevölkerung

b 1880 und 1900 einschliesslich der Christkatholiken; ab 1950 römisch-katholisch

c zu keiner Konfession oder religiösen Gruppe gehörig

d gemäss landwirtschaftlichen Betriebszählungen 1996 und 2000

Bevölkerungs- und Wirtschaftsstruktur des Kantons Genf -  Historische Statistik der Schweiz; eidgenössische Volkszählungen; Bundesamt für Statistik

Von der Ur- und Frühgeschichte bis zum Frühmittelalter

Ur- und Frühgeschichte

Wie die ganze Schweiz unterlag das Gebiet des Kantons Genf in der Urgeschichte den Einflüssen der Vergletscherung, die während des grössten Teils des Jungpaläolithikums (Paläolithikum) eine menschliche Siedlungstätigkeit verunmöglichten und auch so gut wie alle älteren Zeugnisse menschlicher Aktivität ausgelöscht haben dürften. Die 1833 gemachten Funde aus dem Magdalénien in dem heute in französischem Gebiet liegenden Veyrier (Etrembières) stellen die ältesten Zeugnisse für die Anwesenheit von Jägern (Jagd) in der Region Genf dar. Die Fundorte liegen auf einem breiten Felsrücken, der inzwischen durch die Steinbrüche am Fuss des Salève weitgehend zerstört worden ist. Das Gebiet war mit Felsbrocken übersät, die sich bei Bergstürzen gelöst hatten. Diese Blöcke boten günstige Unterstände für die ersten Temporärsiedlungen von Rentierjägern, die sich hier um 13'000 v.Chr. niederliessen. Die Veyrier-Gruppe der späten Magdalénienkultur ist berühmt wegen ihrer Speerspitzen aus Rentierknochen, ihrer Tierdarstellungen und ihrer Steinwerkzeuge.

Für die folgenden Jahrtausende fehlen archäologische Funde im Kanton. Erst mit der Besiedlung von Saint-Gervais (Gemeinde Genf) um 4000 v.Chr. erscheinen die ersten archäologischen Spuren einer Gemeinschaft von Ackerbauern und Viehzüchtern (Ackerbau, Viehwirtschaft), die wohl Kontakte mit ihren südlichen Nachbarn im Tal der Rhone pflegten.

Ab Beginn des 4. Jahrtausends v.Chr. geben die zahlreichen nachgewiesenen Seeufersiedlungen eine klare Vorstellung von der Besiedlung der Uferregion, während bis heute keine Überreste von Siedlungen oder Begräbnisstätten im Landesinneren gefunden werden konnten. In Corsier-Port förderten archäologische Untersuchungen in einem dem mittleren Neolithikum zugeschriebenen Dorf eine gut erhaltene archäologische Schicht zu Tage, welche dendrochronologisch auf 3856 v.Chr. datiert ist. Die Auswertung der Funde ergibt das Bild einer Siedlung von Ackerbauern, die Weizen (Emmer, Einkorn), Gerste und Hirse anbauten, Rindvieh, Schweine, Schafe und Ziegen züchteten sowie der Jagd, dem Fischfang und dem Sammeln von Pflanzen (Sammelwirtschaft) nachgingen – die Lebensweise der Bewohner von Corsier dürfte demnach der in der mittleren Cortaillodkultur gepflegten weitgehend entsprochen haben.

Das jüngere Neolithikum lässt sich schwerer erfassen, da diese Periode hauptsächlich durch Funde von aus Silex oder Grüngestein (Serpentinit) gefertigten Gegenständen bezeugt wird. Solche Werkzeuge wurden in mehreren Seeufersiedlungen gefunden, so etwa in Anières, wo man unter anderem auf mehrere aus dem frühen 3. Jahrtausend v.Chr. datierende Pfähle stiess. Die kulturellen Einflüsse gingen damals eher vom französischen Jura, dem Isèretal und dem unteren Rhonetal aus.

Auf Siedlungen oder andere menschliche Aktivitäten während der frühen Bronzezeit weisen Funde an verschiedenen Orten hin, die allerdings bis heute noch nicht genauer datiert sind. Eine nochmalige Blüte erlebt die Seeufersiedlung während der Spätbronzezeit; dieser Siedlungstypus erreicht zwischen dem 11. und dem 9. Jahrhundert seine weiteste Verbreitung, wobei viele der damals angelegten Uferdörfer an Stellen entstanden, die schon früher besiedelt und dann später verlassen worden waren. Von der Bevölkerungsdichte während der Spätbronzezeit zeugt die Fülle des archäologischen Materials, das im 19. Jahrhundert gefunden wurde und heute in Museen aufbewahrt wird. Ein aus der gleichen Zeit stammendes, weiter landeinwärts stehendes Gebäude im Parc de La Grange in Genf belegt, dass damals neben den unmittelbaren Uferzonen auch Gebiete im Landesinneren besiedelt wurden. Die Seeufersiedlungen wurden im 9. Jahrhundert endgültig aufgegeben; als jüngste gilt heute jene von Collonge-Bellerive, deren Bauholz (Pfosten usw.) von um 880 v.Chr. geschlagenen Bäumen stammt.

Ausserhalb des heutigen Stadtgebiets, auf dem sich das Oppidum Genua befand, sind die frühgeschichtlichen Spuren spärlich. Nur die Entdeckung einer auf 800-600 v.Chr. datierten Schanze in Verbindung mit einem Grabhügel deutet auf die Existenz eines in den Wäldern von Versoix angelegten Refugiums hin. Auch die im Dorfzentrum von Vandœuvres gefundene Herdstelle, die auf 550-400 v.Chr. datiert wird, zeugt von der Anwesenheit des Menschen. Ferner sind einige Grabbeigaben aus der frühen und mittleren Latènezeit in Corsier, Meyrin oder Chêne-Bourg zu erwähnen, welche die keltische Kultur (Kelten) repräsentieren. Aus dieser gingen die Stämme der Helvetier und Allobroger hervor, die das Genfer Gebiet bewohnten, als dieses dem Römischen Reich angegliedert wurde.

Die gallorömische Epoche

Um 122-121 v.Chr. wurde das linke Rhoneufer der römischen Provinz Gallia Transalpina (Gallia) einverleibt, die unter Augustus die Bezeichnung Gallia Narbonensis erhielt. Die Rhone markierte von nun an die Grenze zwischen den unter römischer Herrschaft stehenden Allobrogern und dem sich nördlich des Genferseebogens herausbildenden Territorium der Helvetier. Der Hügel, auf dem die Kathedrale Saint-Pierre steht, birgt die frühesten Hinweise auf die Gegenwart des Menschen und entspricht in etwa der Lage des Oppidums Genua.

Die Besiedlung der Genfer Landschaft ist zwar schwer abzuschätzen, doch scheint sie, geht man von den an verschiedenen Orten beidseits der Rhone gefundenen Keramikgegenständen aus der späten Latènezeit aus, ziemlich dicht gewesen zu sein. An manchen Orten weisen nur einige Gefässfragmente auf die Anwesenheit des Menschen hin. Dagegen zeugen in Vandœuvres, Meinier und im Parc de La Grange zahlreiche Hohlstrukturen (Gruben, Pfostenlöcher, Gräben) von Bauten aus Holz und Erde und einer rudimentären räumlichen Organisation. Gräber aus dieser Zeit sind selten, eine Nekropole wurde nicht gefunden.

58 v.Chr. kam Gaius Iulius Caesar mit seinen Legionen nach Genf, wo er die Brücke über die Rhone abreissen liess und das linke Flussufer befestigte. Neue Forschungen konnten allerdings keine Spuren einer solchen Verteidigungsanlage entlang der Rhone nachweisen. Auch archäologische Untersuchungen im Stadtzentrum förderten keine weiteren Hinweise auf diese Episode zu Tage. Genf war damals ein Vicus, der immer noch zur Gallia Transalpina gehörte und ab 31 v.Chr. von der Kolonie von Vienne (Colonia Iulia Vienna) abhängig war. Das rechte Rhoneufer unterstand der Herrschaft der neuen Kolonie von Nyon, der zwischen 46 und 44 v.Chr. von Caesar oder einem seiner Befehlshaber gegründeten Colonia Iulia Equestris.

Von der Herrschaft des Tiberius (14-37 n.Chr.) an trägt die Architektur der in der Stadt wie auch auf dem Lande errichteten Gebäude römische Züge (Romanisierung). Die antike Stadt war damals von grossen Gutshöfen umgeben, und der Baustil der grossen gemauerten Villenanlagen, etwa im Parc de La Grange oder in Vandœuvres, orientierte sich an mediterranen Vorbildern und deren architektonischem Programm. Diese Gutsbetriebe flankierten die Wege, die vom städtischen Zentrum aus in Richtung Nyon, Thonon, Annecy, Vienne oder sogar Lyon verliefen, um nur die wichtigsten Verkehrsadern zu nennen. Die Ballung von ländlichen Anwesen in der Gegend von Genf ist wohl auf die Anziehungskraft der Stadt und deren Umland zurückzuführen, die von ihrer privilegierten Lage an einer Handelsachse zwischen Nordeuropa und dem Mittelmeerraum profitierten. Ein Aquädukt, von dem ein Abschnitt in der Gemeinde Thônex gefunden wurde, versorgte die Stadt mit Wasser.

Die ersten beiden Jahrhunderte unserer Zeitrechnung stellen eine relativ stabile Epoche dar, was auch im regelmässigen Unterhalt der früher errichteten Bauwerke seinen Ausdruck fand. Das 3. Jahrhundert war geprägt durch politische und soziale Wirren und durch die Einfälle der Alemannen ins Schweizer Mittelland; erst in dessen letzten Jahrzehnten waren die Bedingungen für ein Wiederaufblühen der Region günstig. Der Vicus Genf wurde – wohl im letzten Drittel des 3. Jahrhunderts – in den Rang einer Stadt (civitas Genavensium) erhoben und erlangte dadurch einen privilegierten Status im von Diokletian umgestalteten römischen Reich (Tetrarchie). In den folgenden Jahrhunderten erfuhren verschiedene grosse Gutshöfe – zum Beispiel diejenigen im Parc de La Grange und in Vandœuvres – einschneidende Veränderungen. Landwirtschaftliche Betriebe wurden nun auch in grösserer Entfernung der Stadt gegründet. Die spätantike Villa in Satigny und die Anlage eines Gutes in vorher nicht genutztem Gebiet in Sézegnin belegen, dass im 4. Jahrhundert neue Gebiete urbar gemacht wurden.

Vom späten 4. Jahrhundert an drückte das Christentum der Stadt seinen Stempel auf (Christianisierung). Die Stadt stieg – vielleicht als Folge guter politischer Beziehungen – zum Bischofssitz auf. Sie sei damals, so die Ansicht einiger Autoren, einer riesigen Diözese vorangestellt worden, die nicht nur das Gebiet der alten Kolonie in Nyon, sondern auch dasjenige der Helvetier (Bistum Genf) umfasste. Diese Verwaltungseinheit könnte der Sapaudia entsprechen, in der sich die Burgunder 443 ansiedelten.

Frühmittelalter

443 wurde Genf die erste Hauptstadt des Burgunderreichs. Diese Statusaufwertung hatte beträchtliche Änderungen am institutionellen und architektonischen Gefüge der Stadt zur Folge, die sich unter anderem in einem imposanten Bauprogramm im Zentrum der Bischofsstadt niederschlugen. Die Auswertung der Nekropolen ergab allerdings keine Hinweise auf einen nennenswerten Bevölkerungszuzug oder eine demografische Umschichtung. Einzig einige absichtlich deformierte Schädel – die sogenannten Turmschädel – könnten als Beleg neuer, vielleicht von den Burgundern oder anderen Zuwanderern mitgebrachter Bräuche interpretiert werden.

Frühmittelalterliche Siedlungsspuren in den Gutshöfen aus der frühen Kaiserzeit belegen deren Weiter- oder Wiedernutzung, wobei im ländlichen Siedlungswesen allmählich der in alten heimischen Traditionen wurzelnde Holzpfostenbau die gemauerte Architektur ersetzt. Die archäologischen Spuren, die solche Gebäude hinterlassen (z.B. Pfostenlöcher, Bodenverfärbungen), sind nur schwer auszumachen und nicht leicht zu interpretieren; da bis heute nur wenige Befunde gesichert sind, lassen sich die frühmittelalterlichen Sieldungsstrukturen nur sehr ungenau rekonstruieren. Besser ist infolge der vielen Bauuntersuchungen der Wissensstand über die ländlichen Kirchen im Kantonsgebiet. Obwohl in vielen Kirchen (z.B. Commugny und Satigny) auch Ausgrabungen durchgeführt wurden, ist nur in Vandœuvres und Saint-Julien-en-Genevois (Grenzgemeinde in Hochsavoyen) eine Bauphase bzw. ein erster christlicher Sakralbau aus dem 5. Jahrhundert nachgewiesen.

Spätrömische Nekropole in Sézegnin (Gemeinde Avusy), die bis ins 7. Jahrhundert für Bestattungen genutzt wurde. Fotografie von Jean Baptiste Sevette, 1976 (Service cantonal d'archéologie Genève).
Spätrömische Nekropole in Sézegnin (Gemeinde Avusy), die bis ins 7. Jahrhundert für Bestattungen genutzt wurde. Fotografie von Jean Baptiste Sevette, 1976 (Service cantonal d'archéologie Genève).

Von 534 bis Ende des 9. Jahrhunderts unterstand Genf fränkischer Herrschaft, zunächst derjenigen der Merowinger, dann jener der Karolinger (Frankenreich). Da schriftliche Quellen aus dieser Zeit äusserst selten sind, beruhen unsere Kenntnisse vorwiegend auf archäologischen Zeugnissen. Die fränkische Eroberung zog wie die Ansiedlung der Burgunder keine massenhafte Zuwanderung auf Genfer Gebiet nach sich; in den untersuchten Grabstätten wurden nur wenige Gegenstände gefunden, die für die fränkische Kultur charakteristisch sind. Einzig der Brauch, die Toten in Molasse-Plattengräbern zu bestatten, könnte eine fränkische Neuerung darstellen. Die Bevölkerung blieb, wie die Belegung des Gräberfelds von Sézegnin in der Genfer Landschaft zeigt, jedenfalls bis ins 8. Jahrhundert konstant.

Mehrere neu gegründete Friedhofskirchen illustrieren die Fortschritte der Christianisierung ab dem 6. Jahrhundert. Obwohl noch nicht von einer Pfarreiorganisation gesprochen werden kann, zeugen die Kultstätten vom Willen der Menschen, sich in religiösen Zentren zu versammeln, die eng mit den christlichen Bestattungsbräuchen verbunden waren. Erst mit der zweiten Welle des Kirchenbaus im 9. und 10. Jahrhundert entstand das mittelalterliche Pfarreinetz, das – weitgehend unverändert – die ländliche Region bis heute prägt (Pfarrei). Zerstreut in der Landschaft liegende Gräberfelder wurden aufgegeben; man begrub seine Toten jetzt auf Friedhöfen bei den Kirchen, um die herum sich auch die Dörfer entwickelten. Aus den Siedlungen (Einzelhofsiedlung) entlang der Verkehrsachsen bildeten sich die unzähligen Weiler, die für das Genfer Gebiet so typisch sind.

888 wurde Genf dem Zweiten Königreich Burgund einverleibt, nachdem das von Karl dem Grossen fast ein Jahrhundert zuvor gegründete Reich auseinandergefallen war. Der letzte Burgunderkönig starb 1032 und vermachte seine Besitzungen Konrad II., dem Kaiser des Heiligen Römischen Reichs. Da der Kaiser, aus der Ferne regierend, seine Autorität nur ausnahmsweise geltend machte, stritten sich die lokalen Edlen um die Macht: der Bischof verteidigte seine Herrschaft über die Stadt, weltliche Herren behaupteten sich auf dem Lande. Ab dem 11. Jahrhundert setzte sich das Geschlecht der Grafen von Genf in diesen Auseinandersetzungen durch, in deren Verlauf die ersten mittelalterlichen Festungen in Form von Erdburgen an den strategisch wichtigen Orten errichtet wurden.

Politische Geschichte vom Mittelalter bis zum Ende des 18. Jahrhunderts

Die mittelalterlichen Herrschaften

Aus den im 11. Jahrhundert einsetzenden schriftlichen Quellen geht hervor, dass die Dörfer in der Region verschiedenen Herren gehörten. Die bedeutendsten waren die Grafen von Genf, die Herren von Gex, die Freiherren de Faucigny, die Grafen von Maurienne-Savoyen und der Bischof von Genf, das Domkapitel von Saint-Pierre sowie einige Klöster, insbesondere das Cluniazenserpriorat Saint-Victor.

Die Mandements

Dem Bischof, der Herr der Stadt Genf und ihrer Vorstädte war, unterstanden ab dem 12. Jahrhundert auch Güter, die bald als Mandements bezeichnet wurden und von denen zwei, nämlich Peney und Jussy, im heutigen Kantonsgebiet, und das dritte, Thiez (oder das Gebiet von Sallaz, östlich von Annemasse), im heutigen französischen Departement Haute-Savoie lagen. Einige dieser Güter hatten zuvor verschiedenen Klöstern gehört (Saint-Jean, Priorat von Satigny, Abtei von Nantua) und wurden ursprünglich von Vizedomini verwaltet. Der Bischof Aymo von Grandson reorganisierte das bischöfliche Mensalgut und liess die Burgen von Thiez, Peney und Jussy bauen. Diese wurden Kastlanen anvertraut, die sowohl für deren Verteidigung als auch für die Verwaltung der Kastlanei verantwortlich waren.

Die Güter des Priorats Saint-Victor und des Domkapitels

Dank bedeutender Schenkungen der Könige von Burgund, der Bischöfe und der Grafen von Genf wurde das Priorat Saint-Victor eine der reichsten Herrschaften des Genfer Beckens. Zwischen 1260 und 1304 erkannten die Grafen dem Priorat sämtliche Herrschaftsrechte (mit Ausnahme der Durchführung der Hinrichtungen) über 20 Dörfer zwischen Mont-de-Sion, Arve, Rhone und Salève zu. Das Priorat hatte auch das Patronat über 35 Pfarrkirchen der Genfer Diözese inne. Ein weiterer wichtiger Lehnsherr war das Domkapitel. 1295 bekräftigte ihm der Graf von Genf die Herrschaft über 24 Dörfer im Chablais, Genevois und Pays de Gex (ausgenommen die Durchführung der Exekutionen). Das Kapitel besass zudem das Patronatsrecht über 34 Pfarrkirchen und das Personat (Recht auf Abschöpfung des Ertrags) über rund 50 Pfarreien. Im Lauf des 15. Jahrhunderts höhlte der Herzog von Savoyen als Rechtsnachfolger der Grafen von Genf die Rechte dieser beiden Institutionen allmählich aus, indem er Steuern erhob und sich das Begnadigungsrecht und die Hochgerichtsbarkeit aneignete.

Die Stellung der Einwohner in der Landschaft

Als Untertanen des Bischofs, des Domkapitels oder des Priorats Saint-Victor besassen die Bewohner der Landschaft nicht dieselben Rechte, wie sie den Stadtbewohnern im Freiheitsbrief von 1387 zugestanden worden waren. Die 1469 von Bischof Johann Ludwig von Savoyen erlassene Polizeiordnung für die Bewohner der Mandements kann man wohl nicht als Freiheiten (franchises) bezeichnen; deren kommunale Einrichtungen wurden auf einige Pfarreibruderschaften reduziert. Im Gebiet des Priorats Saint-Victor galt das Gewohnheitsrecht (Coutumes) der Grafschaft Genf. Ab Mitte des 14. Jahrhunderts bestanden jedoch in einigen Dörfern des Priorats Saint-Victor Gemeindeorganisationen der Dorfgenossen (Genossenschaften). Diese definierten sich vor allem über gemeinsame Frondienste, die sie auf dem Herrschaftshof (Eigenwirtschaft) im Austausch gegen Wald, Weide (Trattrecht) oder Eichelmast (Acherum) zu leisten hatten. Der Status der Bauern wurde in Lehnsregistern oder Urbaren festgehalten: Es gab Leibeigene (hommes-liges, Leibeigenschaft) und Freie, die zur Abgabe von Grundzinsen verpflichtet waren, und Freie ohne Grundzinspflicht. In den bischöflichen Territorien wurden die militärischen Pflichten der einen wie der anderen präzise festgeschrieben. So musste im Mandement Peney jeder Haushalt auf Geheiss des Kastlans einen als client bezeichneten Mann mit militärischer Ausrüstung stellen; die Kosten für Ritte innerhalb der Kastlanei musste er selber tragen, während Ritte ausserhalb der Kastlanei zu Lasten des Bischofs gingen. Die Bewohner der Dörfer hatten eine Wache zum Schutz der Burg und des Fleckens zu stellen. In Jussy waren nur diejenigen, welche die Telle zu leisten hatten, zu Befestigungsarbeiten verpflichtet; diese bestanden hauptsächlich im Errichten von Palisaden vor den Gräben (Befestigungen).

In den Dörfern, die dem Domkapitel oder dem Priorat Saint-Victor unterstanden, waren die gerichtsherrlichen Rechte zwischen dem geistlichen Grundherrn und dem Grafen von Genf aufgeteilt: Während die geistlichen Herren die Gerichtsbarkeit inne hatten einschliesslich des Rechts, Todesurteile oder Körperstrafen zu verhängen, musste aus kanonischen Gründen ein weltlicher Machthaber, der Graf von Genf, die Todesurteile vollstrecken, was ihm in der Praxis das Begnadigungsrecht eintrug. Letzteres wandelte sich in der Folge zum Recht auf Ausübung der Appellationsgerichtsbarkeit. Diese Situation überdauerte die Reformation und die Säkularisation der Güter dieser Herrschaften zu Gunsten der Stadt Genf, die in diesen sehr zerstückelten Gebieten nur die Niedergerichtsbarkeit ausübte, während sich die Stadt Bern bis 1564/1567 und dann der Herzog von Savoyen die Hoch- und Appellationsgerichtsbarkeit sicherten.

Erste Seite eines Urbars des Domkapitels Saint-Pierre, 1497 (Archives d'Etat de Genève, Titres et droits Ca 33).
Erste Seite eines Urbars des Domkapitels Saint-Pierre, 1497 (Archives d'Etat de Genève, Titres et droits Ca 33). […]

Auch die militärische Lage dieser Dörfer gab Anlass zu Auseinandersetzungen. So wurde 1295 und 1336 in zwei Verträgen zwischen dem Grafen von Genf und dem Kapitel der Begriff der «gemeinsamen Verteidigung des Vaterlandes» festgeschrieben: Obwohl die Hoch- und Niedergerichtsbarkeit über die Dörfer in der Hand des Domkapitels lagen, war der Graf berechtigt, hier Männer zur Verteidigung seiner Burgen innerhalb der Grafschaft auszuheben, wenn diese von einem seiner adligen Gegenspieler belagert wurden. Dagegen hatte der Prior von Saint-Victor in den Dörfern des Priorats aufgrund eines 1302 zwischen dem Prior und dem Grafen geschlossenen Vertrags das Recht, Reitertruppen zur Verteidigung seiner Güter auszuheben.

Das Ende der bischöflichen Herrschaft

Nach Abschluss des Burgrechts mit Bern und Freiburg von 1526, durch das sich die Genfer Stadtbürger allmählich vom Bischof emanzipierten, besonders aber nach dem Löffelkrieg 1530 (Löffelbund) und der mit Hilfe bernischer Truppen erfolgten Befreiung der durch Anhänger des Bischofs und des Herzogs von Savoyen belagerten Stadt im Januar und Februar 1536 gingen die Dörfer in der Umgebung Genfs in den Besitz der Stadt über. Die Republik (bzw. Seigneurie) von Genf trat die Nachfolge des Bischofs Pierre de La Baume an, der die Stadt verliess, noch bevor der Rat die Reformation angenommen hatte. Die Seigneurie schuf in den ehemaligen bischöflichen Mandements Kastlaneien, ebenso in Gaillard, das bisher im Besitz des Herzogs von Savoyen gewesen war, und in den zuvor dem Priorat Saint-Victor und dem Domkapitel unterstellten Dörfern. Überall führte sie die Reformation ein, nicht ohne auf erheblichen politischen und religiösen Widerstand Berns zu stossen, das sich einen Teil der Besitzungen Karls III. von Savoyen einverleibt hatte.

Die Republik (1536-1798)

Umstrittene Gebiete (1536-1603)

Im Frühling 1536 war das heutige Kantonsgebiet aufgeteilt zwischen der Seigneurie Genf und Bern, welches das Pays de Gex und einen kleinen Teil des Genevois erobert hatte und vergeblich die Anerkennung seiner Oberhoheit über die Stadt Genf zu erlangen suchte. Dagegen musste Genf den Bernern das Mandement Gaillard und die Herrschaft Bellerive abtreten, indem es am 7. August 1536 ein sogenanntes ewiges Abkommen unterzeichnete und das Burgrecht von 1526 erneuerte. Die Beziehungen zwischen Genf und Bern blieben angespannt, da sich die beiden Städte um die Rechte auf die Güter des Priorats Saint-Victor und des Domkapitels stritten. Ein erster Vertrag, der 1539 geschlossen wurde und für Genf sehr ungünstig war, rief eine schwere innere Krise hervor (Articulans). Die Angelegenheit wurde 1544 im Abschied von Basel geregelt, der Genf die Nutzungsrechte und die niedere Gerichtsbarkeit in diesen Gebieten bestätigte. Schon 1538 hatte Bern Le Petit-Saconnex und einige Gebiete an Genf abgetreten, die diesem ermöglichten, die Vorstadt auf dem rechten Seeufer und auf der Seite von Cologny und Chêne (Chêne-Bougeries, Chêne-Bourg) zu erweitern. Diese Vororte und die Vorstadt Saint-Gervais, die einzige, die 1530 nicht aus Sicherheitserwägungen geschleift worden war, bildeten zusammen die sogenannten Freigüter (Franchises). 1539 musste Genf zugunsten Frankreichs auf das Mandement Thiez verzichten; Frankreich gab das Gebiet den Nemours, einem jüngeren Zweig der Grafen von Savoyen, zurück. Das Territorium der Seigneurie umfasste von da an (und bis zu den Verträgen von 1749 und 1754) die Stadt, die Freigüter, die Mandements sowie Rechte an den ehemaligen Gütern des Priorats Saint-Victor und des Domkapitels.

Abmarsch der Zürcher Truppen, die 1586 zur Verteidigung Genfs entsandt wurden. Aquarellierte Federzeichnung aus der 24-bändigen Handschriftensammlung des Chorherrn Johann Jakob Wick (Zentralbibliothek Zürich, Handschriftenabteilung, Wickiana, Ms. F 34, Fol. 239r).
Abmarsch der Zürcher Truppen, die 1586 zur Verteidigung Genfs entsandt wurden. Aquarellierte Federzeichnung aus der 24-bändigen Handschriftensammlung des Chorherrn Johann Jakob Wick (Zentralbibliothek Zürich, Handschriftenabteilung, Wickiana, Ms. F 34, Fol. 239r). […]

Nachdem Herzog Karl III. von Savoyen 1536 von den Bernern und Frankreich gleichzeitig angegriffen worden war, verlor er fast alle seine Besitzungen. Erst 1559 mit dem Vertrag von Cateau-Cambrésis erreichte sein Sohn Emmanuel Philibert die Restitution eines Teils seines Herzogtums. Im Lausanner Vertrag 1564 gab Bern dem Herzog das Pays de Gex und die Dörfer des Genevois zurück, ein Vorgang, der 1567 in die Tat umgesetzt wurde. Zwar sah sich die Seigneurie Genf nun erneut vom Herzogtum Savoyen eingekreist, doch konzentrierte sich Emmanuel Philibert auf die Modernisierung seines Herzogtums und verzichtete darauf, Genf anzugreifen. 1570 erleichterte ein als Modus Vivendi bezeichnetes Abkommen den Handel zwischen Genf und den Gebieten des Herzogs. Um die Sicherheit Genfs zu gewährleisten, schloss Bern 1579 mit dem französischen König Heinrich III. und mit Solothurn ein Schutzbündnis (Vertrag von Solothurn) ab. Dagegen scheiterten mehrere Versuche der Genfer, Mitglied der Eidgenossenschaft zu werden. Denn Bern behielt sich lange das Recht vor, alleiniger Beschützer seines Verbündeten zu sein, und die katholischen Orte lehnten, nachdem sie sich mit dem Herzog von Savoyen und der spanischen Krone (Spanien) verbündet hatten, eine Aufnahme Genfs in den Bund strikt ab.

Der Amtsantritt Karl Emmanuel von Savoyens im Jahr 1580 bedeutete das Ende der Ruhe. Der neue Herzog war aus politischen wie aus religiösen Gründen entschlossen, Genf zurückzuerobern. 1582 schlug eine Belagerung fehl, und dieser Versuch verschaffte Genf 1584 einen neuen Verbündeten, nämlich Zürich. Damit wurde das Burgrecht mit Bern zu einer Dreierallianz erweitert. Karl Emmanuel entschloss sich daraufhin, zum Mittel der Blockade zu greifen. In ihrer Existenz bedroht, wagte die Seigneurie Genf den Krieg, nachdem ihr die Hilfe der durch die Daux-Verschwörung alarmierten Berner sowie Frankreichs zugesagt worden war. Nach einigen Anfangserfolgen der Berner und Genfer im April 1589 vermochte der Herzog die Situation zwar wieder zu seinen Gunsten zu wenden, wurde dann aber auf andere Kriegsschauplätze gerufen (Kriege der Liga in Frankreich). Genf, das bald tatkräftig von Frankreich unterstützt wurde, führte einen Kleinkrieg (z.B. 1590 Einnahme von Versoix), bis 1593 ein Waffenstillstand geschlossen wurde. Der französisch-savoyische Krieg, der im Kontext des Konflikts zwischen Frankreich und Spanien zu sehen ist, wurde 1601 mit dem Vertrag von Lyon beendet. Genf, welches das Pays de Gex 1590-1601 im Namen des französischen Königs besetzt und verwaltet hatte, gelang es nicht, sich dieses zu sichern. Der König von Spanien und der Papst wussten zu verhindern, dass das «Ketzernest» Genf ein Gebiet behielt, das sie zum Katholizismus zurückführen wollten. Nur die Dörfer Aire-la-Ville, Chancy und Avully erhielten 1604 den Status von Gütern des Priorats Saint-Victor (Genf hatte dort beschränkte Souveränitätsrechte inne).

Die Escalade (1602). Aquarellierte Federzeichnung eines unbekannten Künstlers, 17. Jahrhundert (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv).
Die Escalade (1602). Aquarellierte Federzeichnung eines unbekannten Künstlers, 17. Jahrhundert (Zentralbibliothek Zürich, Graphische Sammlung und Fotoarchiv). […]

Im Dezember 1602 lancierte Herzog Karl Emmanuel, der seine Pläne nicht aufgegeben hatte, einen Überraschungsangriff auf die Stadt, die Escalade. Das Unternehmen des Herzogs scheiterte kläglich, und im Frühling 1603 zogen die Genfer erneut ins Feld. Um einen neuen europäischen Krieg abzuwenden, setzte der Papst Karl Emmanuel unter Druck. Verhandlungen führten im Juli 1603 zum Vertrag von Saint-Julien (Frieden von Saint-Julien). Dieser brachte die faktische Anerkennung der Unabhängigkeit und Souveränität Genfs und stellte den Modus Vivendi von 1570 wieder her.

Ungeachtet dieser Abkommen blieben die Steuer- und Herrschaftsrechte verworren und die Genfer Besitzungen zersplittert, sodass die Genfer Exklaven in den französischen und savoyischen Gebieten ständig Gefahr liefen, von der Stadt, von der sie wirtschaftlich und rechtlich abhängig waren, abgeschnitten zu werden. Im 18. Jahrhundert brachte der Austausch von Gebieten und Gerichtsbarkeiten mit Frankreich und dem Königreich Sardinien, der Nachfolgerin des Herzogtums Savoyen, eine Verbesserung der Lage in den Mandements Peney (Pariser Vertrag vom 15. August 1749) und Jussy sowie in einem Teil der Champagne (Turiner Vertrag vom 30. Mai 1754). Aber erst nach dem Ende der französischen Herrschaft (1798-1814) erhielt Genf nach langen Verhandlungen zwischen den Alliierten und Frankreich am Wiener Kongress den territorialen Anschluss an die Eidgenossenschaft und ein geschlossenes Gebiet mit klar definierten Grenzen, auf dem es uneingeschränkte Souveränität genoss.

Politische und administrative Einrichtungen

Miniatur im Livre des Franchises (Sammlung von Freiheitsbriefen), 1451 (Archives d'Etat de Genève, Ms hist. 22).
Miniatur im Livre des Franchises (Sammlung von Freiheitsbriefen), 1451 (Archives d'Etat de Genève, Ms hist. 22). […]

Mit der Einführung der Reformation 1536 vollzog Genf eine sowohl politische als auch religiöse Revolution, indem es sich von der geistlichen und weltlichen Macht des Bischofs befreite und eine unabhängige und souveräne reformierte Republik wurde. Wie die anderen Gesetzestexte, die während der frühen Neuzeit in Kraft waren, bestätigten die 1543 eingeführten und 1568 revidierten Verordnungen über die Ämter und Beamten die bestehenden politischen Institutionen (Generalrat, Syndics, Rat der Sechzig – früher Rat der Fünfzig –, Kleiner Rat und Rat der Zweihundert bzw. Grosser Rat) und legten die Befugnisse der Beamten und ihren Wahlmodus fest. Diese Verordnungen waren wesentlich durch die Ideen Johannes Calvins bestimmt.

Das politische System Genfs im Ancien Régime
Das politische System Genfs im Ancien Régime […]

Da jedoch die Edikte von 1543 von vornherein die Kompetenzen des Generalrats zu Gunsten der beiden engeren Räte (Kleiner Rat und Rat der Zweihundert) beschränkten, begünstigten sie oligarchische Tendenzen (Aristokratisierung), die sich im Verlauf des Ancien Régime zusehends verstärkten: Auch wenn der Generalrat die vier Syndics, den Stadtrichter und seine Beisitzer sowie den Staatsanwalt wählte und sich zu jedem neuen Gesetz oder wichtigen Entscheid in letzter Instanz äusserte, so geschah dies doch immer auf Anregung des Kleinen Rats und des Rats der Zweihundert. Ausserdem verlor er ab 1570 jede Befugnis zur Erhöhung oder Einführung von Steuern als Notmassnahme in Krisensituationen.

Im Gerichtswesen büssten die örtlichen Gerichte, die Kastlaneien, immer mehr an Autonomie gegenüber dem Kleinen Rat ein, der schwere Vergehen aburteilte. Ab Mitte des 16. Jahrhunderts wurden die Landbewohner durch die Stadtbürger aus diesen Gerichten verdrängt. Einige wenige Lehnsherrschaften der Republik Genf hielten sich bis zur Revolution, so Châteauvieux und Confignon, Le Crest in Jussy (bis 1770) und Château des Bois (Turretin-Gut) in Satigny sowie Bessinge.

Verteilung der Kammern und Ämter 1752 (Archives d'Etat de Genève, RC 1752).
Verteilung der Kammern und Ämter 1752 (Archives d'Etat de Genève, RC 1752). […]

Nachdem im 17. Jahrhundert ein relativ ruhiges politisches Klima geherrscht hatte, gab es im 18. Jahrhundert mehrere Phasen politischer Wirren (Genfer Revolutionen). Sie veranlassten die Verburgrechteten und Verbündeten (Bern, Zürich, Frankreich und Piemont-Sardinien) zu vermittelnden Eingriffen und wurden durch die Verurteilung oder Verbannung zahlreicher Gegner der konservativen Regierung beendet. Von der Affäre um Pierre Fatio (1707) über die Wirren von 1734-1738 und die Affäre um Jean-Jacques Rousseau mit ihren Folgen (1762-1770) bis zur fehlgeschlagenen Revolution von 1782 bemühten sich vor allem die Vertreter der «Bourgeoisie» bzw. in der zweiten Jahrhunderthälfte die Représentants, eine Reform der Wahlen durchzusetzen (Geheimwahl, Beschränkung der Zahl von Mitgliedern aus derselben Familie in den Räten), die Vorrechte des Generalrats wiederherzustellen und die Unabsetzbarkeit der Räte aufzuheben. Auch wenn sie in einigen Punkten zum Ziel gelangten, machte das durch Waffengewalt und unter Vermittlung der französischen Krone sowie der Patrizierregierungen Berns und Zürichs auferlegte Pazifikationsedikt vom 21. November 1782 die meisten Errungenschaften bezüglich der Befugnisse des Generalrats und der Erneuerung der engeren Räte und Magistraturen wieder zunichte.

Genfer Syndic-Familien im 18. Jahrhundert

FamilieAnzahl Syndics im 18. Jh.Aufnahme ins BürgerrechtErste Wahl in den Grossen RatErste Wahl in den Kleinen RatErste Wahl eines Syndic
Pictet614741559157516. Jh.
Rilliet61484vor Reformation159017. Jh.
Lullin514. Jh.vor Reformationvor Reformationvor Reformation
Du Pan41488vor Reformation154116. Jh.
Trembley415551561163117. Jh.
De Grenus416201632165517. Jh.
Fatio416471658170518. Jh.
De Chapeaurouge31468vor Reformationvor Reformationvor Reformation
Gallatin31510vor Reformation156217. Jh.
Le Fort315651603164217. Jh.
Turrettini316271628169618. Jh.
Lect21473vor Reformationvor Reformation16. Jh.
Naville215061709177318. Jh.
Favre21508vor Reformationvor Reformation16. Jh.
Rigot215091544155116. Jh.
Mestrezat215241570159017. Jh.
Sarasin215551562160317. Jh.
Sales215811658173418. Jh.
Buisson216091624165617. Jh.
Sartoris216101688170418. Jh.
Bonet216171618172118. Jh.
Calandrini216341635172818. Jh.
Bonnet216451665170518. Jh.
Genfer Syndic-Familien im 18. Jahrhundert -  Favet, Grégoire: Les syndics de Genève au XVIIIe siècle, 1998, S. 66-67

Im 18. Jahrhundert scheint auch der Generalrat die Genfer Bevölkerung nicht mehr wirklich vertreten zu haben. Die religiösen Verfolgungen des 16. (Religionskriege) und 17. Jahrhunderts (Widerrufung des Edikts von Nantes) hatten dazu geführt, dass sich zahlreiche protestantische Glaubensflüchtlinge aus Frankreich und Italien in Genf niederliessen. Mit der Zeit wuchs die Zahl derer an, die das Bürgerrecht nicht mehr erwerben konnten, sodass immer mehr Flüchtlinge gezwungen waren, den Status einfacher Habitants beizubehalten. Zusammen mit ihren Nachkommen, den Natifs, bildeten sie schliesslich den Grossteil der Bevölkerung. Wie die von Rousseau inspirierten Représentants für die Anerkennung der mit ihrem Bürgerstatus (Bürgertum) verbundenen Rechte kämpften, erhoben bald auch die Natifs ihre Forderungen. Sie versuchten zunächst, ebenfalls in den Genuss der wirtschaftlichen Privilegien zu kommen, die den Bürgern (bourgeois) vorbehalten waren. Später bestritten sie, von Voltaire unterstützt, die Berechtigung der politischen und sozialen Diskriminierungen, denen sie unterworfen waren. Zwar brachten die Edikte von 1770 und 1782 diesbezüglich einige Milderungen und beinhalteten sogar gewisse Fortschritte im Bereich der Strafjustiz und des Feudalrechts. Nichtsdestotrotz verhärtete sich die Politik der Verteidiger des Status quo, der sogenannten Négatifs, welche die Verbannung der Natifs und Représentants, die Unterdrückung der Zirkel, die Beschränkung der Pressefreiheit (Presse) sowie dieVergrösserung der Militärgarnison anstrebten.

Der harte Winter von 1788-1789 und die durch einen spektakulären Anstieg des Brotpreises hervorgerufenen Unruhen liessen die Regierung noch schwerere Wirren befürchten: Das Edikt vom 10. Februar 1789 erlaubte den Exilierten von 1782 die Rückkehr und machte verschiedene unpopuläre Massnahmen, die im selben Jahr ergriffen worden waren, rückgängig. Aber die Versöhnung dauerte nur kurze Zeit. Unter dem Druck neuer Forderungen der Natifs, denen sich die Untertanen der Landschaft angeschlossen hatten, unternahm die Regierung grosse, aber letztlich vergebliche Anstrengungen, um Institutionen und Gesetze zu reformieren (1791 Du-Roveray-Edikt und -Code, Jacques-Antoine Du Roveray). Ermutigt durch das revolutionäre Frankreich (Französische Revolution) – dessen Truppen Savoyen eroberten, das im September 1792 zum französischen Departement wurde – gelang den Gegnern der aristokratischen Regierung die Einigung. Im Dezember 1792 brachten sie die Stadt in ihre Gewalt; ihr erstes Dekret über die politische Gleichheit aller Citoyens, Bourgeois, Natifs, Habitants und Untertanen setzte dem Ancien Régime ein Ende. Am 28. Dezember 1792 wurde die Auflösung des Kleinen Rats und die Bildung zweier provisorischer Ausschüsse proklamiert, die diesen ersetzten (Egaliseurs). Die Vertreter der gemässigten Richtung wurden sehr bald von einigen Klubs in den Hintergrund gedrängt, deren Mitglieder selbst vor Gewalt nicht zurückscheuten und extremen Massnahmen das Wort redeten. So setzten sie 1793 die Leistung eines obligatorischen Zivileids, im Sommer 1794 die Einrichtung zweier Revolutionsgerichte zur Aburteilung sogenannter Volksfeinde und später die Erhebung einer ausserordentlichen Vermögenssteuer durch, welche die Aristokraten empfindlich treffen sollte. Unterdessen hatte die Verfassung vom 5. Februar 1794 erstmals die Gewaltentrennung, die Volkssouveränität und die direkte Demokratie eingeführt. Die eigenständige Entwicklung wurde jedoch jäh unterbrochen: Genf wurde am 15. April 1798 von französischen Truppen besetzt und gezwungen, um den Anschluss an Frankreich zu ersuchen.

Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur bis ins 18. Jahrhundert

Wirtschaft

Landwirtschaft

Detail des Katasterplans von Dardagny, gezeichnet von Mayer (Vater), 1809 (Archives d'Etat de Genève, Cadastre E2, section D).
Detail des Katasterplans von Dardagny, gezeichnet von Mayer (Vater), 1809 (Archives d'Etat de Genève, Cadastre E2, section D). […]

Die Genfer Landwirtschaft der frühen Neuzeit war von kleinen und mittleren Gütern geprägt, die in Eigenwirtschaft und nach dem Grundsatz der Mischkultur betrieben wurden. Getreidefelder (Getreidebau), Weideland für das Vieh und Rebberge (Weinbau) nahmen den grössten Teil der verfügbaren Nutzfläche ein. In den Vororten allerdings herrschten Obst- und Gemüsegärten (Obstbau, Gartenbau) vor, deren Erträge für die städtischen Märkte bestimmt waren. Als Reaktion auf die Preisentwicklung reduzierten die Landbesitzer im 18. Jahrhundert ihre Rebflächen zu Gunsten des einträglicheren Ackerbaus und der Viehwirtschaft. Bedingt durch die Kleinheit seines Territoriums gelang es Genf nie, die Bedürfnisse seiner Bevölkerung durch Eigenproduktion abzudecken; es musste das Getreide aus den nahe gelegenen Gebieten Savoyens und Frankreichs, mitunter aber auch aus entfernteren Regionen importieren, eine Aufgabe, mit der ab 1628 die Kornkammer betraut war. Mit Ausnahme des Hanfs und der Wolle, welche die Bauern für den eigenen Haushalt produzierten und zu Textilien verarbeiteten, eines bescheidenen Quantums an Seidenfaden – sporadisch wurden Maulbeerbäume für die Seidenraupenzucht angepflanzt – und der in der Gerberei verwendeten Baumrinde wurden in Genf keine Gewerbepflanzen wie etwa Flachs, Waid oder Krapp angebaut, die den örtlichen Manufakturen zugute gekommen wären.

Blick vom Landhaus Beau-Séjour auf die Stadt Genf und ihre Landschaft, Ende 18. Jahrhundert. Aquarell von Christian Gottlieb Geissler (Bibliothèque de Genève).
Blick vom Landhaus Beau-Séjour auf die Stadt Genf und ihre Landschaft, Ende 18. Jahrhundert. Aquarell von Christian Gottlieb Geissler (Bibliothèque de Genève). […]

Handel und Handwerk

Als Stadt der Messen und als Finanzplatz trieb Genf im Mittelalter vor allem Handel, während seine bescheidene handwerkliche Produktion in erster Linie für den lokalen und regionalen Markt bestimmt war. Die Ankunft protestantischer Glaubensflüchtlinge ab 1550 veränderte jedoch das Spektrum des Gewerbes stark: Während die Verarbeitung von Lederwaren, Metall (Metallverarbeitende Handwerke) und Holz (Holzwirtschaft) sowie das Baugewerbe hauptsächlich wegen des Bevölkerungszuwachses eine gewisse Bedeutung behielten, wurde das lokale und regionale Gewerbe durch die Textilindustrie (Garne, Seidenstoffe und -bänder, Wollstoffe), das Druckereigewerbe (Buchdruck) und die Fabrique (Goldschmiedekunst und Uhrmacherei) zurückgedrängt, die vor allem für den Export produzierten. Die neuen Kaufleute teilten ihre Tätigkeit häufig zwischen Vertrieb und Herstellung von Büchern, Wollwaren (Wolle) und Seidenerzeugnissen (Seide) auf. In den von ihnen finanzierten und im Verlagssystem organisierten Fabrikationsprozessen übertrugen diese Unternehmer die verschiedenen Arbeitsschritte den entsprechenden Handwerkern, die ihrerseits bis 1798 in Zünften organisiert waren.

Im 17. und 18. Jahrhundert wandelte sich die Struktur der Textilwirtschaft. Die Seidenindustrie konzentrierte sich auf die Herstellung von Fäden, Borten und Spitzen aus Gold (Golddrahtzieherei) sowie auf das maschinelle Wirken von Strumpfwaren, während sich die Handwerker des Tuchgewerbes auf die Veredelung importierter Textilwaren spezialisierten, die sie sowohl färbten (Färberei) als auch schoren und kräuselten. Am Ende des Ancien Régime bildeten der Zeugdruck mit seinen handbedruckten Stoffen, die zwischen 1690 und 1830 in am Stadtrand gelegenen Fabriken produziert wurden, und die Fabrique, die nunmehr die Uhrmacherei (Uhrenindustrie), die Goldschmiedekunst (Gold- und Silberschmiedekunst), die Juwelierkunst (Bijouterie) und zahlreiche verwandte Gewerbe umfasste, die dynamischsten Sparten der Genfer Wirtschaft. Da die Flüchtlinge technische Fachkenntnisse, Kapitalien und zahlreiche Arbeitskräfte – insbesondere Frauen und Kinder – mitbrachten, spielten sie eine ausserordentlich wichtige Rolle für die Entwicklung dieser Wirtschaftszweige, auch wenn die lokalen Bürger sich lange Zeit das Recht auf die Ausübung gewisser Handwerke und prestigeträchtiger Berufe vorbehielten und sich die Zünfte vorgeschlagenen Neuerungen nicht immer anzupassen verstanden.

Zeugdruckerei im Genfer Seebecken. Zeichnung von Nicolas Pérignon und Radierung von François-Denis Née in den Tableaux topographiques, pittoresques [...] de la Suisse (1780-1788) des Freiherrn Beat Fidel Zurlauben (Privatsammlung).
Zeugdruckerei im Genfer Seebecken. Zeichnung von Nicolas Pérignon und Radierung von François-Denis Née in den Tableaux topographiques, pittoresques [...] de la Suisse (1780-1788) des Freiherrn Beat Fidel Zurlauben (Privatsammlung). […]

Mit ihren Kenntnissen des internationalen Handels- und Bankennetzes (Banken) ermöglichten es die französischen und italienischen Kaufleute den Genfern, eine beneidenswerte Position im Grosshandel (Lagerhandel) und der «hugenottischen Internationale» zu erringen. Dank Niederlassungen in Frankreich, England und den Niederlanden sowie der Finanzierung von Firmen in Übersee und weit verzweigter Handelsgesellschaften, etwa im Indienne- und Baumwollhandel (Baumwolle), erarbeiteten sie sich beträchtliche Vermögen. Für manche Geschäftsleute endeten solche Finanzspekulationen – insbesondere umfangreiche Investitionen in ausländische Staatsanleihen (Leibrenten, Lotterien, Lebensversicherungen, Solidarnoten) stellten ein grosses Risiko dar – in Aufsehen erregenden Bankrotten. Solche Konkurse zogen regelmässig einen Teil der arbeitenden Stadtbevölkerung in Mitleidenschaft. Vom Ende der 1780er Jahre an verschlechterten sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wobei neben der allgemeinen Tendenz zum Protektionismus, den Revolutionswirren und -kriegen (Französische Revolution), dem Debakel der französischen Assignaten, den hohen Rohstoff- und Warenpreisen vor allem der Zusammenbruch des ganzen Rentensystems, die Schliessung der europäischen Märkte und eine Serie von Konkursen eine Rolle spielten. Das Bankwesen, der Handel und das Handwerk in Genf stürzten in eine Krise, von der sie sich erst nach Jahrzehnten erholten.

Die Zufälligkeiten der in dieser Epoche heftigen Konjunkturschwankungen vermögen die Strukturschwächen der glanzvollen Genfer Wirtschaft des 18. Jahrhunderts nicht zu verdecken. Einerseits war diese fast ausschliesslich auf städtische und somit teure Arbeitskräfte angewiesen (auch wenn die Löhne im 18. Jh. stagnierten). Andererseits hing sie hinsichtlich der Rohstoffe und Absatzmöglichkeiten von fernen Märkten ab und war damit der Zollpolitik fremder Mächte unterworfen. In der Hoffnung auf hohe Spekulationsgewinne wurden zudem die Edelmetalle und Kapitalien zusehends ins Ausland abgezogen. Unter dem Einfluss der Zünfte wurden schliesslich tendenziell vor allem Innovationen gefördert, die auf eine Verbesserung der Produktequalität und eine Erhöhung der Gewinnmargen abzielten, während Produktivitätssteigerungen in der Regel unterblieben. Die Erzeugnisse der Genfer Wirtschaft erwiesen sich deshalb oft als zu teuer oder – im Fall einer entsprechenden ausländischen Konkurrenz – gar als unverkäuflich.

Bevölkerungs- und Siedlungsentwicklung

Bevölkerungszahlen für das heutige Gebiet des Kantons Genf sind erst ab dem 15. Jahrhundert bekannt; die weiter zurückgehenden Daten der Pfarreivisitationen der Diözese Genf sind nicht überliefert. Das Mandement Jussy wies 1412-1413 60 Feuerstätten, 1481-1482 64 und 1516-1518 60 auf. Im Mandement Peney (ohne Satigny) wurden in denselben Perioden 74, 61 und 68 Feuerstätten gezählt, in Céligny 18, 11 und 14. In den Jahren 1516-1518 – die Daten der früheren Visitationen sind zu lückenhaft, um hier einbezogen zu werden – wurden in den späteren Communes réunies, den Pfarreien im Pays de Gex 166 und den savoyischen 585 Feuerstätten gezählt. Der Schätzwert für die ganze Genfer Landschaft Anfang des 16. Jahrhunderts liegt somit bei etwas mehr als 1000 Feuerstätten, was ca. 4000 bis 5000 Einwohnern entsprechen dürfte.

Die Bevölkerung der Stadt Genf betrug Schätzungen zufolge im Jahr 1300 4000 Einwohner, 1359 2000, 1407 4000 und 1464 9400; diese Zunahme war weitgehend durch den wirtschaftlichen Aufschwung bedingt. Die Massnahmen, die der französische König 1462 gegen die Genfer Messen einleitete, trugen zum Ende dieser positiven Entwicklung bei. Bis zur Ankunft der französischen und italienischen Glaubensflüchtlinge um 1550, als Genf etwa 13'100 Einwohner zählte, befand sich die Stadt in einer schwierigen Lage. Dank der neuen Produktionsstrukturen, welche die Exilierten aufbauten, stieg die Bevölkerung in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zunächst stark an (1580 etwa 17'300 Einwohner); nur wenig später verlor die Stadt aber infolge mehrerer Pestepidemien (Pest), Hungersnöte sowie lokaler und internationaler militärischer Konflikte wieder einen Teil ihrer Bevölkerung (1590 14'400 Einwohner). Nach einer besonders günstigen Periode um die Jahrhundertwende war das 17. Jahrhundert nach den Pestjahren von 1615 und 1616 durch einen markanten Bevölkerungsrückgang gekennzeichnet; um 1650 lag die Bevölkerungszahl bei ca. 12'700 Einwohnern und entsprach damit in etwa dem Stand, den die Stadt schon um die Mitte des 16. Jahrhunderts, also vor dem Eintreffen des ersten Flüchtlingsstroms, erreicht hatte. Bedingt durch die einsetzende wirtschaftliche Erholung und die Ankunft zahlreicher hugenottischer Einwanderer mit der zweiten Flüchtlingswelle vor und nach der Widerrufung des Edikts von Nantes (1700 17'500 Einwohner) nahm die Stadtbevölkerung dann bis zum Vorabend der Revolution von 1792 (Genfer Revolutionen) kontinuierlich zu (1790 27'400 Einwohner). Die Rezession, welche die wirtschaftliche Entwicklung während der Revolutionszeit und den Jahren unter französischer Herrschaft als Folge der internationalen politischen Konflikte und Unruhen prägte, schlug sich in einer erneuten Abnahme der Stadtbevölkerung nieder (1800 24'500 Einwohner); danach stagnierten die Einwohnerzahlen, bis das spektakuläre Bevölkerungswachstum des 19. Jahrhunderts einsetzte.

Die Place Saint-Gervais und die Rue de Coutance am rechten Rhoneufer, Ende 18. Jahrhundert. Aquarell von Christian Gottlieb Geissler (Bibliothèque de Genève).
Die Place Saint-Gervais und die Rue de Coutance am rechten Rhoneufer, Ende 18. Jahrhundert. Aquarell von Christian Gottlieb Geissler (Bibliothèque de Genève). […]

Nach der Zerstörung der Vorstädte aus Sicherheitserwägungen kurz vor der Reformation wohnte der grösste Teil der Genfer Bevölkerung während fast des ganzen Ancien Régime innerhalb der Befestigungsanlagen. Die Ansiedlung der Flüchtlinge im 16. und 17. Jahrhundert erfolgte deshalb unter schwierigen Bedingungen. Zahlreiche Häuser mussten aufgestockt werden, um die zusätzlichen Bewohner aufnehmen zu können, während die nicht bebauten, teilweise als Kulturland oder Weiden für Kleinvieh genutzten Flächen neuen Gebäuden und namentlich Gewerbebauten (Werkstätten, Mühlen, Trocknungsflächen) weichen mussten. Unter dem demografischen Druck und parallel zur Wartung und Verstärkung des Befestigungssystems (1717-1727) wurden die Vorstädte in Plainpalais, Les Eaux-Vives, Le Pâquis und später in Richtung Châtelaine und Le Petit-Saconnex langsam wieder aufgebaut.

Es ist bekannt, dass im 18. Jahrhundert die Landschaft (Mandements) von Bauern und Handwerkern (darunter zahlreichen Uhrmachern) dicht besiedelt war (nahezu 100 Bewohner/1 km2). Die städtischen Gutsbesitzer, von denen einige sich für die Landwirtschaft begeisterten, hielten sich hier zeitweilig auf, um ihre Güter zu verwalten und das Einbringen der Ernte zu beaufsichtigen. Über die Landbevölkerung, die sich auf einige Dörfer und Weiler der Seigneurie Genf verteilte, ist vor dem Ende des Ancien Régime allerdings wenig bekannt. 1797/1798 zählte sie 4432 Personen, d.h. 400 weniger als in den Freigütern.

Gesellschaft

Rekonstruktion eines Bürgerhauses aus dem 18. Jahrhundert. Öl auf Leinwand von Christophe François von Ziegler, 1879 (Musée d'art et d'histoire Genève, no inv. HM 0026).
Rekonstruktion eines Bürgerhauses aus dem 18. Jahrhundert. Öl auf Leinwand von Christophe François von Ziegler, 1879 (Musée d'art et d'histoire Genève, no inv. HM 0026). […]

In dem Masse, wie es für die Flüchtlinge des 16. Jahrhunderts leichter wurde, das Bürgerrecht zu erwerben, in den Generalrat und schliesslich sogar in die engeren Räte aufgenommen zu werden, integrierten sie sich in die Genfer Gesellschaft und übernahmen zahlreiche Funktionen. Ganz anders präsentierte sich im 17. Jahrhundert die Situation der Hugenotten, die nach der Widerrufung des Edikts von Nantes aus Frankreich vertrieben worden waren. Nicht nur wurde der Preis des Bürgerrechts zunehmend unerschwinglich, dieses öffnete auch nicht mehr ohne weiteres den Zugang zu öffentlichen Ämtern. Ausserdem hatte sich auch der Status der Habitants bedeutend verschlechtert. Die Gewichte zwischen verschiedenen sozialen Gruppen verschoben sich bis ins 18. Jahrhundert erheblich: Gegenüber der nunmehr sehr exklusiven Gruppe der Citoyens und Bourgeois, die alle politischen Rechte und wirtschaftlichen Privilegien genossen, entwickelten sich die zwei rasch wachsenden Gruppen der Habitants und der Natifs; Erstere waren Fremde, die in der Stadt wohnen und arbeiten durften, Letztere deren in Genf geborenen Söhne und Nachkommen. Diese beiden Kategorien, denen hauptsächlich Handwerker aus den dem Uhrmachergewerbe verwandten und niederen Berufen, aber auch engagierte Intellektuelle, Pfarrer und Meister der Berufe der Fabrique angehörten, erwiesen sich als besonders rührig und tatkräftig. Denn einerseits besassen die Habitants und Natifs keine politischen Rechte, andererseits wurden sie aufgrund ihres «Nichtbürgerstatus» auch in ihren wirtschaftlichen Aktivitäten durch zahlreiche Hemmnisse und Steuerabgaben behindert. Da sie zudem in der Regel weniger begütert und schlechter ausgebildet waren als die Bourgeois und Citoyens, gelangten sie nur in Ausnahmefällen zu Ämtern, Ehren, angesehenen Berufen und gewinnbringenden Tätigkeiten. Nach den Wirren von 1782 gewährte die konservative Regierung den Habitantenstatus nur noch selten, da sie der steigende Einfluss dieser Klasse beunruhigte. Sie schuf stattdessen für die von den lokalen Manufakturen benötigten Arbeitskräfte die neue Kategorie der Domizilanten. Diese vorzugsweise unverheirateten und von der Fremdenkammer streng überwachten Zuwanderer erhielten eine temporäre Aufenthaltsbewilligung, die zwar erneuerbar, aber nicht auf Nachkommen übertragbar war.

Die Landbewohner, Untertanen der Seigneurie Genf, hatten ebenfalls keine politischen Rechte. Einigen von ihnen gelang es, sich eine gewisse Unabhängigkeit zu verschaffen, indem sie sich den (teilweise auf das Mittelalter zurückgehenden) Dorfgenossenschaften (Genossenschaft) anschlossen, die der Gerichtsbarkeit und Aufsicht der Kastlane – vom Rat der Zweihundert ernannten Gerichtsbeamten – unterstanden. Der diesen Gemeinden vorstehende Prokurator übte jedoch nur Verwaltungsfunktionen aus. Im Vergleich zu den einfachen Habitants waren die Dorfgenossen privilegiert, auch wenn für sie die von der Stadt ausgeübte Schutzaufsicht im 18. Jahrhundert sehr drückend wurde. Ab 1790 forderten schliesslich auch die Untertanen, angeführt vom Anwalt Jacques de Grenus, die politische Gleichstellung (Gleichheit).

Die in den Exklaven lebenden Bauern, die häufig zum Verkauf ihrer Produkte in der Stadt angehalten wurden, waren insofern benachteiligt, als sie französisches oder savoyisches Gebiet durchqueren mussten. Sie benötigten dazu Transitbewilligungen und Ursprungszertifikate für ihre Waren und setzten sich dem Risiko von Angriffen und Beschlagnahmungen aus. Ihre Weinverkäufe wurden streng reglementiert, der Salzhandel (Salz) war ihnen untersagt.

Die Revolution im Dezember 1792 proklamierte die politische und rechtliche Gleichstellung aller Bevölkerungskategorien. Bekräftigt wurde diese in der Verfassung vom 5. Februar 1794 (Egaliseurs). Fortan teilte sich die männliche Bevölkerung in der Stadt wie der Landschaft nur noch in Citoyens – ein Begriff, der nach damaliger Auffassung Nichtreformierte und Frauen ausschloss – und Fremde, wobei Letztere einer sehr restriktiven Aufnahmepolitik unterzogen wurden.

Religion

Das religiöse Leben im Mittelalter

Während die Stadt Genf Bischofssitz war, mehrere Pfarrkirchen zählte und zahlreiche Klöster beherbergte, war die Landschaft weniger reich dotiert (Priorat der Benediktiner in Satigny, Zisterzienserinnenabtei in Bellerive). Der Cluniazenserorden (Cluniazenser) und insbesondere das Priorat Saint-Victor halfen, die Kirche und das Pfarreileben in den Herrschaften zu stärken und zu strukturieren. Zwischen 1093 und 1099 bestätigte Bischof Guy de Faucigny der Abtei Cluny den Besitz einer Reihe von Filialpfarrkirchen von Saint-Victor, von denen einige, unter anderem Draillant, Bonneguête und Vaulx (alle im heutigen Departement Haute-Savoie gelegen), Priorate wurden. Im Genfer Becken, in den Landschaften wie in den Alpentälern, erlebte das Klosterwesen im 12. Jahrhundert einen starken Aufschwung: Kartäuser, Zisterzienser und Augustiner Chorherren fanden hier einen Zufluchtsort, der ihrer kontemplativen Lebensweise entsprach. Keines ihrer Klöster befand sich jedoch auf heutigem Kantonsgebiet.

Reformation

Die ersten Anzeichen reformatorischer Ideen in Genf zeigten sich 1521 in der Gruppe um den Arzt Heinrich Cornelius, genannt Agrippa von Nettesheim, Leser der Werke von Lefèvre d'Etaples und Erasmus von Rotterdam. Deutsche Händler verbreiteten die Lehren Martin Luthers, die ab 1525 von einigen Genfer Kaufleuten übernommen wurden. 1532 predigte der von Bern protegierte Guillaume Farel in Genf, und trotz anfänglicher Schwierigkeiten entstand eine reformierte Gemeinde in der Stadt. Der erste öffentliche reformierte Gottesdienst wurde 1533 abgehalten, und 1534 schritten die Reformierten zur Offensive (Raufereien mit Katholiken, Plünderungen von Klöstern und Kirchen). Von da an unterstützte ein grosser Teil der Bevölkerung die Reformation. Das Vakuum, das nach der Flucht des Bischofs Pierre de La Baume (August 1533), dem Wegzug zahlreicher Priester, Domherren und Konventualinnen sowie der Abschaffung der Messe (August 1535) durch den Rat der Zweihundert entstanden war, erlaubte Reformatoren wie Farel oder Antoine Froment die ungehinderte Verkündigung des neuen Glaubens. Am 21. Mai 1536 bekräftigte das im Generalrat versammelte Volk feierlich seinen Willen, nach dem evangelischen Gesetz und dem «Wort Gottes» zu leben. Dabei genoss es den militärischen Schutz der Berner, die soeben die Waadt, das Pays de Gex und das Chablais erobert hatten.

Johannes Calvin während einer Vorlesung im Auditorium. Federzeichnung von Jacques Bourgoin, um 1560 (Bibliothèque de Genève; Fotografie François Martin).
Johannes Calvin während einer Vorlesung im Auditorium. Federzeichnung von Jacques Bourgoin, um 1560 (Bibliothèque de Genève; Fotografie François Martin). […]

Als Johannes Calvin einige Monate später auf der Durchreise in Genf weilte, wurde er von Farel zurückgehalten; endgültig liess sich Calvin hier aber erst 1541 nieder, in dem Jahr, in dem er die von seinem 1536 veröffentlichten Werk Institutio Religionis Christianae inspirierte Kirchenordnung (Ordonnances ecclésiastiques) verfasste. Diese am 20. November 1541 vom Generalrat angenommene Ordnung regelte das Kirchenleben, indem sie vier Ämter schuf, nämlich das der pasteurs (Pfarrer), der docteurs (Lehrer), der anciens (Ältesten) und der diacres (Diakone). Die Compagnie des pasteurs, der sämtliche Pfarrer der Stadt und der Landschaft angehörten, befasste sich mit Fragen der Doktrin wie mit den Beziehungen zu den weltlichen Behörden und den auswärtigen Kirchen. Den Lehrern oblag die Ausbildung zum Priesteramt und zu den zivilen Ämtern; das Kollegium und die Akademie wurden 1559 im Hinblick auf diese Aufgabe gegründet (Universität Genf). Grundschulen vermittelten von nun an Kindern, insbesondere Knaben, elementaren Unterricht. Die 1736 gegründete Gesellschaft der Katecheten förderte überaus erfolgreich die Alphabetisierung der verschiedenen Bevölkerungsschichten. Die Ältesten bildeten das aus Pfarrern und Laien zusammengesetzte Konsistorium (Sittengerichte), das beauftragt war, das Verhalten der Gläubigen zu überwachen und sie bei Verstössen zur Rechenschaft zu ziehen. Diese Art von Sittengericht konnte jedoch nur kirchliche Strafmassnahmen wie etwa den Ausschluss vom Abendmahl verhängen; in Fällen, die strafrechtliche Sanktionen nach sich zogen, wurde der Schuldige dem Kleinen Rat überantwortet. Die Aufgaben der Diakone (Armen- und Krankenpflege) entsprachen jenen der Prokuratoren des Hôpital général, das im November 1535 durch den Zusammenschluss aller ehemaligen mittelalterlichen Spitäler geschaffen wurde. Calvin und die Reformatoren machten Genf zum Zentrum des Protestantismus; bildhaft bringt diese Entwicklung die Bezeichnung «protestantisches Rom» zum Ausdruck, die bereits im 16. Jahrhundert für Genf verwendet wird.

Kirche und Gesellschaft

Man hat Calvin vorgeworfen, er habe die Kirche und die Pfarrer mit zu viel Macht ausgestattet; es sei jedoch daran erinnert, dass diese keinen Einsitz in den Räten hatten. Als scharfsinniger Jurist verstand es Calvin, ein Gleichgewicht zwischen der kirchlichen Autorität und der weltlichen Macht zu bewahren. So kam den Verwarnungen und Massnahmen des Konsistoriums zwar ein hoher Stellenwert zu, doch in letzter Instanz wurden die Entscheidungen über Rechtsfragen wie über Ehefragen im Kleinen Rat gefällt. Auch wenn es zu Lebzeiten Calvins oder seines Nachfolgers Theodor Bezas Vertretern der Compagnie des pasteurs im Rat manchmal gelang, mit Protesten die Regierung zu beeinflussen, so verloren solche Interventionen in den folgenden Jahrhunderten allmählich an Gewicht. Im 18. Jahrhundert neigten die Räte sogar dazu, kirchliche und eherechtliche Entscheidungen zu treffen, ohne das Konsistorium zu konsultieren. Dessen Autorität wurde mehr und mehr bestritten, sowohl von den Konservativen als auch von den Anhängern Voltaires und Rousseaus. Dies veranlasste nach der Revolution von 1792 die neuen Machthaber dazu, dem Konsistorium einen Teil seiner Befugnisse zu entziehen.

Die 1558 eingeführten Sittenmandate, die übrigens keine Erfindung des Calvinismus waren, sollten den Konsum unter Wahrung der gesellschaftlichen Hierarchien beschränken. Sie spielten eine wichtige Rolle in der Kontrolle des «Luxus» durch das Konsistorium und später durch die 1646 geschaffene, aus Laien zusammengesetzte Reformationskammer. Die Sittenmandate enthalten peinlich genaue Vorschriften bezüglich Kleidung, Tragens von Schmuck, Trauerkleidung, Hochzeits- und Taufessen, aber auch bezüglich Möbel und dekorativer Wertgegenstände. Sie wurden – verteidigt von Aristokraten wie merkwürdigerweise auch von Verfechtern einer egalitären Gesellschaft – bis zum Ende des Ancien Régime immer wieder erneuert.

Kultur

Die Genfer Akademie zog im 16. Jahrhundert Studenten aus ganz Europa an. Zunächst verschafften vor allem die Theologen und Philosophen (Jean-Alphonse Turrettini, Jean-Robert Chouet) der Calvinstadt einen guten Ruf in der Geisteswelt. Im 18. Jahrhundert genossen Genfer Rechtstheoretiker (Jean-Jacques Burlamaqui), Mathematiker und Naturforscher (Jean-Louis Calandrini, Gabriel Cramer, Horace Bénédict de Saussure und Charles Bonnet) grosses wissenschaftliches Ansehen.

Der Künstler Jean Huber porträtiert Voltaire. Selbstbildnis in Pastell, um 1773 (Musée historique de Lausanne).
Der Künstler Jean Huber porträtiert Voltaire. Selbstbildnis in Pastell, um 1773 (Musée historique de Lausanne). […]

Die Kontrollinstanzen, die in Genf Sitten, Konsum und Alltag der Menschen überwachten, begünstigten die Entwicklung der Schönen Künste nicht. So wandten die Genfer ihre künstlerischen Talente vor allem als Handwerker, Graveure, Miniaturisten und Emailmaler in Uhrmacher-, Goldschmiede- und Juwelierwerkstätten an. Ende des Ancien Régime wurde das Klima der künstlerischen Ausdruckskraft förderlicher und einige einheimische Künstler, die sich grossenteils im Ausland hatten ausbilden lassen und von lokalen Mäzenen und Kunstliebhabern unterstützt wurden, erlangten eine gewisse Berühmtheit. Dazu gehören etwa Jean-Etienne Liotard, Jean-Pierre Saint-Ours, Marc-Théodore Bourrit, Pierre-Louis De la Rive, Wolfgang-Adam Töpffer, Firmin Massot und Jacques-Laurent Agasse.

Im Bereich des Schauspiels brach die Reformation ebenfalls radikal mit den Zerstreuungen, die der Bevölkerung im Mittelalter geboten worden waren. Das Theater beschränkte sich im 16. Jahrhundert auf religiöse und politische Themen sowie auf ein paar Stücke, die biblische oder allegorische Gestalten, vor allem fiktive und beim Abschluss von Burgrechtsverträgen beschworene Figuren, auf die Bühne brachten. Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, nach der Debatte über die Rolle des Theaters, welche die Enzyklopädisten und Rousseau ausgetragen hatten, wurde – vielleicht auch als Folge einer gewissen Verbreitung der Stücke Voltaires, die dessen Anhänger im privaten Kreis aufführten – das Spektrum der Vorstellungen in Genf allmählich breiter. Nach der gescheiterten Revolution von 1782 wurde das Théâtre de Neuve gebaut, um die ausländischen Truppen zu unterhalten und die mittlerweile verbotenen Zirkel zu ersetzen. Diesem Theater ging es allerdings mehr darum, die Leidenschaften einer als zu aufgeregt erachteten Bevölkerung zu dämpfen, als sie mit Kultur und Literatur vertraut zu machen. Das Genfer Theater entsprach somit demjenigen, das Rousseau propagierte. Dieser plädierte für Bürgerfeste, die das Volk nicht von seinen Pflichten ablenken, sondern es in seinen Überzeugungen bestärken sollten.

Le Café du Théâtre. Kolorierte Federzeichnung von Wolfgang-Adam Töpffer, 1798 (Cabinet d'arts graphiques des Musées d'art et d'histoire Genève, no inv. 1922-0003).
Le Café du Théâtre. Kolorierte Federzeichnung von Wolfgang-Adam Töpffer, 1798 (Cabinet d'arts graphiques des Musées d'art et d'histoire Genève, no inv. 1922-0003). […]

Im Hintergrund spielte der Genfer Buchdruck, der schon Ende des 15. Jahrhunderts einen guten Namen besass und nach der Reformation durch die Zuwanderung exilierter französischer und italienischer Buchhändler weiteren Auftrieb erhielt, eine wichtige Rolle für die – oftmals geheime – Verbreitung reformatorischen Gedankenguts. Sehr bald wurde die Produktion diversifiziert zu Gunsten von Ausgaben der griechischen und römischen Klassiker sowie von Werken über Geschichte, Geografie, Medizin und Recht. Um der Lyoner Konkurrenz standzuhalten, kombinierten die Genfer Unternehmen Druckerei und Vertrieb und produzierten ausländische Werke für die wichtigsten Märkte Westeuropas. Nach der glücklichen Periode, in der die Encyclopédie, niederländische Gazetten und Werke von Montesquieu, Rousseau, Voltaire und dem Abbé Raynal veröffentlicht wurden, machte das Genfer Verlagswesen um 1780 dem Buchhandel Platz (Verlage). Die wenigen Druckereien, die noch tätig waren, widmeten sich fortan der Veröffentlichung von Schulbüchern und Zeitschriften, deren berühmteste um die Jahrhundertwende die Bibliothèque britannique war. Sie profitierten letztlich auch von der Broschürenflut, welche die politischen Wirren am Ende des Ancien Régime und die Ideendebatten nach sich zogen, in denen sich die Représentants und die Natifs auf der einen, die konservative Regierung auf der anderen Seite gegenüberstanden.

Die savoyischen und französischen Gebiete

Wechselnde Obrigkeit

Die vom Herzog von Savoyen 1536 verlorenen Gebiete waren bis zu ihrer Rückgabe 1567 Untertanengebiete Berns. Ein auf sechs Jahre eingesetzter Berner Landvogt sass im Schloss Gex, in der Kommende von Compesières für die Vogtei von Ternier und in Gaillard. Im Allgemeinen respektierte Bern die alten Rechte und stützte sich auf sogenannte Communages (Genossenschaften) und Burgerschaften. Nach 1567 fiel die Gerichtsbarkeit in vielen Dörfern an die örtlichen Grundherren. Berufungsinstanz war der Senat von Savoyen in Chambéry. 1760 setzte ein Edikt in allen Pfarreien einen Gemeinderat ein, der von einem Syndic präsidiert wurde. Die Gemeindeautonomie war in diesen dem Königreich Sardinien unterstellten, entweder zum Chablais oder zum Genevois gehörenden Dörfern stärker ausgeprägt als in den der Seigneurie unterstellten Landgemeinden. Ende des 18. Jahrhunderts gründete die sardinische Monarchie die Stadt Carouge, die Genf konkurrenzieren sollte.

Das Pays de Gex, das 1601 französisch wurde, war von da an eine Vogtei (baillage) Burgunds, seinerseits ein Pays d'états. Öffentliche Versammlungen der Landvogtei verliehen den Vertretern der ländlichen Gemeinden gewisse Rechte, insbesondere das Stimmrecht in Fragen der Besoldung von Magistraten und Beamten.

1550 zählten die sieben Gemeinden des Pays de Gex, die 1815 dem Kanton Genf zugeschlagen wurden, 357 Feuerstätten, wovon 68 oder rund 1500 Einwohner auf die kleine Stadt Versoix entfielen. Bei ihrer Vereinigung mit der Schweiz betrug ihre Einwohnerzahl 3350. Die savoyischen Gemeinden, die Piemont-Sardinien abtrat, zählten 1816 12'700 Einwohner.

Rekatholisierung

1536 führten Genf und Bern in den eroberten Gebieten die Reformation ein – beide gemäss ihren eigenen Vorstellungen über die Rolle der Kirche und der Liturgie. Die Berner Kirche war in Klassen organisiert, im Genfer Gebiet in die Klasse von Gex (13 Pfarreien, darunter Le Grand-Saconnex und Versoix) und diejenige von Ternier. Die Kirchgenossen wurden durch ein lokales Konsistorium kontrolliert, das dem Berner Oberchorgericht unterstellt war. Nach 1544 gewann Genf 14 Pfarreien der ehemaligen Gebiete des Priorats Saint-Victor und des Domkapitels zurück.

Mit dem Lausanner Vertrag von 1564 erreichte Bern, dass der Herzog von Savoyen den reformierten Kultus in den ihm zurückerstatteten Gebieten weiterhin duldete. Karl Emmanuel beschränkte 1589 die Zahl der Gotteshäuser, sodass eines in Ternier und zwei in Gex übrig blieben. Der Frieden von Vervins (1598) hob schliesslich die Bedingungen auf, die vorher die Souveränität des Herzogs in den abgetretenen Landvogteien eingeschränkt hatten. Die Rekatholisierung, die 1590 von Franz von Sales begonnen wurde, schritt im Chablais dank der Kapuzinermission (Kapuziner) voran. Im Pays de Gex reorganisierte Genf 1590 die reformierten Kirchgemeinden, eine Aufgabe, mit der die Compagnie des pasteurs betraut wurde. Das Edikt von Nantes von 1598 war für diese Landvogtei ab 1601 in Kraft. Die Protestanten mussten die Katholiken als Nachbarn und Mitbewohner akzeptieren und ihnen Kirchen, Friedhöfe, Pfarrhäuser und Einkünfte zurückerstatten. Sie behielten jedoch die Mehrheit bis 1662, als Ludwig XIV. den reformierten Kultus verbot und die Gotteshäuser mit Ausnahme derjenigen von Sergy und Ferney abreissen oder schliessen liess. Den Endpunkt dieser Entwicklung bildet die Widerrufung des Edikts von Nantes im Jahr 1685, welche die Protestanten vor die Wahl stellte, entweder zu konvertieren oder zu emigrieren. Schliesslich musste die Seigneurie nolens volens akzeptieren, dass der Resident Frankreichs, dessen Posten ab 1679 unbefristet war, in seinem Stadthaus in Genf die Messe feiern liess.

Das politische Leben in Genf im 19. und 20. Jahrhundert

Unter französischer Herrschaft (1798-1814)

Politik und Verfassung

Entwurf für das Werk République de Genève. Öl auf Holz von Jean-Pierre Saint-Ours (Musée d'art et d'histoire Genève, no inv. 1985-0240).
Entwurf für das Werk République de Genève. Öl auf Holz von Jean-Pierre Saint-Ours (Musée d'art et d'histoire Genève, no inv. 1985-0240). […]

Die Annexion Genfs durch Frankreich, die von der Mehrheit der Genfer befürchtet und bekämpft, von den Anhängern des Anschlusses an die Grande Nation aus dem Umkreis des französischen Residenten Félix Desportes hingegen ersehnt worden war, wurde mit dem Vereinigungsvertrag vom 26. April 1798 besiegelt. Ihr waren mit der kontinuierlichen Einschliessung der Stadt im Zug der Eroberungen des Direktoriums und mit deren militärischen Besetzung eine Reihe diplomatischer Zwischenfälle und schikanöser Massnahmen an der Grenze vorausgegangen. Im August 1798 wurde Genf Hauptort des Departements Léman und blieb dies für fünfzehn Jahre. Die Stadt, die nun in die politischen Strukturen Frankreichs eingegliedert war, teilte in dieser Zeit dessen Schicksal, namentlich 1799 beim Übergang vom Direktorium zum Konsulat – mit Napoleon Bonaparte als Erstem Konsul – und 1804 bei der Proklamation des Kaiserreichs.

In gewissen Punkten fiel der Vereinigungsvertrag für die Genfer recht günstig aus. Dank der Société économique und der Société de bienfaisance behielten sie die Oberaufsicht über ihre Gemeindegüter, so über eine Anzahl Gebäude und Institutionen, darunter die Kirche mit ihren Gotteshäusern, das Collège, die Akademie, die Kornkammer, die Caisse d'escompte, d'épargne et de dépôts und das Hôpital général. Auch mussten sie für die französischen Soldaten keine Unterkünfte bei Privaten zur Verfügung stellen und für den laufenden Krieg keine Soldaten ausheben, sodass Genfer Wehrmänner erst nach dem Frieden von Amiens von 1802 einberufen wurden. Hingegen hatte die Stadt ihre Zeughäuser, ihre Artillerie und Munitionsbestände, vor allem aber ihre Befestigungsanlagen, die zu Nationalgütern ernannt wurden, an Frankreich abzutreten. Schliesslich machte die «Vereinigung» mit der französischen Republik aus den Genfern französische Staatsbürger.

Verwaltung

Ausser dem alten Genfer Territorium umfasste das Departement Léman das Pays de Gex und die Jurahöhen bis zum Tal der Valserine, die Gebiete des Chablais und des Faucigny sowie den Norden des Genevois. Es wurde in drei Arrondissements unterteilt – in Genf mit zehn, Thonon mit vier und Bonneville mit neun Kantonen. Die Stadt und ihr Territorium bildete für sich allein einen Kanton. Da sie als Gemeinde angesehen wurde, besass sie während fünfzehn Jahren eine eigene Verwaltung. Als Hauptort, später als Präfektur des Departements, d.h. als Residenzort des Präfekts und Standort seiner Ämter, verfügte Genf über ein Zivil- und Strafgericht, ein Handelsgericht, eine Münzstätte sowie ein Bureau du timbre et de l'enregistrement (Stempelamt). Das Appellationsgericht für Zivil- und Handelsangelegenheiten befand sich in Lyon. Nach der Annexion wurde Genf zunächst auf der Grundlage der französischen Revolutionsgesetze verwaltet. Ab 1804 war es wie das übrige Kaiserreich dem französischen Zivilgesetzbuch, ab 1808 dem französischen Handelsrecht und ab 1811 dem Strafgesetzbuch von 1810 unterstellt, was einige Anpassungen in der Gerichtsorganisation nach sich zog.

Bis zur Einsetzung des ersten Präfekten Ange Marie d'Eymar im Jahr 1800 lag die Macht bei der Zentralverwaltung des Departements Léman, in der nur wenige Genfer vertreten waren. Das Gesetz vom 17. Februar 1800 organisierte dann die Institutionen des Departements neu, die nun auf drei Organen ruhten, nämlich auf dem Präfekten, der vom Ersten Konsul und später vom Kaiser ernannt wurde, auf dem General- und auf dem Präfekturrat. Die Departementsverwaltung mit ihren vier Ämtern (Finanzen, Armee, Statistik sowie Erziehung und öffentliche Arbeiten), die dauernd mit der Abfassung von Berichten und der Erstellung von Statistiken für die Pariser Ministerien beschäftigt waren, machte sich unbeliebt und galt als schwerfällig und ineffizient. Hingegen gelang es den Präfekten Eymar (1800-1802), Claude Ignace Brugière de Barante (1803-1810) und Guillaume Antoine Benoît Capelle (1810-1813) manchmal, die Interessen der Genfer wahrzunehmen, ohne dass diese jedoch den Verlust ihrer Souveränität vergessen hätten.

Das politische Leben im 19. Jahrhundert

Die ersten Jahre des neuen Kantons (1814-1846)

Die Ankunft der Schweizer im Port Noir von Cologny, 1. Juni 1814. Kolorierter Stich von Jean DuBois (Bibliothèque de Genève).
Die Ankunft der Schweizer im Port Noir von Cologny, 1. Juni 1814. Kolorierter Stich von Jean DuBois (Bibliothèque de Genève). […]

Obwohl die Eingliederung der alten Bischofsstadt in die Eidgenossenschaft anlässlich des hundertjährigen Jubiläums 1914 als ein Ereignis von zwingender Notwendigkeit gedeutet wurde, entsprang der Akt in Wirklichkeit einem komplexen Geflecht von oft gegensätzlichen Wünschen und Absichten. Der entscheidende Anstoss kam zudem von den Grossmächten, die nach dem Sieg über Napoleon in Paris und Wien zusammengetreten waren, um die Karte Europas neu zu zeichnen. Sie wollten die Schweiz stärken und gliederten ihr deshalb die kleine Zitadelle Genfs an, um auf diese Weise zu verhindern, dass Frankreich seine Grenzen wieder ausdehne und die Route über den Simplon für eine erneute Eroberung Italiens benutze. In der Stadt stiess der Plan nicht sofort auf die Zustimmung der beiden Instanzen, die sich um die Macht stritten. Die Regierungskommission, die im Dezember 1813 nach dem Abzug der kaiserlichen Truppen und der Besetzung der Stadt durch den österreichischen General Ferdinand von Bubna von diesem gebildet worden war, neigte eher einem Anschluss an Frankreich zu. Dagegen erhoffte sich die selbsternannte provisorische Regierung, angeführt von den Konservativen Ami Lullin und Joseph Des Arts, die Rückkehr zur Unabhängigkeit. Um ihre Gegner auszustechen und zur Wahrung der Identität der Stadt bzw. der an diese geknüpften eigenen Vorstellungen akzeptierten Letztere schliesslich die von den verbündeten Monarchen bevorzugte helvetische Lösung.

Territoriale Entwicklung Genfs
Territoriale Entwicklung Genfs […]

Bevor die Republik Genf ein schweizerischer Kanton werden konnte, musste sie aus der Umklammerung durch fremdes Territorium gelöst und mit der Eidgenossenschaft verbunden werden, an das ihr Gebiet bis dahin nirgends direkt angrenzte. Zu diesem Zweck wurden ihr im zweiten Pariser Frieden von 1815 die französischen Gemeinden Versoix, Collex-Bossy, Pregny, Vernier, Meyrin und Le Grand-Saconnex zugeschlagen. Mit dem Turiner Vertrag von 1816 erhielt sie zusätzlich die Stadt Carouge sowie rund 40 Weiler und Marktflecken auf der sardinischen Seite des Sees. Durch die Abtretung dieser sogenannten Communes réunies an Genf vergrösserte sich die Bevölkerungszahl des neuen Kantons um ungefähr 16'000 grösstenteils katholische Landbewohner. Doch das neue Gebilde verfügte über kein Hinterland und liess sich nicht verteidigen. Man umgab es daher mit einer Zollfreizone und bezog Nordsavoyen in die schweizerische Neutralität mit ein (Freizonen). Diese nicht gänzlich befriedigende Lösung war das Resultat schwieriger diplomatischer Verhandlungen und eines Kompromisses. Die merkwürdige Grenzziehung entsprach der Forderung einflussreicher Genfer Ultraprotestanten, die aus Angst vor einer Gewichtsverschiebung zugunsten der Katholiken nur einen minimalen Zuwachs des Staatsgebiets zuliessen. Der Beitritt zum Corpus helveticum stellte die Genfer Bevölkerung vor ein Dilemma: Wollte die Stadt ihre Eigenheiten bewahren, musste sie schweizerisch werden. Um aber schweizerisch werden zu können, musste sie den Grundsatz, dass nur Protestanten als Bürger in der Calvinstadt aufgenommen werden, aufgeben und Katholiken als Gleichberechtigte akzeptieren. Die Haltung der Behörden (wie auch der Bevölkerung) blieb diesbezüglich während der ganzen Restaurationszeit zwiespältig.

Die erste eidgenössische Aufgabe der provisorischen Regierung, der eine mit mehr als 6000 Unterschriften versehene Petition die nötige Legitimität verschafft hatte, bestand in der Ausarbeitung einer Verfassung, die Unruhen, wie sie im 18. Jahrhundert aufgetreten waren, verhinderte und von der eidgenössischen Tagsatzung akzeptiert wurde. Um Letztere zufrieden zu stellen, bildete die Regierung die Institutionen des jüngsten Kantons denjenigen der Mitkantone nach. So verkörperte der Staatsrat die Exekutive, gehörte aber zugleich dem grossen Repräsentierenden Rat, der Legislative, an. Die Ausrichtung nach schweizerischen Modellen rechtfertigte aber auch Massnahmen – wie die Abschaffung des Generalrats –, die geeignet schienen, die öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Genfer, die jetzt zwar alle Bürger waren, besassen kein anderes politisches Recht mehr als dasjenige, einige ihrer Vertreter zu wählen. Aber selbst dieses Recht wurde durch drei in Genf bisher unbekannte Einrichtungen eingeschränkt, und zwar erstens durch abgestufte Losentscheide, zweitens durch ein den Kreis der Wahlberechtigten weiter beschneidendes, aus rund 170 Personen (u.a. Pfarrer, Lehrer des Collèges, Richter) bestehendes Gremium, das aus einer Gruppe von 600 Wahlmännern deren 300 ernannte und auf diese Weise unerwünschte Auswirkungen der dritten Neuerung, nämlich derjenigen des Zensus, ausgleichen sollte.

Als die Genfer Verfassung im August 1814 fast einstimmig angenommen wurde, lag der Zensus auf der Höhe von 69,7 Gulden (20 schweizerischen Pfund), was viele Bürger von der Wahl ausschloss. Aber schon 1819 sank er auf 25 Gulden, 1832 auf 15 und 1835 auf sieben, bevor er 1842 ganz abgeschafft wurde. Diese bedeutende Erweiterung des Elektorats widerspiegelte die Erfolge der Demokratisierung, die während der Restauration nolens volens von der Regierung zugestanden wurden. Sie gingen auf den Einfluss und die Fähigkeiten einer kleinen, mit liberalen Ideen sympathisierenden Gruppierung innerhalb der Legislative zurück. Fähige Köpfe wie Etienne Dumont, Pierre-François Bellot und Pellegrino Rossi gewannen, indem sie sich die Schwerfälligkeit der grossen Versammlungen zu Nutze machten, rasch an Einfluss und widersetzten sich den ersten reaktionären Staatsräten des 19. Jahrhunderts. Letztere zogen sich um 1825 aus der Regierung zurück und überliessen ihren Platz beträchtlich jüngeren Männern, die wie der Syndic Jean-Jacques Rigaud auf die Mentoren im Repräsentierenden Rat hörten und eine Politik des sogenannt graduellen Fortschritts einleiteten. Die zunächst nur zögerlich einsetzenden Reformen folgten während der ersten Hälfte der 1830er Jahre immer rascher aufeinander und führten zu einer Modernisierung der Verwaltung, der Kirchen sowie des Justiz- und Schulwesens.

Der Reformschub ging nicht nur auf den Generationenwechsel oder die tiefen liberalen Überzeugungen (Liberalismus) zurück, sondern entsprang auch dem Bild, das sich die führenden Männer von der Rolle ihrer Vaterstadt innerhalb der Schweiz machten. Der jüngste Kanton sollte sich seiner schweizerischen Zugehörigkeit als würdig erweisen und ein Beispiel des Fortschritts sein. Bis 1830 bedurfte es dazu nicht viel, denn Genf hatte einen Teil der Gesetze aus der französischen Zeit behalten und besass dadurch – zumindest bis in die Regenerationszeit – weniger konservative Rechtsgrundlagen als die übrigen Kantone. So garantierte die Genfer Verfassung als einzige die Pressefreiheit (Presse). In diesem Zusammenhang steht der Reformschub unter Jean-Jacques Rigaud, der durch die Befürchtung ausgelöst wurde, dem politischen Ruf der Stadt als Modell einer Evolution ohne Revolution nicht mehr zu genügen. In einer Zeit, in der die Erinnerungen an 1789 noch traumatisierend nachwirkten, war der Stolz der Genfer Behörden verständlich. Er sollte von kurzer Dauer sein.

Die Regierungstruppen ziehen sich bei der Place Bel-Air am 7. Oktober 1846 zurück. Lithografie eines unbekannten Künstlers (Bibliothèque de Genève).
Die Regierungstruppen ziehen sich bei der Place Bel-Air am 7. Oktober 1846 zurück. Lithografie eines unbekannten Künstlers (Bibliothèque de Genève). […]

Schon bald wurde der Reformeifer durch den Rücktritt der grossen liberalen Denker und den Aufstieg konservativer Politiker (Konservatismus) an die Schaltstellen der Regierung gebremst. Dies weckte die Unzufriedenheit einer mit dem Radikalismus sympathisierenden Gruppe, der es immer schwerer fiel, ihrer Meinung Gehör zu verschaffen. Zu Beginn der 1840er Jahre organisierte sie sich in der Association du Trois Mars. Um die blockierte Situation aufzubrechen, geisselte sie die institutionelle Rückständigkeit der Republik und deren Unfähigkeit, den Mitkantonen in Sachen Demokratisierung ein Beispiel zu geben, und rief die Bevölkerung dazu auf, zu den Waffen zu greifen. Überzeugt von ihrer Mission, innerhalb der Eidgenossenschaft als treibende Kraft zu wirken, erhoben sich die Genfer am 22. November 1841 in einer friedlichen Revolution – eigentliche Gewalttaten fanden nicht statt. Das Ergebnis fiel zwiespältig aus. De jure stellte die Revolution zwar die radikalen Anführer und ihre Sympathisanten vollständig zufrieden, da sie insbesondere das allgemeine Wahlrecht (für Männer) brachte. De facto aber löste sie auf breiter Basis einen Reflex des schlechten Gewissens aus. So vollzogen mehrere politische Führer eine deutliche Wende nach rechts, während die Bürger ihre neuen Rechte dazu nutzten, konservative Vertreter zu wählen, welche die Wirkungen des Aufstands zu neutralisieren suchten. Als die Regierung zu den politisch-religiösen Ereignissen, welche die Eidgenossenschaft Mitte der 1840er Jahre erschütterten, Stellung beziehen musste, sprach sie sich ängstlich gegen die Freischarenzüge aus und rang sich nicht zur Verurteilung des Sonderbunds durch. James Fazy, der Anführer der Radikalen, forderte Anfang Oktober 1846 die Menge mit den gleichen Argumenten wie im Jahr 1841 zur Ergreifung der Macht auf, damit sich der Kanton Genf dem Sonderbund entgegenstellen und seine Rolle als politisches Vorbild wieder übernehmen könne. Am 7. Oktober 1846 führten der Verlust des Rückhalts in der katholischen Bevölkerung, die Fahnenflucht der Miliz und die Hartnäckigkeit der oft aus anderen Kantonen zugewanderten Aufständischen endgültig zum Fall des Restaurationsregimes.

Die radikale Vorherrschaft (1847-1914)

James Fazy trat, wie er es versprochen hatte, für die Auflösung des Sonderbunds ein und nahm die Ausarbeitung einer neuen Verfassung in Angriff. Diese wurde am 24. Mai 1847 angenommen und sicherte der radikalen Vorherrschaft (Freisinnig-Demokratische Partei, FDP) eine gewisse Dauerhaftigkeit, indem sie diejenigen, welche die Revolution unterstützt hatten, direkt oder indirekt begünstigte. Sie stellte – wenn nicht der Form, so doch dem Namen nach – den Generalrat wieder her, gewährte den oft stärker politisierten Schweizern aus den übrigen Kantonen das Wahlrecht, garantierte die Glaubensfreiheit, schuf auf dieser Grundlage die letzten Privilegien ab, die der reformierte Kultus noch genossen hatte, und löste schliesslich auch die Société économique auf, jene Institution, die den Unterschied zwischen den alten und neuen Genfer Bürgern verkörpert und tradiert hatte. In dieser demokratischen Aufbruchstimmung liess Fazy den Staatsrat alle zwei Jahre durch die Bevölkerung wählen. Diese Massnahme bescherte dem Kanton mehr als ein halbes Jahrhundert lang ein intensives politisches Leben voller Einfallsreichtum und Instabilität. Denn die häufigen Wahlen bewirkten zahlreiche Veränderungen in der Regierung. 1853 gelang es einigen unzufriedenen Radikalen sogar, Fazy abzuwählen und ihn während der Amtszeit der sogenannten Regierung der Wiederherstellung von der Macht fernzuhalten.

Zu den radikalen Dissidenten kamen bald weitere Unzufriedene – Reaktionäre, Gemässigte oder Katholiken – hinzu, die sich in der unabhängigen Partei vereinigten und gegenseitig stärkten. 1865-1870 dominierte der Anführer dieser Gruppierung, der ehemalige Revolutionär Philippe Camperio, den Staatsrat, in dem er einen Mittelweg einschlug und eine konservative, aber nicht rückwärtsgewandte Politik verfocht. Doch seine Strategie missfiel schliesslich auf der rechten wie auf der linken Seite. Unter dem Einfluss von Antoine Carteret gelangten die Radikalen 1870 wieder an die Macht und leiteten die Episode des Kulturkampfes ein. Die breite antiultramontane Bewegung zielte auf eine totale Unterdrückung jeglicher Struktur, die sich der staatlichen Kontrolle zu entziehen schien, und auf eine Überhöhung der Genfer Identität ab; sie kann daher paradoxerweise als das Ergebnis einer missbräuchlichen Anwendung der Prinzipien von 1846 gedeutet werden. In weniger als zehn Jahren veränderte dieser überspannte «Kampf für die Zivilisation» die politische Landschaft im Kanton. Das alte Patriziat verband sich mit den Katholiken und der Landschaft in der demokratischen Partei, welche die Radikalen herausforderte. Als selbsternannte Verteidigerin der individuellen Rechte gab sie den Anstoss zur Umwandlung des Repräsentativsystems in eine halbdirekte Demokratie.

Die Konservativen nehmen am 22. August 1864 das Zeughaus ein. Anonyme Flugschrift (Bibliothèque de Genève).
Die Konservativen nehmen am 22. August 1864 das Zeughaus ein. Anonyme Flugschrift (Bibliothèque de Genève). […]

Die durch die Verfassung von 1846 entstandene Instabilität mündete eher ungewollt in die Vermehrung der Wahlkreise, in die Einführung des fakultativen Referendums 1879, der Gesetzesinitiative 1891 (Initiative), der Volkswahl der Ständeräte und des Proporzes 1892 (Wahlsysteme). Letzterer ermöglichte es neuen Kräften, die politische Bühne zu betreten, so der noch nicht sehr einflussreichen unabhängigen-katholischen Partei (einer Vorgängerin der Christlichdemokratischen Volkspartei, CVP) und der sozialdemokratischen Arbeiterpartei (Sozialdemokratische Partei, SP). Nachdem 1866 in Genf ein Kongress der Internationalen Arbeiterassoziation (Internationale) stattgefunden hatte, war diese Bewegung nicht mehr zu vernachlässigen. Gerade weil es die Radikalen verstanden, Anliegen der Sozialisten rechtzeitig in ihr Programm aufzunehmen und sich mit deren Kandidaten zu verbünden, waren sie ihren Konkurrenten von der demokratischen Partei im Spiel der wechselnden Regierungen, das die Jahrhundertwende prägte, überlegen. Die Demokratisierung hatte nicht nur theoretische und ideologische, sondern auch ganz praktische Vorteile. Sie trug wesentlich zur Besänftigung der Gemüter bei, indem sie den Minderheiten Einflussmöglichkeiten zugestand und die Ausübung des Wahlrechts versachlichte. Denn bis anhin hatte die reine Majorzwahl der im Generalrat vereinigten Wahlberechtigten den Ausbruch von Tumulten begünstigt. Am 22. August 1864 war nach blutigen Unruhen mit Toten und Verletzten sogar eine Bundesintervention nötig geworden.

Am selben Tag, als die blutigen Unruhen ausbrachen, wurde an einer diplomatischen Konferenz, an der Gustave Moynier, Guillaume-Henri Dufour und Samuel Lehmann die Schweiz vertraten, die Genfer Konvention unterzeichnet (Rotes Kreuz). Dieses Dokument legte den Grundstein für das spätere Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK) und markiert den Beginn der internationalen Rolle Genfs. Angeregt vom Geist der Reformation, den die Bewegung des Réveil wieder zum Leben erweckt hatte (Erweckungsbewegungen), und beeinflusst von einer Tradition der Gastfreundschaft, auf die sich alle Parteien beriefen, behauptete die Republik ihre internationale Bedeutung nicht nur auf dem Gebiet der Wohltätigkeit. Schon Ende der 1860er Jahre machte Genf auch als Ort wichtiger politischer Verhandlungen weltweit von sich reden. Einerseits wurde die Stadt zum Zentrum für Konfliktregelung – 1867 beherbergte sie einen Friedenskongress und 1871-1872 das Alabama-Schiedsgericht –, andererseits dauerte es nicht lange, bis die internationale Ausstrahlung Genfs als Hauptbeitrag des jüngsten Kantons an das neue helvetische Vaterland betrachtet wurde. Dies ermöglichte es Genf, weiterhin an die eigene Unabhängigkeit zu glauben, ohne sich an deren Unannehmlichkeiten zu stören.

Unterzeichnung der Genfer Konvention, August 1864. Öl auf Leinwand von Edouard Armand-Dumaresq (Rathaus von Genf).
Unterzeichnung der Genfer Konvention, August 1864. Öl auf Leinwand von Edouard Armand-Dumaresq (Rathaus von Genf). […]

Genf und die Eidgenossenschaft

Als die Vertreter der eidgenössischen Stände am 12. September 1814 in Zürich dem Eintritt Genfs in die Eidgenossenschaft zustimmten, bedeutete dieser Entscheid für das neue Mitglied auch die Verpflichtung, einen Beitrag zur Landesverteidigung in Form von Geld und Truppen zu leisten sowie die gemeinsame Politik mitzugestalten. Bis 1848 schickte Genf rund 30 Gesandte an die eidgenössische Tagsatzung, darunter einige von grossem Format. Pellegrino Rossi etwa erhielt den Auftrag, eine neue Bundesverfassung auszuarbeiten. 1832 wurde sein Projekt zwar von den konservativsten Abordnungen zurückgewiesen, aber einige der von ihm vorgeschlagenen institutionellen Neuerungen wie zum Beispiel die Einrichtung eines Bundesrats gingen nicht vergessen (Rossi-Plan). Zur selben Zeit befasste sich Jean-Jacques Rigaud mit der Beilegung der Konflikte in Schwyz und Basel. 1838 ermahnte er die Schweiz, unterstützt von seinem Waadtländer Kollegen Charles Monnard, dem Ultimatum Frankreichs zu widerstehen, das die Ausweisung des rührigen Louis Napoleon und späteren Kaisers Napoleon III. aus seiner thurgauischen Exilheimat forderte.

Nach der Revolution von 1846 stimmten die radikalen Vertreter Genfs an der Tagsatzung für die Auflösung des Sonderbunds und trugen auf diese Weise zur Entscheidung bei, die von ihrem Landsmann Guillaume-Henri Dufour in einem kurzen und fast unblutigen Konflikt durchgesetzt wurde. Der Bürgerkrieg bildete das unvermeidliche Vorspiel zur Gründung des modernen Bundesstaats, für den James Fazy nach eigenen Angaben die Idee des Zweikammersystems beigesteuert haben soll. Diese Beteuerung illustriert, wie sehr sich Genfer in die nationale Politik einbrachten. Genf brachte auch eine Reihe bedeutender Bundespolitiker hervor; die Radikalen Jean-Jacques Challet-Venel (1864-1872) und Adrien Lachenal (1893-1899) wurden in den Bundesrat gewählt. Letzterer war 1896 Bundespräsident.

Die begeisterte Mitarbeit verursachte aber auch Spannungen, die von unterschiedlichen Konzeptionen des Radikalismus herrührten. Schon in den 1850er Jahren exponierte sich die Genfer Regierung, als sie die Ausweisung politischer Flüchtlinge in ihre Herkunftsländer verweigerte, zu der sich Bern verpflichtet hatte. Nachdem der Bundesrat gezögert hatte, die Neutralität Nordsavoyens vor dem Zugriff Napoleons III. zu schützen, organisierten 1860 einige Genfer Aktivisten einen Eroberungszug (Savoyerhandel). Dieses Unternehmen, das kläglich scheiterte, verärgerte die Bundesbehörden und brachte die Option Schweiz in Misskredit bei den Savoyern, die schliesslich der Vereinigung mit Frankreich zustimmten. 1872 sprach sich Challet-Venel gegen die Revision der Bundesverfassung seiner radikalen Kollegen aus, weil sie zu einer Zentralisierung des Staatsapparates geführt hätte; er wurde deswegen als Bundesrat nicht wiedergewählt. Obschon der Affront einen Genfer traf, fühlte sich die gesamte französischsprachige Schweiz angegriffen. Umgekehrt trug Genf seinerseits die Empfindlichkeiten der Westschweiz von nun an mit. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs empörte sich der Kanton wie die anderen welschen Kantone über den Gotthardvertrag von 1909. Trotz der Übereinstimmung fusste der Unmut der Genfer auf einem speziellen Grund: Der jüngste Kanton fühlte sich für seine der Eidgenossenschaft grosszügig erwiesenen Dienste schlecht belohnt und reagierte mit Verstimmung, ja mit einem Rückzug auf sich selbst.

Das politische System

Im politischen System Genfs, das durch die verschiedenen Verfassungen der Republik geprägt wurde und auf die Eidgenossenschaft zugeschnitten war, widerspiegelt sich auch die eigene Geschichte. Der Nachhall der Vergangenheit erklärt, warum die Assimilation der Stadt in den Kanton bis 1842 dauerte. Dieser wurde durch den Staatsrat (Kantonsregierungen) gelenkt, dessen 28 Mitglieder auf Lebenszeit gewählt waren und in sämtlichen das öffentliche Leben regelnden Kommissionen Einsitz nahmen. Zu Beginn der 1830er Jahre hob eine Reihe von Reformen die Unabsetzbarkeit der Staatsräte auf, ohne jedoch deren gesetzgeberische Vorrechte anzutasten; nach wie vor gehörten diese dem Repräsentierenden Rat an, der insgesamt 250 Abgeordnete zählte (Parlament). Trotz einer gewissen Autonomie, die ihm das von Etienne Dumont nach dem Vorbild des englischen Parlaments verfasste Reglement zusicherte, fühlte sich der Repräsentative Rat immer stärker zurückgebunden. Ab 1841 versuchte er, sich auf zwei verschiedenen Wegen zu emanzipieren. Auf der einen Seite leitete die Revolution vom 22. November 1841 eine Demokratisierung der Institutionen ein, die 1847 zu den heute noch aktuellen Verfassungs- und Verwaltungsnormen führte. Die 1842 in Angriff genommene Gewaltentrennung war fünf Jahre später vollendet, ebenso die Verkleinerung der Regierung. 1842-1847 sank die Zahl der Mitglieder im Repräsentierenden Rat – er hiess jetzt wieder Grosser Rat – auf 170, dann auf 100, während in derselben Zeitspanne die Zahl der Staatsräte auf sieben reduziert wurde. Auf der anderen Seite brachte die Revolution von 1841 für Genf eine durch Wahl zu bestellende Gemeindeverwaltung (Gemeindebehörden). Diese Lösung wurde durch die jüngere Geschichte vorbereitet. Unter französischer Herrschaft hatte das Stadtgebiet wie die umliegenden Gemeinden eine Mairie bekommen. Im Gegensatz zum Hauptort behielten Letztere diese Errungenschaft aus der Kaiserzeit während der Restauration bei. Jede Gemeinde besass ihren Maire, der von mehreren vom Staatsrat gewählten Adjunkten unterstützt wurde. Am 17. Januar 1834 proklamierte ein Gesetz die Wahl der Gemeinderäte, die das an Streitigkeiten reiche Gemeindeleben kanalisierten und den kantonalen Instanzen davon Bericht zu erstatten hatten. In den Communes réunies bewirkten die Konflikte eine neue Festlegung der Gemeindegrenzen, die zu Beginn der Restauration oft willkürlich festgesetzt worden waren. Während des ganzen 19. Jahrhunderts wurden knapp zehn Gemeinden aufgeteilt (z.B. Compesières 1851), obwohl die Lebensbedingungen sicherlich sehr ähnlich gewesen sein dürften.

Das politische Leben im 20. Jahrhundert

Vor und während des Ersten Weltkriegs

Das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts zeichnete sich durch eine recht günstige Konjunkturlage und durch wirtschaftliches Wachstum, aber auch durch den Aufstieg der Arbeiterbewegung aus. Die von den Sozialdemokraten mehr oder weniger unterstützte radikale Regierung wurde von den Konservativen und in geringerem Mass von den revolutionären Gewerkschaftern bekämpft. Der hohe Bevölkerungsanteil ausländischer Arbeiter aus den Grenzregionen (Ausländer) und politisch aktiver Flüchtlinge (Einwanderung) übte ebenfalls einen gewissen Einfluss auf das politische Leben in Genf aus, obwohl Letztere in kantonalen Angelegenheiten wenig in Erscheinung traten.

Als der Erste Weltkrieg ausbrach, war Genf gerade mit den Feiern zum hundertjährigen Jubiläum seines Eintritts in die Eidgenossenschaft beschäftigt. Unmittelbar nach dem Beginn der Feindseligkeiten machte sich hier wie auch andernorts in der Westschweiz eine frankophile Stimmung bemerkbar, die insbesondere in der Presse artikuliert wurde. Einige Intellektuelle aus dem Umkreis der Neuen Helvetischen Gesellschaft (NHG) äusserten deshalb bezüglich der Einheit der Schweiz ihre Bedenken, welche auch die Wahl des Genfers Gustave Ador 1917 in den Bundesrat als Nachfolger von Arthur Hoffmann nicht zerstreuen konnte.

Die Kriegsjahre waren infolge des Wegzugs zahlreicher ausländischer Arbeiter und der Schliessung der Auslandmärkte von wirtschaftlichen Schwierigkeiten geprägt. Einem Teil der Genfer Industrie, vor allem der Maschinenindustrie und der chemischen Industrie, gelang es, sich zu behaupten, ja manchmal hohe Gewinne zu erzielen, indem sie sich auf die Fabrikation von Munition verlegte. Für die Arbeiterschaft hingegen kamen zum Rückgang der Reallöhne noch Rationierungen hinzu, sodass eine – wenig wirkungsvolle – Versorgungskommission eingesetzt wurde, um die Ernährung der Bevölkerung sicherzustellen. Die Spanische Grippe (über 1100 Todesfälle im Kanton, Grippe), die im Sommer und dann wieder im Oktober und November 1918 auftrat, verschlimmerte die Situation. Dass sich mehrere Tausend Genfer Arbeiter am Generalstreik vom November 1918 beteiligten, überraschte dennoch, weil der Krieg die sozialistische Linke gespalten hatte. Der frankophile Nationalrat Jean Sigg, der der Landesverteidigung zugestimmt hatte, war 1917 aus der Partei ausgeschlossen worden. Der Anstieg der Lebenshaltungskosten, die von den Behörden schlecht aufgefangenen Auswirkungen der langen Kriegssituation und die durch die Ereignisse in Russland geschürten Hoffnungen (Russische Revolution) begünstigten jedoch eine gewisse Mobilisierung der Gesellschaft. Obwohl es wegen der Teuerung zu harten Auseinandersetzungen kam, liessen sich die Genfer Arbeiter kurz vor dem Streik im November 1918 kaum dazu bewegen, die Zürcher Bankangestellten zu unterstützen.

Mit dem Ausbruch des Streiks stellte die bürgerliche Seite sofort Bürgerwehren auf, welche die Streikbewegung zerschlagen und ihre Entschlossenheit, den Bolschewismus zu bekämpfen, unterstreichen sollten. Am 11. November 1918, am Tag nach dem Waffenstillstand und – aufschlussreiches Zusammentreffen – des konservativen Triumphs bei der Wahl der Kantonsregierung, hielten sich die Ausschreitungen (Schlägereien, Verhaftungen, Verprügeln von Arbeiterführern) zwar in Grenzen und waren nur von kurzer Dauer, aber sie blieben, wie in der übrigen Schweiz, für lange Zeit im Gedächtnis haften. Unter einer neuen Generation von militanten Führern bildete sich eine radikalisierte Arbeiterbewegung heraus. Der Streik löste aber in der Genfer Gesellschaft vor allem einen kräftigen konservativen Ruck aus.

Die Zwischenkriegszeit

Postkarte zur Erinnerung an die erste Vollversammlung des Völkerbunds im November 1920 (Privatsammlung).
Postkarte zur Erinnerung an die erste Vollversammlung des Völkerbunds im November 1920 (Privatsammlung). […]

Nach dem Krieg konnte Genf seinen Ruf als Schiedsgerichtsort festigen, als es 1920 Sitz des Völkerbunds wurde. Dennoch blieb die Zahl der internationalen Organisationen (IO) auf dem Genfer Territorium begrenzt, und sogar die Verfechter des esprit de Genève gaben zu, dass die Öffnung zur Welt mit einer gewissen Tendenz zur Abschottung einherging, die der Integration des kosmopolitischen Elements entgegenstand.

Die Ausländer, die Genf bei Kriegsausbruch verlassen hatten, kehrten nicht alle zurück. Sie wurden hauptsächlich durch einen Zustrom von Schweizern ersetzt, unter denen sich viele Arbeiter befanden, die das Stimmrecht besassen. Nach einer kurzen wirtschaftlichen und finanziellen Krise zeichneten sich die 1920er Jahre durch ein relatives Wachstum aus. In dieser Lage wurden 1924 zwei Sozialdemokraten in den Staatsrat gewählt, 1927 dann nur noch ein einziger. Allerdings wurden die 1920er Jahre vor allem durch das Auftreten der Union de défense économique (1923) geprägt, die als heftige Reaktion des Mittelstands und der Arbeitgeberkreise gegen Etatismus, Sozialismus und Moderne gewissermassen eine Verlängerung des konservativen und antibolschewistischen Rucks von 1918 darstellte.

Die Zwischenkriegszeit war von einer sehr starken Polarisierung des politischen Lebens gekennzeichnet. Der Streit um die Freizonen – Frankreich hatte einseitig die grosse Zone aufgehoben und damit einen langen Rechtsstreit ausgelöst, musste aber schliesslich die kleinen Zonen wieder herstellen – verhinderte Genfs natürliche Eingliederung in den regionalen Wirtschaftsraum. Die Auseinandersetzung konfrontierte die Genfer mit der Realität ihres kleinen Territoriums, die im Gegensatz zu ihrer internatioanlen Bestimmung stand.

Angesichts der Krise der 1930er Jahre, als Arbeitslosigkeit und Elend explosionsartig zunahmen und die Behörden die Politik der Lohnsenkungen mittrugen, legten die Arbeitskämpfe an Heftigkeit zu, und die Allianz zwischen Radikalen und Sozialdemokraten zerbrach. Unter dem Einfluss des Grossrats und Volkstribunen Léon Nicole wurde die Genfer Sozialdemokratie unnachgiebiger, zumindest verbal. Die Gewerkschaften erfuhren eine Radikalisierung durch hitzige Militante wie Lucien Tronchet, Gewerkschafter im Bausektor, der einem revolutionären Syndikalismus anhing. Charles Rosselet, Präsident des Gewerkschaftsbunds, nahm zwar eine weniger kämpferische Haltung ein, verteidigte aber in Anbetracht der Krise die Notwendigkeit einer alternativen Wirtschaftspolitik. Die christliche Gewerkschaftsbewegung ihrerseits trat für die Überwindung des Klassenkampfs ein und die gemeinschaftliche Zusammenarbeit, d.h. für gemeinsame Organisationen von Arbeitern und Arbeitgebern: den Korporativismus. Diese Sichtweise der sozialen Frage, die den Klassenkampf negieren wollte, teilte die extreme Rechte, allerdings in einer autoritäreren Form.

1932 drang die Union nationale, eine von Benito Mussolini inspirierte und von Georges Oltramare geleitete profaschistische Partei, spektakulär in die politische Landschaft Genfs ein und nahm im Grossrat Einsitz, in dem sie die Nachfolge der im Niedergang begriffenen Union de défense économique antrat. Die Mitglieder dieser antidemokratischen Bewegung paradierten ganz nach dem Vorbild der faschistischen Aufmärsche durch die Strassen. Ihre Zeitung Le Pilori fuhr einen durch und durch antisemitischen Kurs und ihre Parolen zeugten von einer aussergewöhnlichen Gewaltbereitschaft. Die traditionelle Rechte und die Arbeitgeber fanden sich mit ihr weitgehend ab – im Namen des gemeinsamen Kampfes gegen den Sozialismus und dessen Heimat, die Sowjetunion.

Die bürgerlichen Kräfte verwickelten sich in Bankenskandale, vor allem im Zusammenhang mit den Geldern, welche die öffentliche Hand gesprochen hatte, um die Banque de Genève zu retten (1931), notabene zu einem Zeitpunkt, als die finanzielle Lage des Kantons katastrophal war. Mit Erfolg bekämpften sie eine sozialdemokratische Steuerinitiative, welche die Vermögenden stärker belasten wollte. Im Gefolge der Genfer Unruhen, als am 9. November 1932 ein Aufgebot von Rekruten gewaltsam gegen eine antifaschistische Demonstration vorging und die Schiesserei 13 Tote und 65 Verletzte forderte, errangen die Sozialdemokraten in der Regierungswahl von 1933 die Mehrheit, blieben jedoch im Grossen Rat in der Minderheit. Nachdem der Regierung die finanziellen Mittel beschnitten worden waren, ging das Experiment 1936 zu Ende. Doch die Erinnerung an diese unruhige Zeit blieb lange wach.

Ab 1936 hielt die Entente nationale (Radikale, Demokraten, d.h. die späteren Liberalen, und Christlichsoziale, d.h. die späteren Christdemokraten) die Macht fest in ihren Händen. Sie versuchte, ein Gesetz einzuführen, das Arbeitgeber und Lohnabhängige dazu verpflichten wollte, sich an verbindliche Gesamtarbeitsverträge zu halten. Doch der Linken gelang es, das Gesetz unter Berufung auf die Handels- und Gewerbefreiheit zu Fall zu bringen. Rasch liess die Entente nationale auch die Kommunistische Partei (KP) verbieten, deren Mitglieder sich daraufhin der Sozialdemokratischen Partei anschlossen. Diese konnte aber nach der Unterzeichnung des Arbeitsfriedens in der Metallindustrie vom Juli 1937 und dessen Ratifizierung auf der Ebene Genfs 1938 keine glaubwürdige Alternative vorschlagen. Léon Nicoles Anhänger wurden 1939 sogar aus der Sozialdemokratischen Partei der Schweiz ausgeschlossen, weil sie den Hitler-Stalin-Pakt nicht verurteilt hatten. Sie gründeten deshalb die Fédération socialiste, der sich eine grosse Mehrheit ihrer alten Wähler anschloss. Nachdem diese wie die Kommunistische Partei verboten worden war, tauchten ihre Mitglieder nach dem Kriegsende in der Partei der Arbeit (PdA) wieder auf.

Während und nach dem Zweiten Weltkrieg

Die Union nationale unterhielt Beziehungen zu den bürgerlichen Parteien und hätte, vereint in der gemeinsamen Abneigung gegen den Bolschewismus, beinahe mit den Liberalen fusioniert. Als sie 1942 im Kantonsparlament nicht mehr vertreten war, wurde das politische Leben Genfs vorübergehend auch vom Durchbruch des Landesrings der Unabhängigen (LdU) geprägt. Diese Tatsache zeigt, dass die traditionellen bürgerlichen Parteien nicht alle potenziellen Wähler überzeugen und für sich gewinnen konnten. Der Zeitgeist richtete sich jedoch wie in der übrigen Schweiz im Sinne der Geistigen Landesverteidigung auf Werte wie die Einheit des Landes, das politische Zusammenstehen, den Patriotismus und die christliche Moral und manifestierte sich im Rückzug auf das Alpenréduit, das den kollektiven Willen zum Widerstand zu symbolisieren hatte. Er gab aber auch autoritären Vorstellungen Aufwind.

Flüchtlinge beim Appell im Lager Varembé, September 1942. Fotografie von Willy Roetheli (Ringier Bildarchiv, RBA1-1-75) © Staatsarchiv Aargau / Ringier Bildarchiv.
Flüchtlinge beim Appell im Lager Varembé, September 1942. Fotografie von Willy Roetheli (Ringier Bildarchiv, RBA1-1-75) © Staatsarchiv Aargau / Ringier Bildarchiv. […]

Die Auswirkungen des Krieges und die Nähe der Truppen der Achsenmächte begünstigten im Kanton ein Klima der Vorsicht. René Payot beispielsweise gehörte zu den zahlreichen Personen in Genf, die anfänglich der Idee einer nationalen Erneuerung nach dem Vorbild des Vichy-Regimes zugeneigt waren, bevor sie die Résistance und die Alliierten unterstützten. Genf stellte für all jene, die in die Schweiz wollten, um ihr Leben zu retten, ein Grenzgebiet von erstrangiger Bedeutung dar. In der Region wurden, unter anderem in Verbindung mit der Résistance, heimliche Grenzübertritte von Flüchtlingen organisiert. Die lokalen Behörden und einige Beamte zeigten sich aber unerbittlich und wiesen Juden zurück (ihre Anzahl ist ungewiss). Auf diese Weise nahmen sie in Kauf, dass die abgewiesenen Juden (Judentum) in die Hände der Deutschen fielen, was den Staatsrat 2000 dazu bewog, sein Bedauern über das Geschehene auszudrücken.

Die deutsche Kapitulation wurde in Genf mit grosser Freude begrüsst. Nach dem Krieg erholte sich die Wirtschaft sehr schnell. Neue Arbeiterproteste brachen aus, vor allem ein Streik für die Bezahlung von Feiertagen im Baugewerbe: Alle wollten vom sich abzeichnenden Wohlstand profitieren. Die Partei der Arbeit stieg mit 36 Vertretern zur stärksten Kraft im Kantonsparlament auf. Offenbar hatten die unteren Volksschichten das Verbot der Kommunistischen Partei und der Fédération socialiste nicht geschätzt. Zudem verlieh der grosse Beitrag der sowjetrussischen Bevölkerung zur Befreiung Europas der Partei der Arbeit ein Prestige, das den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 vergessen liess. Die Sozialdemokratische Partei, die sich aus jenen neu zusammengesetzt hatte, die Léon Nicole nicht hatten folgen wollen, erreichte nach dem Krieg nur neun Sitze und musste bis 1961 warten, bis sie mehr Abgeordnete als die Partei der Arbeit stellte. Letztere hielt sich trotz einer Krise in den 1950er Jahren nach dem Rücktritt Nicoles und einem gewissen Niedergang in den 1980er Jahren in der politischen Landschaft Genfs.

Die Jahre des Konjunkturaufschwungs (1945-1975)

Nach 1945 verfügten die bürgerlichen Parteien im Gross- wie auch im Staatsrat durchgehend über eine breite Mehrheit, obschon ein, später zwei Sozialdemokraten regelmässig in der Regierung sassen. Auch wenn Genf nicht zum Hauptsitz der Vereinten Nationen (UNO) ernannt wurde, erhielt die Stadt doch deren europäischen Sitz und hiess in der Folge auf ihrem Territorium eine grosse Zahl internationaler Organisationen willkommen. Die günstige Konjunkturlage und der sich daraus ergebende Wandel führten auch bei den Bürgerlichen zu einer Neuausrichtung der politischen Debatte. Es ging nun darum, das Wachstum zu lenken, indem die für die Ansiedlung neuer Industrien und Dienstleistungen notwendigen Infrastrukturen bereitgestellt wurden.

Die 1962-1971 von den Architekten Georges Addor, Jacques Bolliger, Dominique Julliard und Louis Payot realisierte Cité Le Lignon (Bibliothèque de Genève; Fotografie A. & G. Zimmermann).
Die 1962-1971 von den Architekten Georges Addor, Jacques Bolliger, Dominique Julliard und Louis Payot realisierte Cité Le Lignon (Bibliothèque de Genève; Fotografie A. & G. Zimmermann). […]

Die 1950er und 1960er Jahre bildeten die Bühne für einen immensen Wirtschaftsaufschwung, der einen neuen Zustrom von Einwanderern, aber auch eine soziale Öffnung brachte. Das demografische Wachstum verursachte mit einem gewaltigen Bauboom und dem Entstehen von Satellitenorten in Meyrin, Onex oder Le Lignon (Gemeinde Vernier) im Stadtbild und auf dem kantonalen Gebiet tiefgreifende Veränderungen. An verschiedenen Orten der Genfer Peripherie entstanden Industriezonen: zuerst in La Praille und Les Acacias (beide Gemeinde Genf), dann in Meyrin, Satigny, Vernier und Plan-les-Ouates. Die bürgerliche Regierungsmehrheit erwies sich als sehr ideenreich, wenn es darum ging, Antworten auf die Bedürfnisse der Wirtschaft und Gesellschaft zu finden, so etwa beim sozialen Wohnungsbau. Sie vertrat damit die Interessen des stark expandierenden Mittelstands.

Nachdem die Frauen 1960 nach langem Kampf die politischen Rechte auf kantonaler Ebene errungen hatten, erlitten die Radikalen in den Wahlen von 1961 eine harte Niederlage. 1965 erlebte Genf aber noch eine ganz andere politische Erschütterung: Die fremdenfeindliche und traditionalistische Bewegung (Fremdenfeindlichkeit) der rechtsextremen Vigilance nahm Einsitz im Grossrat (sie errang noch 1989 neun Sitze, verschwand jedoch 1993). Im Gefolge des Mai 1968 entstanden innerhalb der Jugend neue politische Formen, vor allem im kulturellen und genossenschaftlichen Bereich, und neue Themen wie Feminismus, Antimilitarismus und Ökologie (Ökologische Bewegung) wurden lanciert. Links der Partei der Arbeit wurden verschiedene kleine Gruppierungen politisch aktiv. Diese Entwicklung verlief parallel zu einer Liberalisierung der Sitten und im Einklang mit einer progressiveren Geisteshaltung. Allerdings verschoben sich im Genfer Kantonsparlament die Gewichte bis zur Entstehung der Grünen Partei 1985 (acht von 100 Sitzen) nur unwesentlich. Dafür wählte Genf nach der Einführung des Frauenstimmrechts auf Bundesebene mit Lise Girardin 1971 die erste Ständerätin der Schweiz.

Sitze des Kantons Genf in der Bundesversammlung 1919-2015

 19191939195919671971197919831991199519992003200720112015
Ständerat
FDP11111 11111   
LP11111111      
SP     1  111111
Grüne           111
Nationalrat
FDP33322221221123
CVP11112112121111
LP211222332222  
SP21122323423333
PdA / Alliance de gauche 222321121    
Solidarités / Alliance de gauche         11   
PEG / Grüne      11 11221
Vigilance     11       
SVP          2222
MCG            11
Andere   1a          
Total8881011111111111111111111

a Landesring der Unabhängigen

Sitze des Kantons Genf in der Bundesversammlung 1919-2015 -  Historische Statistik der Schweiz; Bundesamt für Statistik

Zusammensetzung des Regierungsrats im Kanton Genf 1981-2013

 198119851989199319972001200520092013
FDP21122 112
CVP122212112
LP22231212 
SP222 22211
Grüne    11221
MCG        1
Total777777777
Zusammensetzung des Regierungsrats im Kanton Genf 1981-2013 -  Bundesamt für Statistik

Zusammensetzung des Grossrats im Kanton Genf 1919-2013

 1919192419331939195419651977198519932001200520092013
FDP22231934322217151512121124
CVPa12101314171715131412121111
LPb321414171615201927232320 
SP2729457122024181519171515
PdAc / Alliance de gauche   2816161682113  1
PEGd / Grüne       8811161710
UDE 24           
Union nationale  9          
Vigilance     10819     
SVP         1011911
MCG          91720
Andere7e   7f       8
Total100100100100100100100100100100100100100

a 1892-1926: Parti indépendant; 1926-71: Parti indépendant chrétien-social

b 1873-1957: Parti démocratique

c 1939-45: Fédération socialiste

d Parti écologiste genevois

e Jung-Radikale

f Parti progressiste

Zusammensetzung des Grossrats im Kanton Genf 1919-2013 -  Historische Statistik der Schweiz; Bundesamt für Statistik; Chancellerie d'Etat de Genève

Die Infragestellung der Wohlstandsgesellschaft (seit 1975)

Während die Generation der dreissig Jahre anhaltenden Hochkonjunktur hemmungslos gebaut und an die Perspektive eines Kantons von 800'000 Einwohnern geglaubt hatte, sah sich diejenige der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts dazu gezwungen, diesen Enthusiasmus zu überdenken und die gesellschaftlichen Gleichgewichte wiederherzustellen. Gelang es Genf noch in den 1970er Jahren, die Auswirkungen der Wirtschaftskrise in Grenzen zu halten, schlug die Rezession zu Beginn der 1990er Jahre schlimmer durch als in der übrigen Schweiz. Eine im schweizerischen Vergleich sehr hohe Arbeitslosigkeit (1992 4,7%, 1994 7,6%, 1999 5,1%, 2004 7,3%) und eine schwere Finanzkrise des Kantons führten zu einer neuen Polarisierung des politischen Lebens. 1993 beanspruchten und eroberten die bürgerlichen Parteien zum ersten Mal in der Nachkriegszeit alle Sitze im Staatsrat. Das Experiment scheiterte und mündete vier Jahre später in die Wahl einer Regierung, die nur noch vier Bürgerliche aufwies (darunter mit der Liberalen Martine Brunschwig Graf die erste Frau). Linke und Grüne besassen 1997-2001 zum ersten Mal eine hauchdünne Mehrheit (51 der 100 Sitze) im Grossen Rat. Einen starken Faktor innerhalb der Genfer Linken bildete die Alliance de Gauche aus PdA, SolidaritéS und Unabhängigen. Allerdings verlor sie aufgrund der Sperrklausel 2005 alle Sitze im Grossen Rat. Die Grünen nahmen 1997 erstmals Einsitz in der Exekutive, wo seit 2013 auch das Mouvement citoyens genevois (MCG) vertreten ist. Der Kanton bildet heute einen einzigen Wahlkreis, und für die Proporzwahl gilt eine Sperrklausel von 7%.

Unter der Vorherrschaft der Liberalen Partei (LP) näherten sich die Standpunkte der bürgerlichen Kräfte einander an. Die Genfer Politik wird jedoch immer wieder von einem konstanten Druck seitens rechtsextremer Gruppierungen geprägt, die manchmal aus Wirtschaftskreisen Unterstützung erhalten, um die Steuern zu senken oder die Rolle des Staates zurückzubinden. 2001 gewann die Schweizerische Volkspartei (SVP), die auf Grund ihres traditionell agrarischen Charakters bis anhin in Genf nicht vertreten war, zehn Sitze im Grossen Rat. Im rechtspopulistischen Lager siedelt sich auch das 2005 gegründete Mouvement citoyens genevois (MCG) an, das 2013 zur zweitstärksten Fraktion im Kantonsrat avancierte. Wurden 1919 zwei der insgesamt acht Sitze Genfs im Nationalrat durch Sozialdemokraten besetzt, vertraten nach den Wahlen von 2003 drei Mitglieder der Sozialdemokraten, je zwei der Liberalen und der Schweizerischen Volkspartei (ein Novum) sowie je eines der Radikalen, der Christdemokraten, der Grünen und der Alliance de Gauche (bis 2007) den Kanton in Bern. Nach einem langen Unterbruch ohne Bundesrat wurden die Genferinnen Ruth Dreifuss (1993-2002, Präsidentin 1999) und Micheline Calmy-Rey (2002-2011, Präsidentin 2011) in die Bundesregierung gewählt.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist das politische Leben in Genf von einer gewissen Ernüchterung gekennzeichnet, gleichzeitig stellen sich neue Fragen zu den Beziehungen Genfs zur Eidgenossenschaft sowie zur Einbettung des Kantons in die Region. Das Abstimmungsergebnis zur Armeeabschaffungsinitiative vom November 1989 - Genf nahm sie mit einer knappen Mehrheit an -, das einmal mehr gewisse Bedenken in Bezug auf diese Institution zum Ausdruck brachte, wurde später nicht bekräftigt. Aussagekräftiger in Hinsicht auf das Verhältnis zur Schweiz war die Abstimmung über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) vom Dezember 1992: Die hohe Zustimmung der Genfer von 78% Ja-Stimmen kontrastierte stark mit dem ablehnenden Landesdurchschnitt von 50,3% Nein-Stimmen. Erneut befand sich Genf in einer Situation, in welcher der typische Genfer Dualismus, nämlich die Öffnung zur Welt im Gegensatz zur realen Eingliederung in einen auf sich selbst zurückziehenden nationalen Raum, zum Ausdruck kam. Dieses Bild wurde jedoch im März 2001 nuanciert, als eine Initiative, die den Beitritt der Schweiz zur Europäischen Union (EU) forderte, in Genf mit einem Nein-Anteil von 58% verworfen wurde.

Verwaltung und öffentliche Finanzen

Seit 1925 gliedert sich der Kanton Genf und seine Verwaltung in acht Departemente (Finanzen, Erziehung, Justiz und Polizei, öffentliche Bauten, Inneres, Volkswirtschaft, Sozial- und Gesundheitswesen, Militär), deren offizielle Bezeichnungen und Zuständigkeitsbereiche sich immer wieder verändert haben. So wird etwa das 1935 geschaffene Personalamt vom Finanzdepartement geführt.

Im Vergleich zu den anderen Kantonen weisen die öffentlichen Ausgaben Genfs seit jeher ein hohes Niveau aus. Dies lässt sich wohl darauf zurückführen, dass die Bedürfnisse eines kosmopolitischen Stadt- und Grenzkantons (Agglomeration) besonders vielfältig sind und die Bevölkerung entsprechende Erwartungen hegt. Die kantonale Verwaltung ist relativ zentralisiert, die Bezirke (Rive droite, Rive gauche und Ville de Genève) wurden 1920 abgeschafft. Die Staatsausgaben für das Personal stiegen ab Ende der 1950er Jahre stark an, vor allem in den Bereichen Gesundheit und Erziehung.

Die Frage der Stellung und Besoldung der Beamten steht regelmässig im Zentrum der politischen Debatten in Genf, genau wie diejenige der steuerlichen Belastung (Steuern), mit der sie eng verknüpft ist. In der Zwischenkriegszeit mussten die Beamten auf Grund der Finanzkrisen zwei Lohnsenkungen in Kauf nehmen. Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts beherrschten mehrere Streiks des öffentlichen Dienstes für bessere Arbeitsbedingungen und eine höhere Qualität der Dienstleistungen die Politik und lösten eine breite Debatte über die Rolle des Staates und sein Image aus. Die starke Zunahme der Budgetdefizite und die Verschuldung der öffentlichen Hand während der Krise zu Beginn der 1990er Jahre verursachten ebenfalls heftige Kontroversen und mündeten nach der Annahme einer Volksinitiative der Liberalen Partei 1999 in Steuersenkungen zur Ankurbelung der Wirtschaft. Die letzten Jahre brachten wieder beträchtliche Defizite, und die Auseinandersetzungen sind von neuem ausgebrochen.

Das wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Leben in Genf im 19. und 20. Jahrhundert

Unter französischer Herrschaft (1798-1814)

Bevölkerungs- und Siedlungsentwicklung

Mit der Eingliederung ins Departement Léman bekam die Stadt Genf zum ersten Mal ein weites Hinterland, von dem es nicht mehr durch eine Grenze abgetrennt war. Das Stadtgebiet umfasste weniger als 2% der Departementsfläche, und mit 24'000-25'000 Einwohnern betrug der Anteil der Stadt an der Gesamtbevölkerung nur etwas mehr als einen Zehntel. Begünstigte die neue Konstellation die Verbreitung der Ideen der lokalen Agronomen sowie ihrer Experimente auf dem Gebiet der Landwirtschaft und der Ansiedlung von Merinoschafen, hielt sie doch zu wenig lang an, um echte Beziehungen zwischen den Genfern und den katholischen, mehrheitlich ländlichen Bewohnern des übrigen Departements entstehen zu lassen.

Wirtschaft

Wie schon in den beiden vorangegangenen Jahrzehnten wurde die Genfer Wirtschaft auch unter der französischen Herrschaft empfindlich beeinträchtigt. Die vom Direktorium, dann von Napoleon ergriffenen Massnahmen schränkten den Import von Rohstoffen ein und behinderten die Exporte schwer. Einfuhrzölle und -verbote, die darauf abzielten, England zu schaden, die französischen Manufakturen zu bevorzugen und aus dem Güterverkehr Geld abzuschöpfen, kümmerten sich wenig um die Bestimmungen des Vereinigungsvertrags von 1798, der die Genfer von Steuern befreit und ihnen den freien Verkehr ihrer Produkte in Frankreich zugesichert hatte. Es ging ganz einfach darum, die Genfer um ihre Vorteile im Kommissions- und Lagerhandel zu bringen: Faktisch wurde Genf weiterhin als Konkurrent der französischen Städte aufgefasst.

Die Periode ist unter anderem charakterisiert durch die Konzentration der Wirtschaftstätigkeit auf die Uhrenindustrie und Bijouterie – Fabrique genannt – einerseits und die baumwollverarbeitende Industrie (weisser Stoff und Indienne) andererseits. Trotz mehrerer spektakulärer Erfindungen in der Uhrenindustrie, die durch die Société des Arts und die Ausstellungen in Paris verbreitet wurden, und des Entstehens einiger dynamischer Bijouterie- und Uhrenrohwerkunternehmen blieb die Fabrique schlechten Marktbedingungen unterworfen. Ihre Produktion verursachte zu hohe Kosten. Obschon sie vom Zunftsystem, das ihr verboten hatte, auf der Landschaft arbeiten zu lassen, befreit war, produzierte sie in städtischen Kleinbetrieben mit beschränkten Mitteln. Aus der Abschaffung der Grenzen, die sie vorher von den Zentren der Uhrenrohwerkherstellung im Tal der Arve und im Pays de Gex abgeschnitten hatten, zog sie keinen Vorteil. Nur die Baumwollindustrie (Baumwolle) profitierte von der Ausweitung des Genfer Wirtschaftsraums. Zusammengefasst in grossen internationalen Kommanditgesellschaften, griffen ihre Patrons manchmal auf die leicht auszubeutenden ländlichen Arbeitskräfte des ehemaligen Savoyen und auf Gebäude aus dem Besitz religiöser Orden zurück, die während der Französischen Revolution konfisziert worden waren. Auf Grund der napoleonischen Kriege, der Kontinentalsperre und der hohen Rohstoffpreise sah die ökonomische Bilanz dieser Jahre jedoch düster aus: Konjunkturschwäche in allen Sektoren, Arbeitslosigkeit und Elend in weiten Teilen der Bevölkerung.

Gesellschaft

Die verschiedenen sozialen Gruppen, aus denen sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Genfer Gesellschaft zusammensetzte, erlebten die Annexion sehr unterschiedlich. Während eine begüterte Minderheit ihren mondänen Lebensstil beibehielt und vom neuen Regime profitierte, litt die Mehrheit der Bevölkerung unter der Wirtschaftskrise, der Steuerlast und der militärischen Einberufung, der man sich nur durch die Bezahlung eines Ersatzmannes entziehen konnte. Auch wenn offener Widerstand die Ausnahme bildete, so drückten die Genfer doch in den Salons und Vereinen hinter vorgehaltener Hand ihren Unmut aus über das Tragen der Trikolorenkokarde, die Abschaffung der Wappen und bestimmter lokaler Bräuche (Coutumes), die zahllosen Militärparaden und Ruhmesfeiern zu Ehren der französischen Republik und des Empire, die Allgegenwart einer wuchernden Verwaltung durch Fremde sowie das Schielen der imperialen Macht auf ihr Hab und Gut.

Kirche und Kultur

Unter dem Konsulat (1799-1804) verlor Genf offiziell seine kirchliche Einheit. Nachdem sich die reformierte Kirche während des Direktoriums in einer Rückzugsposition befunden hatte, fand sie dank des Gesetzes über die Organisation der Kulte von 1802 zu ihrer traditionellen Rolle zurück. Das Gesetz von 1802 verkündete Napoleon zur gleichen Zeit wie das Konkordat, das in Frankreich die katholische Religion wieder zuliess. Die Katholiken – unter der geistigen Führung ihres Pfarrers Jean-François Vuarin – hatten also das Recht, ihre Religion in Genf wieder zu praktizieren. 1801 wurde die Diözese Genf-Annecy (Diözese Annecy) abgeschafft und diejenige von Chambéry und Genf neu gegründet. Die ab 1490 aus der Stadt verbannten Juden (Judentum) erhielten 1806 und 1808 ebenfalls eine Regelung für ihren Kultus.

Im Ausland war Genf bekannt für seine Gelehrten (Jean Charles Léonard Simonde de Sismondi), seine Künstler (Jean-Pierre Saint-Ours), seine Société des Arts und die wissenschaftlichen Artikel in der Bibliothèque britannique. Als Napoleon die kaiserliche Universität gründete, gewährte er der Stadt die besondere Gunst, ihre Akademie als unabhängige Institution mit mehreren Fakultäten und zwei vorbereitenden Schulen (Recht und Medizin) zu behalten.

Das wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Leben im 19. Jahrhundert (1814-1914)

Bevölkerungs- und Siedlungsentwicklung

Die Bevölkerung des Kantons Genf entwickelte sich im 19. Jahrhundert nach einem beträchtlichen Rückgang unter der französischen Herrschaft in einem bis dahin unerreichten Ausmass. Zwischen 1814 und 1914 stieg sie von 31'000 auf 172'000 Einwohner an, von denen drei Viertel in der Stadt wohnten (1910 waren es 154'906 Einwohner, davon 115'243 in der Stadt Genf). Dieser Zuwachs vollzog sich in mehreren Wellen, die der politischen und ökonomischen Konjunktur folgten. Der erste «Sprung» fand kurz nach den Abschlüssen des Pariser Friedens (1815) und Turiner Vertrags (1816) statt. Er ging zum grössten Teil auf die Communes réunies zurück, die der Republik Genf ungefähr 16'000 neue Bürger brachten. Die Eingliederung in die Eidgenossenschaft löste einen anhaltenden Zustrom von Schweizern aus den übrigen Kantonen aus. Sie alle wurden von der Aussicht auf Arbeit angezogen, welche die grösste Stadt des Landes zu bieten versprach. Während der Restauration verdreifachte sich dieser Zulauf, und um 1846 zählte man fast 10'000 Schweizer, die sich in Genf niedergelassen hatten. Diese Zahl entsprach damals zwei Dritteln aller Einwanderer (Einwanderung). Daneben zogen vor allem Franzosen und Immigranten aus dem Königreich Sardinien nach Genf.

Nach der Revolution der Radikalen (Radikalismus) von 1846 verstärkte sich der Zuzug. Die Regierung begünstigte die Niederlassung der Flüchtlinge, die vor den Repressionen von 1848 flohen. Obwohl es sich dabei um eine kleine Gruppe handelte, übte sie einen grossen Einfluss aus. Dank der Ausstrahlung einiger ihrer Mitglieder und der Klugheit der Regierung, die deren Fähigkeiten zu nutzen verstand, festigte Genf seinen Ruf als gastfreundliche Stadt. Dieses Image bestand nicht zu Unrecht, denn zwischen 1850 (15'142 Ausländer auf 64'146 Einwohner, d.h. 23,6%) und 1914 (1910: 62'611 auf 154'906, d.h. 40,4%) nahm der Ausländeranteil beträchtlich zu und erreichte am Vorabend des Ersten Weltkriegs einen Wert von 42% der Kantonsbevölkerung. Diese demografischen Veränderungen wären ohne die tiefgreifenden urbanistischen Massnahmen, die mit der Öffnung der bis dahin in ihren Festungswerken eingezwängten Stadt einhergingen, nicht möglich gewesen. Das Abtragen der Befestigungen verwandelte Genf von einer mittelalterlichen Zitadelle in eine moderne Stadt, die sich dank der Eisenbahn, des Baus eines weitläufigen Tramnetzes (1894 126 km) und einer entsprechenden Wirtschaftsentwicklung weiter ausdehnte.

Bevölkerungsentwicklung des Kantons Genf 1836-2000

JahrEinwohnerAusländer-anteilAnteil ProtestantenAnteil KatholikenAnteil Französisch-sprachigeAnteil Deutsch-sprachigeAltersstruktur (Anteil > 59)ZeitraumGesamt-zunahmeaGeburten-überschussaWanderungs-saldoa
183658 666      1836-18506,5‰0,3‰6,2‰
185064 14623,6%53,3%46,4%   1850-186023,6‰-1,5‰25,1‰
186082 87634,6%48,3%50,8%  7,5%1860-18706,9‰-1,7‰8,6‰
187088 791b35,0%46,8%51,3%  8,3%1870-18808,6‰0,7‰7,9‰
188099 712b36,1%47,6%50,7%85,1%11,3%8,4%1880-18887,1‰-0,2‰7,3‰
1888105 50937,8%48,3%49,6%84,5%11,7%9,1%1888-190019,2‰0,9‰18,3‰
1900132 60939,7%47,1%50,6%82,7%10,1%9,8%1900-191015,7‰1,1‰14,6‰
1910154 90640,4%45,5%49,6%78,0%11,0%9,1%1910-19209,9‰-2,0‰11,9‰
1920171 00030,2%49,7%44,1%78,0%12,1%10,1%1920-19300,2‰-2,3‰2,5‰
1930171 36623,9%51,9%38,9%76,9%14,1%12,3%1930-19411,8‰-3,2‰5,0‰
1941174 85515,6%54,6%40,5%80,6%13,6%16,1%1941-195016,7‰0,2‰16,5‰
1950202 91817,3%50,6%42,3%77,6%13,6%17,1%1950-196024,8‰1,1‰23,7‰
1960259 23423,7%45,7%47,8%70,0%13,3%17,1%1960-197024,9‰5,8‰19,1‰
1970331 59933,7%38,1%53,4%65,4%10,9%16,7%1970-19805,1‰2,7‰2,4‰
1980349 04032,3%30,6%51,1%64,7%9,5%17,4%1980-19908,3‰2,5‰5,8‰
1990379 19036,6%22,6%47,8%70,4%5,5%18,3%1990-20007,9‰3,5‰4,4‰
2000413 67338,1%17,4%39,4%75,8%3,9%20,1%    

a mittlere jährliche Zuwachsrate

b ortsanwesende Bevölkerung

Bevölkerungsentwicklung des Kantons Genf 1836-2000 -  Historische Statistik der Schweiz; eidgenössische Volkszählungen; Bundesamt für Statistik

Wirtschaft

Wasserkraftwerk von Chèvres, zwischen Vernier und Bernex, um 1910 (Bibliothèque de Genève).
Wasserkraftwerk von Chèvres, zwischen Vernier und Bernex, um 1910 (Bibliothèque de Genève). […]

Nach der napoleonischen Ära überwand Genf die Wirtschaftsflaute und erreichte wieder einen solchen Wohlstand, dass man die der 1841er Revolution vorangehenden Jahre gerne als die «27 Jahre des Glücks» bezeichnete. Diese positive Einschätzung rührte ohne Zweifel von einer Hebung des Lebensstandards her, die in erster Linie auf der wieder gewonnenen Stärke der Fabrique gründete. Das Urteil verschweigt hingegen die letzte Versorgungskrise Genfs in den Jahren 1816 und 1817, als ein Teil der Bevölkerung in schwere Not (Hungersnöte) geriet und die Regierung gezwungen war, Getreide sogar aus Russland einzuführen. Es unterschlägt auch das Schicksal der Indienneunternehmen, die zwischen 1825 und 1835 verschwanden. Und schliesslich vergisst es die Depression im Baugewerbe und in einigen Handwerkszweigen (Handwerk) zu Beginn der 1830er Jahre. Ein Jahrzehnt später war selbst die Uhrenindustrie zweimal von einer Krise betroffen, und zwar zuerst um 1840, dann während der schweren Rezession, die 1846-1849 den ganzen Kanton erfasste. James Fazy gelang es, letztere Krise zu meistern, indem er die Opfer der Wirtschaftsdepression für das staatliche Projekt des Abtragens der Befestigungen einsetzte. Er nutzte die durch den Abbruch angestrebte Öffnung, um den Rückstand Genfs im Eisenbahnbau aufzuholen. So wurde die Stadt 1858 mit Lyon und Yverdon verbunden. Die Strecke von Genf nach Annemasse wurde 1888 eingeweiht, doch vermochte sich Genf nicht harmonisch ins grosse europäische Eisenbahnnetz einzugliedern, da etwa das Projekt des Col de la Faucille scheiterte. Darüber hinaus förderte Fazy die Gründung von Kreditbanken.

Werbung von Edouard Elzingre für Stella-Automobile, 1908 (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste).
Werbung von Edouard Elzingre für Stella-Automobile, 1908 (Museum für Gestaltung Zürich, Plakatsammlung, Zürcher Hochschule der Künste). […]

Vor dem Hintergrund einer allgemeinen Konjunkturerholung führten all diese Massnahmen zu einem neuerlichen Wachstum der lokalen Wirtschaft. Während rund zwanzig Jahren erlebte der Kanton einen Aufschwung, der sich in der glanzvollen Entwicklung der Fabrique und einer aussergewöhnlichen Innovationsfreudigkeit der Industrie widerspiegelte. Nachdem der Aufwärtstrend in den 1870er Jahren von der schweren Rezession gebremst worden war, setzte er erst wieder an der Wende zum 20. Jahrhundert ein. In der Uhrenindustrie fiel der Konjunktureinbruch der 1870er Jahre mit strukturellen Problemen zusammen. Da sie sich auf die Herstellung von Qualitätserzeugnissen ausgerichtet hatte, behauptete sie sich auf dem Gebiet der Massenproduktion nur schlecht, sodass angesichts der amerikanischen Konkurrenz der langsame Niedergang nicht mehr aufzuhalten war. Die Indienneherstellung und die Fabrique wurden durch neue Wirtschaftszweige ersetzt. In der Restauration lebte der Tourismus auf. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erlebte das Bankenwesen einen mächtigen Aufstieg. Es entstanden aber auch zahlreiche Fabriken, die etwa im Bereich der Maschinenindustrie und Präzisionsinstrumente aus den Erfindungen einfallsreicher Köpfe wie Théodore Turrettini und Auguste De la Rive Profit schlugen; so die 1862 gegründete Société genevoise d'instruments de physique (ab 1879 Sécheron). Am Vorabend des Ersten Weltkriegs kamen weitere Firmen hinzu, unter anderen Firmenich und Givaudan, die von den Fortschritten in der Chemie (chemische Industrie; Parfums, Farbstoffe, Aromen) zeugten. Trotz dieser Dynamik verlor der 2. Sektor in Genf an Bedeutung. Um 1910 arbeiteten fast 50% der erwerbstätigen Kantonsbevölkerung im 3. Sektor – nach stetem Rückzug aus der Landwirtschaft, was der klassischen sektoriellen Verschiebung in den grossen Städten entspricht.

Erwerbsstruktur des Kantons Genf 1860-2000a

Jahr1. Sektor2. Sektor3. SektorbTotal
18603 8789,1%20 61348,1%18 35242,8%42 843
1870c8 41122,0%17 45745,7%12 34432,3%38 212
1880c7 92717,3%22 81949,7%15 20533,1%45 951
18887 31214,0%20 75339,8%24 06346,2%52 128
19007 1989,9%33 02545,3%32 60844,8%72 831
19106 2307,6%35 91043,7%39 94448,7%82 084
19206 0146,3%42 33544,3%47 21749,4%95 566
19305 4445,8%39 30142,1%48 50452,0%93 249
19415 6616,2%38 02941,8%47 39752,0%91 087
19504 5884,4%43 51841,5%56 65654,1%104 762
19603 9662,9%56 71041,4%76 31455,7%136 990
19702 7071,6%54 69432,2%112 57766,2%169 978
19802 3981,4%40 93923,3%132 15975,3%175 496
19901 7340,9%32 56116,5%162 74282,6%197 037
2000d2 2181,1%22 29710,8%182 01388,1%206 528

a bis 1960 ohne Teilzeitangestellte

b Residualgrösse einschliesslich "unbekannt"

c ortsanwesende Bevölkerung

d Die Beschäftigtenzahlen der Volkszählung 2000 sind wegen der grossen Zahl "ohne Angabe" (40 917) nur begrenzt mit den vorhergehenden Daten vergleichbar.

Erwerbsstruktur des Kantons Genf 1860-2000 -  Historische Statistik der Schweiz; eidgenössische Volkszählungen

Gesellschaft

Obschon der soziale Wandel in Genf mit demjenigen in den anderen Kantonen durchaus vergleichbar ist, darf nicht vergessen werden, dass es auch spezifische Genfer Entwicklungen gab. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts veränderte die Aufnahme der Communes réunies das an sich schon kontrastreiche Bild Genfs und machte es noch komplexer. In zugespitzter Weise liesse sich sagen, dass sich die Bevölkerung in mehrere Kategorien gliederte, die sich das kantonale Gebiet teilten. An der Spitze der Gesellschaftspyramide befanden sich die Notabeln (Honoratioren), die sich an den breiten Strassen rund um die Kathedrale und entlang der Rhone niedergelassen hatten. Als Nachkommen aristokratischer Familien oder als gut verheiratete Erben von Unternehmern, die in den napoleonischen Abenteuern zu Reichtum gekommen waren, beherrschten sie bis in die 1840er Jahre die Schaltstellen des Staates (Eliten). Mit den übrigen Mitbürgern hatten sie kaum Kontakt, ausser vielleicht mit den Bauern, welche die Güter ihrer Sommerlandsitze bewirtschafteten, und den Kaufleuten und Vertretern der freien Berufe, mit denen sie im Repräsentierenden Rat, später im Grossen Rat verkehrten, wo Letztere immer zahlreicher wurden.

Dieser obere Mittelstand, der in der Unterstadt wohnte, übernahm 1846 die Macht und behielt sie bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auch wenn zwei ihrer Führer, James Fazy und Louis Rilliet-de Constant, aus der Aristokratie stammten, so bestand ihre Wählerschaft vor allem aus Arbeitern der Fabrique aus dem Quartier Saint-Gervais. Auf den gegenüberliegenden Uferhängen wohnte eine heterogene Bevölkerung von Kleinhandwerkern, Ausländern und Prostituierten. Ein ähnliches Bild zeigte sich in den Vorstädten. Noch weiter vom Stadtgebiet entfernt lebten die Bauern. In den ehemaligen Mandements waren sie recht begütert und reformiert, in den Communes réunies eher arm und katholisch.

Trotz der sozialen, konfessionellen und historischen Unterschiede wies die Gesellschaft als Ganzes eine innere Bindung auf. Gleich welcher Herkunft fanden die Genfer in einem äusserst starken Bewusstsein ihrer Würde als Menschen zusammen. Zu Beginn der Restauration manfestierte sich dieser – noch von keiner politischen Gruppe für sich vereinnahmte – Stolz nur in einigen unbedeutenden Unruhen. Geschickt instrumentalisiert von den Radikalen, ermöglichte er die Revolutionen von 1841 und 1846. Schliesslich wandelte er sich, angereichert mit französischem Fourierismus und Idealen der deutschen Sozialdemokratie sowie verstärkt durch den Zustrom von Arbeitern, die von der Öffnung der Stadt angezogen worden waren, zu einer sozialkämpferischen Haltung. In diesem für neue Ideen und für die 1864 gegründete Internationale (Arbeiter-Assoziation) aufgeschlossenen Klima brach 1868 ein Generalstreik im Baugewerbe aus, dem bald viele weitere folgten (Streiks). Die Kampfbereitschaft fand 1902 ihren Höhepunkt, als im ganzen Kanton – zum ersten Mal in der Schweiz – die Arbeit niedergelegt wurde. Im Prinzip jedoch suchte die Regierung jeweils nach einvernehmlichen Lösungen. Sie bevorzugte Verhandlungen und knüpfte Wahlallianzen, was Fritz Thiébaud 1897 ermöglichte, erster sozialdemokratischer Staatsrat der Schweiz zu werden. Überdies passten die Behörden die Gesetzgebung an, indem sie ab 1882 Arbeitsgerichte schufen und vor dem übrigen Europa den Gesamtarbeitsverträgen Gesetzeskraft verliehen. In Bezug auf die sozialen Ansprüche und Massnahmen war der Kanton seiner Zeit klar voraus. Mit diesem Vorsprung gingen ein beachtlicher Stand des Schulwesens und vielfältige konfessionelle Spannungen einher (Konfessionalismus).

Schule und religiöses Leben

Im 19. Jahrhundert begann der allmähliche Zerfall des konfessionell-kulturellen und somit identitätsstiftenden Fundaments von Genf: des Protestantismus. Wurden die Pastoren von der 1814er Verfassung noch privilegiert, verloren sie um 1835 einen Teil ihrer Vorrechte im Schulwesen und behielten nur noch ihre Befugnisse auf dem Gebiet der Theologie und Seelsorge. 1847 wurde die Wahl des Pfarrers den Pfarrgemeinden überlassen, die auch die Mitglieder des für die Kirchenverwaltung zuständigen Konsistoriums bestimmten. Einer der Gründe für den Bedeutungsverlust lag im Aufkommen der Erweckungsbewegungen. Der sogenannte Réveil führte zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu einer Spaltung innerhalb der reformierten Kirche. Nach der Restauration fand diese von der Romantik durchdrungene Bewegung, die für einen weniger rationalistischen, dafür mehr verinnerlichten Glauben eintrat, ihre Anhänger zuerst in den Unterschichten, bevor sie auch zahlreiche Notabeln gewann. Die fehlende Einheit der Lehre innerhalb der reformierten Institutionen erklärt, weshalb diese einer ernsthafteren Bedrohung, nämlich dem Katholizismus, so schlecht standhielten.

Die Wiedereinführung des Katholizismus in Genf, die unter der napoleonischen Herrschaft erfolgt war, wurde de jure durch den Eintritt der Republik Genf in die Eidgenossenschaft, de facto durch die anschliessende Eingliederung der Communes réunies in den neuen Kanton bestätigt. In Regierungskreisen löste der Vorgang eine immense Furcht aus. Sie fand ihren Niederschlag in der minimalen territorialen Vergrösserung des Kantons, in der 1819 erfolgten Einverleibung der neu erworbenen Pfarrgemeinden in eine schweizerische Diözese, jener von Lausanne (1821 Diözese von Lausanne und Genf), sowie in der Ausarbeitung von gesetzlichen Regelungen, die darauf abzielten, die politischen Rechte der Katholiken einzuschränken und Mischehen zu fördern. Die Persönlichkeit des katholischen Stadtpfarrers, Jean-François Vuarin, der heftig gegen die Regierung opponierte, verstärkte die Ängste. Sein Tod 1843 und die Bemühungen des Agnostikers James Fazy um die katholische Wählerschaft trugen in den 1840er Jahren zur Beruhigung des religiösen Klimas bei und 1847 wurden die beiden Konfessionen rechtlich gleichgestellt. Die jüdische Gemeinschaft durfte ab 1843 einen «privaten Kultus» feiern, 1852 eine israelitische Gemeinde gründen und 1859 eine Synagoge errichten.

«La séparation» (die Trennung). Antiklerikale Karikatur von Godefroy, erschienen im Carillon de Saint-Gervais, 1891 (Bibliothèque de Genève).
«La séparation» (die Trennung). Antiklerikale Karikatur von Godefroy, erschienen im Carillon de Saint-Gervais, 1891 (Bibliothèque de Genève). […]

Nachdem die Reformierten in die Minderheit geraten waren (1860: 40'069 reformierte Einwohner, 42'099 katholische), brach der religiöse Streit 1864 wieder auf mit der Ankunft von Gaspard Mermillod, eines weiteren katholischen Pfarrers von aussergewöhnlichem Zuschnitt. Er verantwortete mit seinem Bestreben, die alte Diözese Genf wiederherzustellen, den Ausbruch des Kulturkampfs in Genf mit. Ab 1870 erliessen die von Antoine Carteret geführten Radikalen verschiedene Gesetze mit dem Ziel, die römisch-katholische Kirche (Katholische Kirche) durch einen unter der Aufsicht des Staates stehenden Kultus zu ersetzen. Zu diesem Zweck gründeten sie 1873 die Eglise catholique nationale (Christkatholische Kirche). Auf Bundesebene führte die Auseinandersetzung schliesslich zur Ausweisung von Mermillod und zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit dem Heiligen Stuhl, auf lokaler Ebene rief sie bei den romtreuen Katholiken heftigen Widerstand hervor. Allerdings bewirkte Letzterer nur die Beschneidung des Einflusses der Katholiken, denn 1907 kam es in Genf zur Trennung von Kirche und Staat. Wie der Abschluss des Konflikts zeigt, standen sich im Kampf, der Genf im 19. Jahrhundert spaltete, weniger die Katholiken und Protestanten als vielmehr die Religion und der Laizismus einander gegenüber. Dies lässt sich auch an der Entwicklung des Bildungswesens ablesen. Die recht leistungsfähige Schule – sie brachte in der Stadt den Analphabetismus zum Verschwinden und reduzierte ihn in den Communes réunies beträchtlich – bewegte sich ab den 1830er Jahren in Richtung Verstaatlichung und Laizisierung. Auch die höheren Schulen wandelten sich dank des Renommees von Gelehrten wie Augustin-Pyramus de Candolle, Auguste De la Rive oder Antoine-Elisée Cherbuliez. Die Revolution der Radikalen beschleunigte die konfessionelle Neutralisierung. Bezeichnenderweise wurde 1872, mitten im Kulturkampf, das Obligatorium für den Primarschulunterricht (ab dem 6. bis zum 13. Lebensjahr) erlassen und die Akademie in die Universität Genf umgewandelt, die zusätzlich zur theologischen, juristischen sowie geistes- und naturwissenschaftlichen Fakultät eine medizinische erhielt.

Die Schule steht nicht nur für die Laizisierung der Gesellschaft, sondern auch für deren «Nationalisierung». Vom Einfluss der Pfarrer befreit, vermittelte der Unterricht immer mehr Wissen über die Eidgenossenschaft. Aber auch die Kunst beteiligte sich an der «Helvetisierung», da die Schweiz der Alpen und alten Helden zu einem beliebten Thema in der Malerei wurde (Jean-Léonard Lugardon, Alexandre Calame, François Diday). Der eidgenössische Patriotismus durchdrang auch die zahlreichen Genfer Vereine, deren Zahl sich während des ganzen 19. Jahrhunderts laufend vervielfachte, und prägte die Landesausstellung von 1896 in Genf, an der lokalschweizerische Architekturstile im sogenannten Village suisse eindrücklich präsentiert wurden. Vor allem aber die Feste stärkten das Nationalgefühl, so die Feierlichkeiten anlässlich der Ankunft der Solothurner und Freiburger Kontingente im Port Noir im Juni 1814 oder, stärker noch, diejenigen zum hundertjährigen Jubiläum des Genfer Beitritts zur Eidgenossenschaft am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Letztere zelebrierte den Beitritt als ein Ereignis, das sich nahtlos – wenn nicht gar zwingend – an die eigene Geschichte anschloss.

Das wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Leben im 20. Jahrhundert

Bevölkerungs- und Siedlungsentwicklung

Die Wohnbevölkerung des Kantons wuchs unaufhörlich. Von 132'609 Einwohnern im Jahr 1900 stieg sie auf 202'918 im Jahr 1950 und umfasste 2000 413'673 Personen. Der Ausländeranteil in Genf bewegte sich schon am Vorabend des Ersten Weltkriegs mit rund 40% auf dem gleichen Niveau wie am Ende des 20. Jahrhunderts. Im Grossen und Ganzen bestand die Genfer Bevölkerung vor 1914 aus einem Drittel Genfer, einem Drittel Schweizer und einem guten Drittel Ausländer, die mehrheitlich aus den grenznahen Regionen wie dem Chablais und dem Piemont stammten. Die Zwischenkriegszeit zeichnete sich durch einen Zustrom von Schweizern aus den übrigen Kantonen aus, während sich die Zahl der ausländischen Bevölkerung halbierte und während des Zweiten Weltkriegs den tiefsten Stand (1941: 27'272 Ausländer auf 174'855 Einwohner, d.h. 15,5%) erreichte.

Vor einem Genfer Hotel, August 1981 (Interfoto, Genf).
Vor einem Genfer Hotel, August 1981 (Interfoto, Genf). […]

Nach dem Zweiten Weltkrieg löste der Wirtschaftsboom die Einwanderung zahlreicher Arbeiter aus Ländern wie Italien, Spanien, Portugal und Jugoslawien aus. Die Entwicklung Genfs zum internationalen Zentrum veranlasste ebenfalls viele Leute aus der ganzen Welt, im Kanton ihr Quartier aufzuschlagen. Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts betrug ihre Zahl mehr als 20'000 Personen, wenn man sämtliche Kategorien (Diplomaten und ihr Hauspersonal sowie Angestellte internationaler und multinationaler Organisationen) berücksichtigt. Ab den 1950er Jahren nahm Genf Flüchtlinge auf, von denen sich einige dauerhaft niederliessen. In den 1980er und 1990er Jahren kamen Asylsuchende (Asyl) hinzu, die vor Krieg oder materieller Not aus ihrem Herkunftsland geflohen waren. Auf Grund der Gesetzgebung des Bundes konnten aber nur wenige bleiben – selbst dann nicht, wenn sie gut integriert waren. Schliesslich beherbergt Genf eine unbestimmte Zahl von Sans-Papiers, die definitionsgemäss nicht in den Statistiken auftauchen.

Die Migrationsbewegungen liessen mehr und mehr eine mosaikartig zusammengesetzte Genfer Bevölkerung entstehen, deren multiethnischer Charakter heute das kulturelle Leben stark bestimmt und das soziale Gepräge der Stadt und der benachbarten Gemeinden beträchtlich bereichert. Sie verursachen aber angesichts des begrenzten Raums und des Widerstands gewisser Kreise gegen das verdichtete Bauen auch häufig wiederkehrende Spannungen auf dem Wohnungsmarkt.

Wirtschaft

Auch wenn Genf sich vor allem als Stadtkanton präsentiert, dürfen seine ländlichen Gebiete und die Agrarproduktion nicht vernachlässigt werden. Die Genfer Landschaft spezialisierte sich auf den Getreidebau, Rebbau und Gemüsebau (Gartenbau). Der Anteil des Agrarsektors an der gesamten Wirtschaft ging jedoch kontinuierlich zurück und ist heute verschwindend klein geworden, nachdem er noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei ungefähr 10% gelegen hatte.

Ausländische Grenzgänger im Kanton Genf 1978-2016
Ausländische Grenzgänger im Kanton Genf 1978-2016 […]

Bewegte sich in Genf noch vor 100 Jahren der Prozentsatz der im 2. Sektor Beschäftigten über dem schweizerischen Durchschnitt, so steht der Kanton heute an letzter Stelle und weist als einziger weniger als 20% aus. Dieser postindustrielle Zustand mit dem Gros der verbleibenden Produktionsstätten in der Maschinenindustrie (Charmilles Technologies), der Uhrenbranche (Patek Philippe) und der Chemie rührt sicherlich von den Auswirkungen der jüngsten Rezessionen her, erinnert aber auch daran, dass seit dem 18. Jahrhundert der Hauptanteil der wirtschaftlichen Aktivitäten in Genf auf den 3. Sektor entfällt. Dessen Entwicklung gründete neben den öffentlichen Diensten (Öffentlicher Sektor) und internationalen Organisationen (IO) auf dem Handel, den Banken (darunter zahlreichen Privatbanken wie Darier, Hentsch, Lombard, Lullin, Odier, Pictet), den Versicherungen sowie auf der Immobilienbranche. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts akzentuierte sich die Konzentration auf den 3. Sektor. Im Zug der allgemeinen Wirtschaftsentwicklung wurde in Genf eine beachtliche Zahl von französischen Grenzgängern eingestellt. 1999 waren es 27'500 Personen, Ende 2004 mehr als 43'000 (nach dem Inkrafttreten des Abkommens über den freien Personenverkehr im Rahmen der bilateralen Verträge I mit der Europäischen Union). 2002 belief sich das Pro-Kopf-Einkommen des Kantons auf Fr. 52'074 gegenüber dem Landesdurchschnitt von Fr. 48'604.

Verkehr

1920 wurde in Cointrin ein Flughafen gebaut, der interkontinentale Flüge anbot und für die Entwicklung des internationalen Genf eine wesentliche Rolle spielte. Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs, als die ersten Industriezonen entstanden, wurden der Güterbahnhof La Praille in Carouge und seine Verbindung zum Bahnhof Cornavin erstellt. Die Eisenbahn eröffnete 1987 den Streckenabschnitt Cornavin-Cointrin. Hingegen gibt es bis heute keinen Anschluss an das regionale Eisenbahnnetz in Savoyen, da das Verbindungsstück zwischen La Praille und dem Bahnhof Les Eaux-Vives nach wie vor fehlt. 1990-2000 stritten sich die Anhänger der Eisenbahn, die für die Strecke Cornavin-Eaux-Vives-Annemasse (Ceva) warben, mit den Befürwortern einer Leichtmetro, die sich allerdings nicht durchsetzen konnten.

Die Verbindung zwischen Genf und Lausanne, die 1964 im Hinblick auf die Landesausstellung in Lausanne realisiert worden war, bildete den ersten Abschnitt des Autobahnnetzes (Nationalstrassen). 1965 kompensierte die Strasse mit der Einweihung des Mont-Blanc-Tunnels – 1976 vervollständigt durch die sogenannte Autoroute Blanche –, was die Eisenbahn nicht geschafft hatte: eine Verbindung durch die Alpen mit Anschluss an Genf. Im Verlauf der 1980er Jahre erlaubte der Bau einer Umfahrungsautobahn in der Genfer Peripherie, mehrere europäische Autobahnstrecken miteinander zu verbinden und gleichzeitig den Verkehrsdruck auf die Genfer Innenstadt zu mildern. Ein Projekt zur Überquerung des Hafenbeckens (Brücke oder Tunnel) scheiterte 1996 vor dem Volk, womit eine lange Reihe von Volksentscheiden zugunsten des Automobils ein Ende nahm. Die Wahl des Umweltschützers Robert Cramer in den Staatsrat 1997 sowie der Druck von Seiten der Alternative de gauche (SP, Grüne und Alliance de gauche) signalisieren eine Wende hin zum öffentlichen Verkehr.

Erziehung und Bildung

1911 wurde die obligatorische Schulpflicht verlängert, die nun die Zeitspanne vom 6. bis zum 14. Altersjahr umfasste und ab 1933 schliesslich bis zum 15. Altersjahr dauerte (Schulwesen). Aber schon 1927 stand vor allem die Frage der Sekundarstufe und der Selektionsmodalitäten im Zentrum (Projekt des Sozialdemokraten André Oltramare). Das Problem des gleichzeitigen Nebeneinanders von kostenlosem letzten Primarschuljahr und kostenpflichtigem ersten Jahr am Collège musste gelöst werden, etwa mit der Schaffung gemeinsamer Orientierungsklassen. Diese Idee, die unmittelbar nach dem Krieg wieder auf die Traktandenliste kam, wurde 1962 unter der Leitung des Sozialdemokraten André Chavanne mit der Einführung einer dreijährigen Orientierungsstufe umgesetzt (Schüler zwischen dem 12. und 15. Altersjahr, in Sektionen gegliedert). Das Projekt von 1927 wollte allen fähigen Schülern die Chance geben, einer schmalen Elite anzugehören. Hingegen antwortete die Realisierung von 1962 auf die Bedürfnisse der wirtschaftlichen Entwicklung, indem sie diese Elite und die soziale Basis, aus der sie rekrutiert werden sollte, erweiterte.

Ab den 1960er Jahren führten die Demokratisierung der Bildung und die Förderung der sozial Schwächsten durch automatische Unterstützungsbeiträge zu einer beträchtlichen Entwicklung von Schule und Ausbildung, von der nun auch die Mädchen profitierten. De facto ergab sich daraus eine allgemeine Verlängerung der Ausbildungszeit, ohne dass sich jedoch die soziale Hierarchie wesentlich verändert hätte. Nach der obligatorischen Schulzeit (16. Lebensjahr) fächert sich das Schulsystem in drei Ausbildungsgänge auf: das Collège (in der übrigen Schweiz meist Gymnasium genannt), die Schulen mit Diplomabschluss sowie die Berufsbildung. Dieses System zog die Schaffung neuer Strukturen wie etwa die der allgemein bildenden Schulen nach sich. 1990 wurde das Recht auf Bildung endlich mit dem Grundsatz vervollständigt, alle Kinder unabhängig vom gesetzlichen Status ihrer Eltern (z.B. Kinder von Sans-Papiers) an die öffentlichen Schulen zuzulassen.

Die Genfer Maturitätsquote (1998: 37,6% eines Jahrgangs, d.h. mehr als doppelt so viel wie der Landesdurchschnitt) und die Zahl der Studienanfänger fallen im Kanton seit Jahrzehnten höher als in der übrigen Schweiz aus. 1977 wurden die allgemeinen Ziele des Genfer Unterrichtswesens, die 1940 nach patriotischen Kriterien festgelegt worden waren, unter dem Schlagwort der Erziehung zu Gemeinsinn und Engagement neu formuliert. Die Chancenungleichheit des Schulerfolgs sollte endlich überwunden werden. An der Universität Genf entstanden im 20. Jahrhundert zwei neue Fakultäten: 1915 diejenige der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und 1975 jene der Psychologie und Erziehungswissenschaften. Bereits 1912 hatte Edouard Claparède das Institut Jean-Jacques Rousseau gegründet. Ihm war 1927 das Institut universitaire de hautes études internationales gefolgt. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts nahm die Zahl der Studierenden beträchtlich zu und überstieg schliesslich die Marke von 10'000 Immatrikulierten, was unweigerlich betriebliche und finanzielle Probleme nach sich zog. Das letzte Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts war dann von Budgetkürzungen und Restrukturierungen gekennzeichnet. Dies machte eine engere Zusammenarbeit zwischen den Universitäten Lausanne und Genf nötig.

Gesundheit und Sozialpolitik

Nachdem 1925 das Gesundheitsdepartement (Gesundheitswesen) als letztes Departement errichtet worden war, erfuhr dieses in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine rasante Entwicklung. Neben dem fortlaufenden Ausbau des Kantonsspitals (Spital) wurden universitäre Institutionen auf den Gebieten der Psychiatrie (1900 Klinik Bel-Air, 1929 psychiatrische Poliklinik, 1961 psycho-soziales Zentrum, 1982 psychiatrische Hochschulinstitutionen) und der Geriatrie (u.a. 1972 Spital, 1979 Pflegezentrum) gegründet.

Die hohen Gesundheitskosten Genfs gehen zum Teil auf den universitären Charakter seiner Institutionen, zum Teil auf den relativen Reichtum des Kantons und die Nachfrage der Bevölkerung zurück (städtisches Ballungszentrum, allgemeine Alterung, gesundheitliche Störungen als Folge der Migration). So gehörte zum Beispiel die Selbstmordrate in Genf immer zu den höchsten der Schweiz, auch wenn sie längerfristig leicht gesunken ist. Anders ausgedrückt: Wenn die kantonalen Gesundheitskosten auch in einer gemessen am Landesmittel bedeutend höheren Angebotsdichte gründen, so entsprechen sie doch weitgehend der tatsächlichen Nachfrage.

Am Ende des 20. Jahrhunderts wuchs aus der Notwendigkeit, die Kosten besser in den Griff zu bekommen, die Einsicht in die Bedeutung der Prävention und der Pflege zu Hause. Hingegen lehnte das Stimmvolk aus Furcht vor einem verminderten Zugang zur medizinischen Versorgung sowohl Privatisierungsprojekte als auch Pläne zur interkantonalen Zusammenarbeit ab.

Gesellschaft und Kultur

Sportzentrum von Les Vernets. Die Tribünen des Eisstadions während einer Abendveranstaltung. Fotografie von Gustave Klemm, Februar 1960 (Documentation photographique de la Ville de Genève).
Sportzentrum von Les Vernets. Die Tribünen des Eisstadions während einer Abendveranstaltung. Fotografie von Gustave Klemm, Februar 1960 (Documentation photographique de la Ville de Genève). […]

Die Zwischenkriegszeit wurde von der starken Präsenz der Arbeiterschaft und beträchtlichen Spannungen geprägt. Die 1950er Jahre dagegen zeichneten sich durch die Zunahme der Freizeitaktivitäten und das massenhafte Aufkommen des Automobils aus. Im Gefolge des Mai 1968 traten parallel zum Ausbau der offiziellen Kulturinstitutionen, aber in Opposition zum vorherrschenden Wertesystem alternative Lebensformen auf (Jugendbewegung, Hausbesetzungen, Verteidigung eines lebensnahen Stadtzentrums, autonomes Kulturzentrum in einer ehemaligen Goldverarbeitungsfabrik), die sich einer Urbanisierung ausschliesslich nach Kriterien des Wirtschaftswachstums widersetzten. Die Multikulturalität Genfs festigte sich auch durch Vereinsnetze und Volksfeste. Andererseits behauptete sich die traditionelle Geselligkeit zum Beispiel im Rahmen der Feier im Gedenken an die Escalade.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verfügte Genf über mehrere Meinungsblätter. Die Populärsten waren die La Suisse und die Tribune de Genève. Innerhalb der Linken wurde Le peuple de Genève in den 1920er Jahren durch die Zeitung Le Travail ersetzt, die im Zweiten Weltkrieg verboten wurde. Die Arbeiterpartei gründete zusätzlich die Voix ouvrière, musste sich aber 1980 dazu entschliessen, sie in eine Wochenzeitung umzuwandeln (VO Réalités, später Gauchebdo). Zwei Tageszeitungen verschwanden: 1994 die La Suisse und 1998 das Journal de Genève. Letzteres hatte schon früher mit der Gazette de Lausanne fusioniert und war dann zusammen mit Le Nouveau Quotidien von Le Temps, der neuen, vom Unternehmen Edipresse in Genf herausgegebenen Tageszeitung, geschluckt worden.

Die Abschaffung der staatlichen Unterstützung für die Kirchen und die Laizisierung der Genfer Gesellschaft provozierten keinen Widerspruch. Weiterhin charakterisiert die religiöse Vielfalt der Bevölkerung das Leben in Genf, das den Sitz des Ökumenischen Rats der Kirchen beherbergt. Die Katholiken, die sich 1860-1910 in der Mehrheit, in der Zwischenkriegszeit und bis in die 1950er Jahre aber in der Minderheit befanden, sind von neuem zahlreicher als die Reformierten. 2000 erklärten sich 22,6% der Genfer als konfessionslos.

In der Genfer Gesellschaft geht die vorherrschende bürgerliche Kultur mit einem bunten Geflecht an Vereinen sowie einer lebendigen Alternativszene einher. Ihre multikulturelle Realität lässt das Schwanken zwischen der Öffnung zur Welt und dem Rückzug auf den nationalen Raum wieder aufleben.

Quellen und Literatur

  • Archives d'Etat de Genève, Genf.
  • Bibliothèque de Genève, Genf.
  • Bibliothèque britannique, 1796-1815.
  • Rivoire, Emile; Berchem, Victor van (Hg.): Les sources du droit du canton de Genève, 4 Bde., 1927-1935 (Sammlung Schweizerischer Rechtsquellen, GE).
  • Sismondi, Jean-Charles-Léonard Simonde de: Statistique du Département du Léman, hg. von Hellmuth Otto Pappe, 1971.
  • Coons, James S.; Hochuli Dubuis, Paule et al.: Registres du Consistoire de Genève au temps de Calvin, 1996-.
  • Coram-Mekkey, Sandra; Hochuli Dubuis, Paule et al.: Registres du Conseil de Genève à l'époque de Calvin, 2003-.
Historiografie
  • Abgesehen vom Fasciculus temporis, einer schmalen, wohl im 14. Jahrhundert im Priorat Saint-Victor verfassten Chronik, tendierte die Genfer Historiografie mit Jean Bagnyon (Traité des pouvoirs des seigneurs et des libertés de leurs sujets, 1487) vom späten 15. Jahrhundert an dazu, die Freiheiten der Stadt gegen die Ansprüche der Herzöge von Savoyen zu verteidigen. Dieser Konflikt, der sich in Polemik und Rechtsansprüchen ausdrückte, lässt sich bis zum Vertrag von Turin von 1754 in den Arbeiten der offiziellen Chronisten oder Historiker verfolgen, so etwa bei François Bonivard, dem ehemaligen Prior von Saint-Victor, der mit zögerlicher Zustimmung des Rats die Chroniques de Genève (ab 1542, zwei Versionen) verfasste, aber auch bei Michel Roset, einem der tonangebenden Männer der Genfer Politik im 16. Jahrhundert, der in seinem 1562 dem Rat vorgelegten Werk Chroniques de Genève Calvins Reformation beweihräucherte. Die Polemik wurde nach der Escalade von 1602 fortgesetzt, als Claude-Louis de Buttet im Pamphlet Le Cavalier de Savoie Genfs Zugehörigkeit zu Savoyen verfocht. Jacques Lect und Jean Sarasin verfassten darauf die quellengestützte Replik Le Citadin de Genève ou Response au Cavalier de Savoie (1606), de Buttet wiederum entgegnete mit der Schrift Le fléau de l'aristocratie genevoise. Im 17. Jahrhundert schrieb der Lyoner Arzt Jacob Spon eine Histoire de Genève, die 1680 in Lyon erschien. Da er für die Stadt Genf eintrat, irritierte das Werk den Herzog von Savoyen und beunruhigte die Genfer Behörden. Dennoch veröffentlichten diese 1730 eine Neuausgabe mit beigefügten Erklärungen und sogenannten Beweisen; so wollten sie vermeiden, dass andere Autoren unpassende Auffassungen vertraten. 1713 präsentierte Jean-Antoine Gautier dem Rat seine Histoire de Genève in elf Bänden; da dieses Werk nur für die Behörden bestimmt war – Geschichte war damals kein Allgemeingut –, wurde es im Archiv eingeschlossen und erst 1896-1911 veröffentlicht. Die Polemik ging im 18. Jahrhundert weiter, nun aber zwischen Verfechtern gegensätzlicher Regierungsformen: Der Natif Jean-Pierre Bérenger veröffentlichte 1772-1773 eine Histoire de Genève depuis son origine jusqu'à nos jours, welche die Demokratie in hohen Tönen lobte. Das Werk wurde vom Scharfrichter zerrissen und verbrannt. Als Antwort darauf veröffentlichte Jean Picot 1811 seine Histoire de Genève depuis les temps anciens jusqu'à nos jours. Die von Gautier begonnene wissenschaftliche Auswertung archivierter Dokumente fand im 19. Jahrhundert mit der Öffnung der Archive, den Arbeiten der Galiffe (James, Jean-Barthélemy-Gaïfre und Aymon Galiffe), Edouard Mallets und seiner Freunde, mit der Gründung der damals politisch konservativen Société d'histoire et d'archéologie de Genève 1838 und dem radikaldemokratisch inspirierten Institut national genevois 1853 ihre Fortsetzung. Gleichzeitig interessierten sich Wissenschaftler wie Jean-Daniel Blavignac, Louis Blondel oder Charles Bonnet für die Archäologie und entwickelten neue Forschungsmethoden. Die durch die Schaffung eines Lehrstuhls 1902 und die Eröffnung der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 1914-1915 stimulierte Schule der Wirtschaftsgeschichte glänzt mit Persönlichkeiten wie Frédéric Borel (Les foires de Genève, 1892), Antony Babel und seinen Nachfolgern (Histoire économique de Genève, 1963), insbesondere Anne-Marie Piuz und Jean-François Bergier. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurden fünf Geschichtsdarstellungen von Genf veröffentlicht, darunter die Bände der Encyclopédie de Genève, die in schweizerischen und ausländische Reihen erschienen.
Allgemeines
  • Martin, Paul-Edmond (dir.): Histoire de Genève, 2 Bde., 1951-1956.
  • Guichonnet, Paul (dir.): Histoire de Genève, 1974 (19863).
  • Binz, Louis: Brève histoire de Genève, 1981 (20003).
  • Encyclopédie de Genève, 11 Bde., 1982-1996.
  • Leguay, Jean-Pierre (dir.): Histoire de la Savoie, 4 Bde., 1983-1986.
  • Histoire du Pays de Gex, 2 Bde., 1986-1989.
  • Roth-Lochner, Barbara; Neuenschwander, Marc; Walter, François (Hg.): Des archives à la mémoire. Mélanges d'histoire politique, religieuse et sociale offerts à Louis Binz, 1995.
  • Dufour, Alfred: Histoire de Genève, 1997 (20145).
  • Hartmann, Anja Victorine: Reflexive Politik im sozialen Raum. Politische Eliten in Genf zwischen 1760 und 1841, 2003.
Von der Ur- und Frühgeschichte bis ins Frühmittelalter
  • Paunier, Daniel: La céramique gallo-romaine de Genève. De la Tène finale au Royaume burgonde (Ier siècle avant J.-C.-Ve siècle après J.-C.), 1981.
  • Privati, Béatrice: La nécropole de Sézegnin (Avusy-Genève). IVe-VIIIe siècle, 1983.
  • Drack, Walter; Fellmann, Rudolf: Die Römer in der Schweiz, 1988 (französisch 1992).
  • Gallay, Alain: «Les chasseurs de rennes de Veyrier pouvaient-ils contempler le glacier du Rhône?», in: Charpin, André et al.: Le grand livre du Salève, 1988, S. 24-47.
  • Kaenel, Gilbert: Recherches sur la période de La Tène en Suisse occidentale. Analyse des sépultures, 1990.
  • Bonnet, Charles: «Les églises rurales de la région de Genève. Origines, développement architectural et environnement», in: Fixot, Michel; Zadora-Rio, Elisabeth (dir.): L'environnement des églises et la topographie religieuse des campagnes médiévales. Actes du IIIe congrès international d'archéologie médiévale (Aix-en-Provence, 28-30 septembre 1989), 1994, S. 22-26.
  • Corboud, Pierre: Les sites préhistoriques littoraux du Léman. Contribution à la connaissance du peuplement préhistorique dans le Bassin lémanique, 1996.
  • Favrod, Justin: Histoire politique du royaume burgonde (443-534), 1997.
  • David-Elbiali, Mireille: La Suisse occidentale au IIe millénaire av. J.-C. Chronologie, culture, intégration européenne, 2000.
Mittelalter und frühe Neuzeit: Politik
  • Binz, Louis: Le diocèse de Genève des origines à la Réforme (IVe s.-1536), 1980, S. 19-239 (Helvetia Sacra, I/3).
  • Mottu-Weber, Liliane: «Le statut des étrangers et de leurs descendants à Genève (XVIe-XVIIIe siècles)», in: Menjot, Denis; Pinol, Jean-Luc (Hg.): Les immigrants et la ville. Insertion, intégration, discrimination (XIIe-XXe siècles), 1996.
  • Favet, Grégoire: Les syndics de Genève au XVIIIe siècle. Etude du personnel politique de la République, 1998.
  • Mottu-Weber, Liliane: «Genève et ses réfugiés. Politiques des autorités, réactions de la population (XVIe-XVIIIe siècles)», in: Gilomen, Hans-Jörg; Head-König, Anne-Lise; Radeff, Anne (Hg.): Migrations vers les villes. Exclusion, assimilation, intégration, multiculturalité, 2000, S. 157-170.
  • La Corbière, Matthieu de; Piguet, Martine; Santschi, Catherine: Terres et châteaux des évêques de Genève. Les mandements de Jussy, Peney et Thiez des origines au début du XVIIe siècle, 2001.
Mittelalter und Ancien Régime: Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur
  • Poncet, André-Luc: Châtelains et sujets dans la campagne genevoise: 1536-1792, 1973.
  • Mottu-Weber, Liliane: «Les femmes dans la vie économique de Genève, XVIe-XVIIe siècles», in: Bulletin de la Société d'histoire et d'archéologie de Genève, 16, 1979, S. 381-401.
  • Lescaze, Bernard: Genève, sa vie et ses monnaies aux siècles passés, 1981.
  • Piuz, Anne-Marie: A Genève et autour de Genève aux XVIIe et XVIIIe siècles. Etudes d'histoire économique, 1985.
  • Mottu-Weber, Liliane: Economie et refuge à Genève au siècle de la Réforme. La draperie et la soierie (1540-1630), 1987.
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  • Mottu-Weber, Liliane; Zumkeller, Dominique (Hg.): Mélanges d'histoire économique offerts au professeur Anne-Marie Piuz, 1989.
  • Piuz, Anne-Marie; Mottu-Weber, Liliane: L'économie genevoise, de la Réforme à la fin de l'Ancien Régime: XVIe-XVIIIe siècles, 1990.
  • Roth-Lochner, Barbara: Messieurs de la Justice et leur greffe. Aspects de la législation, de l'administration de la justice civile genevoise et du monde de la pratique sous l'Ancien Régime, 1992.
  • Zumkeller, Dominique: Le paysan et la terre. Agriculture et structure agraire à Genève au XVIIIe siècle, 1992.
  • Wiedmer, Laurence: Pain quotidien et pain de disette. Meuniers, boulangers et Etat nourricier à Genève (XVIIe-XVIIIe siècles), 1993.
  • Porret, Michel: Le crime et ses circonstances. De l'esprit de l'arbitraire au siècle des Lumières selon les réquisitoires des procureurs généraux de Genève, 1995.
  • Roth-Lochner, Barbara: De la banche à l'étude. Une histoire institutionnelle, professionnelle et sociale du notariat genevois sous l'Ancien Régime, 1997.
  • Bonnant, Georges: Le livre genevois sous l'Ancien Régime, 1999.
  • Sigrist, René: L'essor de la science moderne à Genève, 2004.
Revolution und französische Herrschaft
  • Peter, Marc: Genève et la Révolution, 2 Bde., 1921-1950.
  • Peter, Marc: La Société économique et la gestion des biens de l'ancienne République de Genève de 1798 à 1814. Avec une vue du siège de la Société économique, quatre portraits et un fac-similé d'une lettre autographe de Mme de Staël, 1955.
  • Révolutions genevoises: 1782-1798, 1989 (Ausstellungskatalog).
  • Sigrist, René: Les origines de la Société de physique et d'histoire naturelle (1790-1822). La science genevoise face au modèle français, 1990.
  • Guichonnet, Paul; Waeber, Paul: Genève et les Communes réunies. La création du canton de Genève (1814-1816), 1991.
  • Baczko, Bronislaw; Binz, Louis et al. (Hg.): Regards sur la Révolution genevoise, 1792-1798. Actes du Colloque «Genève et le bicentenaire de la Révolution française» organisé par l'Université de Genève les 18 et 19 mai 1989, 1992.
  • Palluel-Guillard, André: L'aigle et la croix. Genève et la Savoie 1798-1815, 1999.
  • Mottu-Weber, Liliane; Droux, Joëlle (Hg.): Genève française 1798-1813. Nouvelles approches. Actes du colloque tenu du 12 au 14 novembre 1998, 2004.
19. und 20. Jahrhundert: Politik
  • Grounauer, Marie-Madeleine: La Genève rouge de Léon Nicole: 1933-1936, 1975.
  • Joseph, Roger: L'Union nationale, 1932-1939. Un fascisme en Suisse romande, 1975.
  • Cassis, Youssef: L'Union de défense économique. La bourgeoisie genevoise face à la crise, 1923-1932, 1976.
  • Torracinta, Claude; Mermod, Bernard: Genève 1930-1939. Le temps des passions, 1978.
  • Spielmann, Alex: L'aventure socialiste genevoise, 1930-1936. De l'opposition à l'émeute, de l'émeute au pouvoir, du pouvoir à l'opposition, 1981.
  • Vuilleumier, Marc: «La naissance du Parti socialiste à Genève», in: Cahiers d'histoire du mouvement ouvrier, 5, 1988, S. 149-170.
  • Hiler, David; Perret Bari, Geneviève: Le Parti démocrate-chrétien à Genève. Un siècle d'histoire (1892-1992), 1992.
  • Studer, Brigitte: «Les communistes genevois, Léon Nicole et le Komintern dans les années trente», in: Bulletin de la Société d'histoire et d'archéologie de Genève, 22, 1992, S. 65-85.
  • Rieder, René: Liberté humaine, justice sociale. Le parti radical genevois, 1993.
  • Necker, Louis: La mosaïque genevoise. Modèle de pluriculturalisme?, 1995.
  • Van Dongen, Luc: «Léon Nicole (1887-1965): histoire et mémoire», in: Cahiers d'histoire du mouvement ouvrier, 11-12, 1995-1996, S. 35-72.
  • Caillat, Michel: René Payot: un regard ambigu sur la guerre (1933-1943), 1998.
  • Senarclens, Jean de (dir.): Un journal témoin de son temps. Histoire illustrée du «Journal de Genève», 1826-1998, 1999.
  • Santschi, Catherine (dir.): Les réfugiés civils et la frontière genevoise durant la Deuxième Guerre mondiale. Fichiers et archives, 2000.
  • Herrmann, Irène: Genève entre République et Canton. Les vicissitudes d'une intégration nationale (1814-1846), 2003.
19. und 20. Jahrhundert: Wirtschaft, Gesellschaft, Kultur
  • Mützenberg, Gabriel: Education et instruction à Genève autour de 1830, 1974.
  • Gilardi, Paolo: De la «Genève rouge» à la paix du travail. Mouvement ouvrier et patronat genevois face à la question de la paix sociale, 1935-1938, 1987.
  • Marcacci, Marco: Histoire de l'Université de Genève (1559-1986), 1987.
  • Heimberg, Charles: L'éducation publique à Genève. Brève histoire politique d'un droit menacé, 1993.
  • Batou, Jean; Morabia, Alfredo (Hg.): Santé, modes de vie et causes de décès à Genève au 20e siècle, 1994.
  • Heimberg, Charles: L'œuvre des travailleurs eux-mêmes? Valeurs et espoirs dans le mouvement ouvrier genevois au tournant du siècle (1885-1914), 1996.
  • Heimberg, Charles: «La garde civique genevoise et la grève générale de 1918, un sursaut disciplinaire et conservateur», in: Revue d'histoire moderne et contemporaine, 44, 1997/3, S. 424-435.
  • Hofstetter, Rita: Les lumières de la démocratie. Histoire de l'école primaire publique à Genève au XIXe siècle, 1998.

Weblinks
Normdateien
GND

Zitiervorschlag

Martine Piguet; Jean Terrier; HLS DHS DSS; Liliane Mottu-Weber; Irène Herrmann; Charles Heimberg: "Genf (Kanton)", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 30.05.2017, übersetzt aus dem Französischen. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007398/2017-05-30/, konsultiert am 04.10.2024.