Lawinen

Ausschnitt aus einem Exvoto von Stephen Simen in der Kirche von Alvaneu (Bibliothèque de Genève, Archives Nicolas Bouvier).
Ausschnitt aus einem Exvoto von Stephen Simen in der Kirche von Alvaneu (Bibliothèque de Genève, Archives Nicolas Bouvier). […]

Das Wort Lawinen, das vom lateinischen Wort labi (= gleiten) stammt, ist ein rätoromanisches Alpenlehnwort, das vermutlich schon vor 1000 ins Deutsche übernommen worden ist. Es bezeichnet eine am Hang rasch abgleitende Schneemasse. Lawinen haben die Bewohner der Alpen seit jeher bedroht (Naturkatastrophen). Ihre erste urkundliche Erwähnung in der Schweiz datiert von 1302, als der Konstanzer Bischof Heinrich von Klingenberg die zur Pfarrei Schwyz gehörende Kapelle in Morschach zur selbstständigen Pfarrkirche erhob, da die Wege nach Schwyz oft durch Lawinen verheert worden seien. Auch spätmittelalterliche Bannbriefe von Wäldern (Bannwald) zeigen die Ernsthaftigkeit des Lawinenproblems auf und beweisen, dass die Schutzwirkung des Waldes bekannt war. Bilderchroniken, Ratsprotokolle und Landbücher übermitteln dann vom Spätmittelalter an Lawinenereignisse direkt. So beschrieb Florian Sprecher von Bernegg als Landschreiber von Davos einen Lawinenniedergang in Davos-Dorf, der 1440 zwei Häuser zerstörte und elf Personen tötete, wobei der spätere Landammann Niggo Schlegel nach 24 Stunden lebend geborgen werden konnte. Solche Ereignisse fanden offensichtlich Erwähnung, wenn sie aussergewöhnliche Personen, Lawinen oder Umstände betrafen. So zeigt die erste bildliche Darstellung von Lawinen, wie sich Kaiser Maximilian I. 1517 auf einer Reise vor drei kugelförmigen Lawinen rettete. Die Vorstellung von Lawinen als grossen Schneekugeln behauptete sich bis ins 19. Jahrhundert. Sie rührt wohl daher, dass die aus kugeligen Ablagerungsformen bestehenden, nassen Frühjahrslawinen eine einfachere Erklärung des Lawinen-Phänomens bieten als die trockenen hochwinterlichen Staublawinen, deren Ablagerung im Gelände oft nicht mehr auszumachen ist.

1716-1718 veröffentlichte Johann Jakob Scheuchzer eine Naturgeschichte der Schweiz. Darin sind erstmals sinnvolle Erklärungen über die Entstehung und den Abgang von Lawinen sowie Schutzmassnahmen enthalten. Scheuchzer erwähnt den Lawinenspaltkeil der Kirche Frauenkirch-Davos, der noch immer besteht. Er berichtet auch von Lawinenverschüttungen aus dem Zeitraum 1478-1699, bei denen neben Dorfbewohnern vor allem Söldner und Bauern auf dem Weg zu abgelegenen Ställen ums Leben gekommen waren.

Auswahl historischer Lawinenabgänge in den Schweizer Alpen

WinterOrtTodesopfer
1440Davos11
1459Disentis16
1519Leukerbad61
1609Davos16/26
1636Randa36
1667Anzonico33
1687Meiental (Wassen), Gurtnellen23
1689Saas im Prättigau, St. Antönien, Davos80
1695Bosco/Gurin34
1719Leukerbad55
1720Ftan, Obergesteln, Randa131/132
1749Bosco/Gurin, Rueras (Tujetsch), Ossasco (Bedretto)118
1808Gersau, Selva (Tujetsch), Obermad (Gadmen)55/56
1827Biel, Selkingen52
1851Ghirone23
1863Villa (Bedretto)32
1950/51Vals, Andermatt, Airolo, etc.98
1970Reckingen30
1999Evolène12
Auswahl historischer Lawinenabgänge in den Schweizer Alpen -  Autor

Ende des 19. Jahrhunderts begann die Erforschung der Lawinen. Der damalige eidgenössische Oberforstinspektor Johann Wilhelm Fortunat Coaz lieferte 1881 in seinem Werk Die Lauinen der Schweizeralpen bahnbrechende Erkenntnisse über die Entstehung, Verbreitung und Schäden (Lawinenstatistik) wie auch über Lawinenschutzmassnahmen. Mit der Gründung der Eidgenössischen Kommission für Schnee- und Lawinenforschung wurde 1931 der Grundstein zur wissenschaftlich begründeten Analyse und Konzeption von neuen Schutzmassnahmen gegen Lawinen gelegt: 1936 entstand das Eidgenössische Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos. Dieses weltweit erste Lawinenforschungsinstitut trug wesentlich dazu bei, dass die Lawinen langsam an Unberechenbarkeit verloren, da durch intensive Forschung, Praxisberatung und die 1945 begonnene nationale Lawinenwarnung wirksame bauliche und operationelle Schutzmassnahmen an die Hand genommen werden konnten.

Berichte der Schweizer Filmwochenschau zum Lawinenwinter 1951, Ausgaben Nr. 463 vom 27. Januar 1951 und Nr. 466 vom 16. Februar 1951 (Schweizerisches Bundesarchiv, J2.143#1996/386#463-1#1*; …-#463-1#2*; …-#466-1#2*; Zusammenschnitt HLS) © Cinémathèque suisse, Lausanne und Schweizerisches Bundesarchiv, Bern.
Berichte der Schweizer Filmwochenschau zum Lawinenwinter 1951, Ausgaben Nr. 463 vom 27. Januar 1951 und Nr. 466 vom 16. Februar 1951 (Schweizerisches Bundesarchiv, J2.143#1996/386#463-1#1*; …-#463-1#2*; …-#466-1#2*; Zusammenschnitt HLS) © Cinémathèque suisse, Lausanne und Schweizerisches Bundesarchiv, Bern. […]

Der Katastrophenwinter 1950-1951 (98 Todesopfer, 1300 Schadenlawinen) bestätigte die Dringlichkeit dieses Vorgehens. Durch Lawinenverbauungen (am Hang 1951 20 km, 1999 400 km und 2010 mehr als 500 km Gesamtlänge), künstliche Lawinenauslösung, Sperrung von Verkehrswegen und Gefahrenzonenplanung wurde die Bedrohung durch Lawinen seither stark vermindert, obwohl sich durch die intensivierte Überbauung der Alpentäler und durch den wachsenden Wintertourismus neue Problemfelder eröffnet haben. Dies zeigte sich eindrücklich im Katastrophenwinter 1998-1999 (17 Todesopfer, rund 700 Schadenlawinen), wobei durch die Sperrung von Strassen und Blockierung von Touristen in Urlaubsorten und im Alpenvorland indirekte Schadenssummen entstanden, die den direkten Schäden durch die Lawinen gleichgestellt werden müssen.

Quellen und Literatur

  • Eidgenössisches Institut für Schnee- und Lawinenforschung (Hg.): Schnee und Lawinen in den Schweizer Alpen. Winterbericht des Eidgenössischen Institutes für Schnee- und Lawinenforschung Weissfluhjoch-Davos, 1-, 1949-.
  • Laternser, Martin; Pfister, Christian: «Avalanches in Switzerland 1500-1990», in: Matthews, John A.; Brunsden, Denys et al. (Hg.): Rapid Mass Movement as a Source of Climatic Evidence for the Holocene, 1997, S. 241-266.
  • Schneebeli, Martin et al.: Wechselwirkungen zwischen Klima, Lawinen und technischen Massnahmen, 1998.
  • Rabusseau, Raphaël: Les neiges labiles. Une histoire culturelle de l'avalanche au XVIIIe siècle, 2007.
Weblinks
Kurzinformationen
Kontext Eidgenössisches Institut für Schnee- und Lawinenforschung

Zitiervorschlag

Paul Föhn: "Lawinen", in: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 12.01.2021. Online: https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/007781/2021-01-12/, konsultiert am 19.03.2024.